Leitartikel (Bericht, Dokumentation und Einschätzung)
Das GANZE Werk, 8. Februar 2008
Abschlussbericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“
Ein Meilenstein zu mehr Qualität im Rundfunk
Eine Empfehlung lautet:
Mehr zusammenhängende musikalische Werke in der Hauptsendezeit
Von Theodor Clostermann
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Mitte Dezember 2007 gab es ein großes kulturpolitisches Ereignis, das in der Presse jedoch nur wenig Beachtung fand: die 2003 vom Bundestag eingesetzte und 2005 bestätigte Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ legte ihren Abschlussbericht der Öffentlichkeit vor (hier: vollständige Pdf-Datei/6,44 MB).
Auf 509 Seiten enthält er die „umfassendste Untersuchung der Kulturlandschaft Deutschlands seit mehr als 30 Jahren“ (dpa, laut Frankfurter Rundschau, 13. Dezember 2007). Die Ausschuss-Vorsitzende Gitta Connemann (CDU, Leer in Ostfriesland) sprach von „Grundzügen einer nationalen Kulturpolitik“ und von einem „Kulturkompass“, der die Situation, die Probleme, aber auch die Chancen von Kultur und Kulturpolitik in Deutschland beschreibe.
Die wichtigste Empfehlung lautet, Kultur zum Staatsziel zu erklären: „Der Staat schützt und fördert die Kultur“ (Einführung eines Grundgesetz-Artikels 20 b).
Parteiübergreifender kulturpolitischer Leitfaden
Über die Kapitel verstreut enthält der Bericht 465 „Handlungsempfehlungen“, die an den Bund, an die Länder und Kommunen und an andere öffentliche Kulturträger wie die öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunkanstalten gerichtet sind.
Auch wenn die Kultur nach dem Grundgesetz überwiegend Angelegenheit der Bundesländer und nicht des Deutschen Bundestags ist, wird damit ein Meilenstein für die Kulturpolitik in Deutschland gesetzt. So bezieht sich Prof. Ernst Elitz, Deutschlandradio-Intendant, in seinem jüngsten Interview ausdrücklich auf diesen Bericht (Rheinischer Merkur Nr. 5 / 2008, 31. Januar 2008).
Der Ausschuss bestand aus elf Abgeordneten aller fünf Fraktionen des Deutschen Bundestages und elf von den Fraktionen benannten Sachverständigen (u.a. Prof. Dr. Wolfgang Schneider/Direktor des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim, Dr. Nike Wagner/Intendantin des Weimarer Kunstfestes, Dr. h.c. mult. Johann B. Zehetmair/Staatsminister a.D., Olaf Zimmermann/Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates e.V., Heinz Rudolf Kunze/Rockmusiker).
Das Besondere: die 22 Mitglieder einigten sich auf einen parteiübergreifenden kulturpolitischen Leitfaden. „Es ist beruhigend zu hören, dass innerhalb der Kommission über 99 Prozent aller Formulierungen Konsens herrschte.“ (Stefan Kirschner in der WELT, 13. Dezember 2007). Insgesamt gibt es nur neun Sondervoten, die auf den Seiten 437 - 449 dokumentiert sind.
Ein Kapitel: Kulturauftrag und kulturelle Tätigkeit des Rundfunks
Zum Themenbereich Kultur im Fernsehen und im Hörfunk war die Anhörung „Rolle der öffentlich-rechtlichen Medien für die Kultur“ am 18. April 2005 mit geladenen Experten richtungsweisend, wir berichteten damals ausführlich (hier: Einstiegsseite) und dokumentierten die eingereichten Stellungnahmen.
Während offizielle Vertreter der ARD, nach der Erfüllung des Kulturauftrags befragt, mehr allgemeine Formulierungen bevorzugten, gab es von den beiden Experten Thomas Frickel und Wolfgang Knauer fundierte Einwände zur Praxis im Fernsehen und speziell im Hörfunkprogramm von NDR Kultur.
Thomas Frickel, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm:
„Man könnte durchaus ein bisschen genauer beschreiben, was denn zu diesem Kulturauftrag gehört. Dass das bis jetzt noch nicht geschehen ist, hat auch dazu geführt, dass die ARD und das ZDF das bisher immer selbst definieren mussten.“ (Wortprotokoll)
„Auf die Idee, Gelder aus dem völlig überproportionierten Sport-Etat zur Kultur umzuschichten, ist bis jetzt noch niemand gekommen. (...) Es kommt nicht darauf an, Kultur durch zunehmende Popularisierung auf Null-Niveau herunterzuziehen, Zielvorgabe muß vielmehr sein, möglichst viele Menschen zur Kultur hinaufzuführen.“ (Schriftliche Stellungnahme, Passagen leicht gekürzt)
Wolfgang Knauer, bis Ende 2004 Wellenchef von Radio 3 und NDR Kultur, in seiner Funktion als unabhängiger Experte:
„Ich finde es auch zweckmäßig, dass man Musikangebote nach bestimmten Tageszeiten und den vermuteten Verhaltensweisen des Publikums differenziert. Aber ich finde es eben falsch, wenn man es übertreibt und zu sehr auf einen Ansatz der totalen Popularität verfällt, jeden Anreiz nimmt und jede Erwartung von vorneherein abtötet, man könnte in diesem Programm noch irgendetwas Neues erfahren oder sich auch irgendwann nur einmal überraschen lassen. Was Sie feststellen, dass solche Sendungen entweder ganz verschwinden oder an den Rand gedrängt werden, ist sicher eine in Teilen richtige Beobachtung.“ (Wortprotokoll)
„Reaktionen aus der Hörerschaft zeigen, dass zumindest die ‚klassisch Kulturorientierten' großen Wert auf die kompetente Vermittlung und ausreichende Wiedergabe von Musik auch im Tagesangebot der öffentlich-rechtlichen Kulturprogramme legen und eine Beschränkung auf selektive ‚Hit-Paraden' nicht akzeptieren.(...) Ob sich die strenge Formatierung auf die Dauer für Kulturprogramme eignet, muss bezweifelt werden, da sie musikalisch allzu stark einengt, tiefer gehende Darstellungen verhindert. Die Übernahme eines für Popwellen entwickelten dramaturgischen Prinzips fördert den Hang zur Trivialisierung.“ (Schriftliche Stellungnahme, Passagen leicht gekürzt)
Die Ausschuss-Sachverständige Dr. Nike Wagner fasste die Kritik folgendermaßen zusammen:
„Grundsätzlich ist die Beschränkung auf die Rolle als Begleitmedium sehr schade. Da wird ein Kulturauftrag wirklich verraten. Damit im Zusammenhang stehen die so genannten Formatradios. Warum dienen sich denn Kultursendungen dem Prinzip von Popwellen, wie Herr Knauer das ausgedrückt hat, an? Sie müssten doch opponieren! Kunstsendungen, Kultursendungen können nicht nach vorgeschriebenen, standardisierten Programmen ablaufen. Dazu sind sie viel zu wichtig. Also ich glaube, dass das Radio da eigentlich eine Mission verrät und da einen ganz wunderbaren Kulturauftrag einfach nicht wahrnimmt.“
Der Ausschuss: deutliche Worte für die Erfüllung des Kulturauftrags
Schon damals, am 7. Oktober 2005, titelten wir unseren Bericht, mit Blick auf die Kernforderung der Initiative Das GANZE Werk: „Die Anhörung bestätigt unsere Forderung: Tagsüber mindestens 4 Stunden lang Musiksendungen mit ganzen Werken!“
Es dauerte aber noch - auch wegen der nicht eingeplanten Bundestags-Neuwahl 2005 - zweieinhalb Jahre, bis das Ergebnis der Beratungen vorlag. Daraus haben wir von dem Kapitel „Kulturauftrag und kulturelle Tätigkeit des Rundfunks“ (Kap. 3.2.2, Seite 149 - 157, hier: Original-Kapitel als Pdf-Datei) die wichtigsten Ausschnitte zu einer Textsammlung zusammengestellt, die wir hiermit der interessierten Öffentlichkeit aufbereitet vorlegen:
- Liste der Anhörungen und Expertengespräche
- Bestandsaufnahme zu den rechtlichen Grundlagen (Bundesverfassungsgericht, Staatsverträge, Selbstverpflichtungen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und Verpflichtung durch Gebührenfinanzierung)
- die Aufgaben-Zusammenstellung zur Erfüllung des Kulturauftrags
- Leitlinien zum Problem der Popularisierung des Kulturangebotes und
- neun Handlungsempfehlungen.
Einige Beispiele des lesenswerten Dokuments
Wegen der Fülle an nützlichen Formulierungen zur Verwirklichung des Kulturauftrages seien hier nur wenige genannt (weitere entnehmen Sie bitte der von uns angefertigten „Zitatensammlung“, hier: Pdf-Datei).
Kernpunkte der rechtlichen Bestandsaufnahme lauten:
„Es fehlt an einer präziseren gesetzgeberischen Definition als Grundlage für eine inhaltliche Konkretisierung des Kulturbegriffs in den Selbstverpflichtungen und Leitlinien der Rundfunkanstalten. (...) Im Übrigen bleibt der Kulturbegriff auch in den Selbstverpflichtungen der Sender unscharf. (...) Gerade vor dem Hintergrund des jüngsten Urteils des Bundesverfassungsgerichtes (...) ist es geboten, Auftrag und Grenzen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gesetzlich zu präzisieren.“
„(Es gehört zu den Aufgaben des öffentlich-rechtlichen Rundfunks,...) kulturelle Sendungen für unterschiedliche Zielgruppen auszustrahlen“.
Die Enquete-Kommission übernahm direkt - mit abgewandelten Formulierungen - die Kritikpunkte der angehörten Experten:
„Die Enquete-Kommission (...) nimmt (...) kritische Stimmen ernst, die vor der Gefahr einer zu starken Popularisierung im Sinne einer Verflachung und Trivialisierung warnen.“
„Reaktionen aus der Hörerschaft (belegen), dass das Interesse an der Kultur auch bei der jüngeren Generation weit über das ausschließlich Populäre hinausgeht. Die sich ausbreitende ‚Formatierung' von Sendungen, das heißt das Setzen strengerer Zeitlimits und Vorgaben für die Kombination von Wort- und Musikbeiträgen, ist tendenziell eine Gefahr für Themen und Kulturtraditionen, die in erheblichem Maße auf Geist, Komplexität und Substanz setzen und daher medial nicht so leicht zugänglich gemacht werden können.“
Damit werden von kompetenten Politikern und Sachverständigen des Deutschen Bundestages eindeutig folgende Behauptungen zurückgewiesen:
- Die Kritik an dem formatierten und popularisierten Programm sei weitgehend verstummt und mithin bedeutungslos (vgl. Plog-Interview, 9. Januar 2008),
- Sendungen mit kultureller Qualität gebe es am Abend, dann werde ja auch bewusst zugehört (bisheriges Antwortmuster des NDR, oft ungefragt, auf Kritik von Hörern).
Eine Empfehlung lautet: Mehr zusammenhängende musikalische Werke in der Hauptsendezeit
Die Enquete-Kommission bestätigt, dass Musik- und Kulturliebhaber auch tagsüber berechtigten Anspruch auf qualitativ hochwertige, auf nicht formatierte und nicht popularisierte Sendungen haben. Dazu heißt es konsequenterweise in den neun Handlungsempfehlungen (hier: Pdf-Datei):
„1. Die Enquete-Kommission empfiehlt den Ländern, den Kulturauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in den Rundfunkstaatsverträgen zu präzisieren.
3. Die Enquete-Kommission empfiehlt den Ländern, mit der Evaluierung der Erfüllung des Kulturauftrags durch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten eine unabhängige externe Institution zu beauftragen.
5. Die Enquete-Kommission empfiehlt den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, Beiträgen zur Kultur in den Hauptprogrammen breiteren Raum einzuräumen, sie stärker in die Hauptsendezeit zu rücken und mehr Möglichkeiten bereitzuhalten, musikalische Werke zusammenhängend darzubieten.“
abgeschlossen am 6. Februar 2008
Lesen Sie zum Schlussbericht der Enquete-Kommission auch:
• Leitartikel (Bericht, Dokumentation und Einschätzung)
Ein Meilenstein zu mehr Qualität im Rundfunk
Eine Empfehlung lautet: Mehr zusammenhängende musikalische Werke in der Hauptsendezeit
Von Theodor Clostermann
• Neun Handlungsempfehlungen zum Kulturauftrag des Rundfunks
Zusammengestellt von der Enquete-Kommission
• Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ - Schlussbericht - Zitate
Gehen Sie zur Übersichtsseite:
• Schlussbericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“
Lesen Sie außerdem aus der Materialsammlung „Der Kulturauftrag im Hörfunk“,
herausgegeben von der Initiative Das GANZE Werk (Nord), 15. Februar 2008:
„Der Kulturauftrag im Hörfunk“ (die ganze Broschüre, 16 Seiten)
Titelseite (mit Kulturniveau-Grafik)
Detailliertes Inhaltsverzeichnis, Hinweis und Herausgeber
A. Das Zuhören fördern
B. Staatliche Festlegungen zum Kulturauftrag: Staatsverträge, Bundesverfassungsgericht
C. Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ - Schlussbericht - Zitate
D. Kultursender und -sendungen für „Einschalthörer“
E. Neue Erkenntnisse der ARD-Medienforschung zu Kulturinteressierten
F. Die bisherige Programmstrategie für NDR Kultur