NDR Kultur - Korrespondenz
zu:
Ein Radioprogramm ist kein Konzertsaal
Generelle Trendwende in der Hörfunknutzung
Von Gernot Romann, NDR Programmdirektor Hörfunk
Brief des Hörers Schrader aus Burgdorf an Herrn Romann
Gibt es pünktlich um 19 Uhr einen wundersamen Geschmackswandel?
Bei den Kritikern handelt es sich um
eine große Zahl leidenschaftlicher Musikliebhaber,
die für einen besseren Sender kämpfen
NDR Programmdirektor
Herrn Gernot Romann
Rothenbaumchaussee 132 - 134
20149 Hamburg
Sehr geehrter Herr Romann,
ich bekenne mich dazu, der Gruppe ehemals treuer NDR-Hörer anzugehören, die Sie als selbsternannte Kultur-Ajatollahs, Geschmackspolizei, sich als Elite verstehende Minderheit, sowie als traditionelle Hörer im Gegensatz zu den aufgeschlossenen Hörern charakterisiert haben. Die Debatte über die Angemessenheit dieser Begriffe hat bereits stattgefunden und ich möchte sie hier nicht wieder aufnehmen.
Wenn ich dennoch - mit einer gewissen Verzögerung - den vielen treffenden Antworten auf Ihren viel zitierten Brief an das Klassikmagazin noch eine weitere hinzuzufügen möchte, so geschieht es, weil Sie sich bisher gegenüber allen Appellen, Ihre viel gerühmte Programmreform zu überdenken, als resistent erwiesen haben, aber auch weil mir daran liegt, zwei Aspekte etwas näher zu beleuchten, die meines Erachtens bisher zu wenig beachtet worden sind.
Der eine betrifft die Behauptung, wissenschaftliche Untersuchungen hätten zweifelsfrei ergeben, daß die Hörgewohnheiten und -bedürfnisse (vermutlich der aufgeschlossenen Hörer) sich abends signifikant unterscheiden von denen der gleichen Hörer am Tage. Wissenschaftliche Ergebnisse - zumal wenn die Quelle nicht benannt wird - können nur dann Glaubwürdigkeit beanspruchen, wenn sie nicht jeder Alltagserfahrung krass widersprechen. Es ist wenig plausibel, daß der gleiche Hörer, der vor 19 Uhr mit Freude und Genuß ein eintöniges Menü aus immer wiederkehrenden kurzen Musikhäppchen konsumiert hat, pünktlich um 19 Uhr einen wundersamen Geschmackswandel vollzieht, der ihn befähigt und motiviert, mit dem gleichen Genuß ganze Werke zu rezipieren, z.B. auch Streichquartette, die er am Tage "dröge" findet, und sogar ganze Wagneropern an schönen Sommerabenden zur Festspielzeit. Ist ein solcher Dualismus überhaupt denkbar, oder wenden Sie sich je nach Tageszeit an ganz verschiedene Zielgruppen? Schon diese einfache Überlegung muß Zweifel wecken an der Schlüssigkeit Ihres angeblich an veränderten Hörgewohnheiten orientierten Programmkonzeptes.
Die zweite Anmerkung, die zu machen ich mir erlauben möchte, betrifft Ihre selbstbewußte Behauptung, die Programmreform bedeute eine "Entscheidung für eine Öffnung des Klassik- und Kulturprogramms des Nordeutschen Rundfunks". Die Frage, ob sich das Wortprogramm geöffnet hat und wofür, möchte ich hier nicht näher erörtern, nur so viel: es hat sich meines Erachtens eher "breit gemacht" als geöffnet, und zwar auf Kosten des Musikprogramms. Dieses - und darum geht es mir hier vornehmlich - hat sich nicht geöffnet, sondern entscheidend verengt, durch die schon oft beschriebene Beschränkung auf einen begrenzten Kanon von immer den gleichen Zugstücken, durch die Zerstückelung mehrsätziger Werke, die Bevorzugung bestimmter Instrumente (Trompete!) und Stimmungslagen (schnell, munter, fröhlich, schmetternd), den fast völligen Ausschluß wichtigster Gattungen der Musikgeschichte wie des Streichquartetts, auch durch den Verzicht auf eine stimmungsmäßig schlüssige Abfolge zugunsten einer oft geradezu brutalen Abwechslung, bei der auf Mozart nicht Mozart oder auch Beethoven folgen darf, sondern eher Ella Fitzgerald oder George Gershwin; und nicht zuletzt durch die völlige Ausblendung der Musik des 20. Jahrhunderts!
Als so anspruchslos hat noch kein Programmchef des NDR seit dem zweiten Weltkrieg die Klassikhörer eingeschätzt! Man muß nicht elitär sein, um sich durch eine solche "wissenschaftlich erwiesene" Herabstufung beleidigt zu fühlen. Anscheinend hat die Wissenschaft auch ergeben, daß der Tageshörer (s.o.) beim zweiten Satz Mozart einschläft und daher durch ein (den Klassikbegriff sprengendes) krass gegensätzliches Stück wieder munter gemacht werden muß. Diese Programmgestaltung verstößt nicht nur gegen den Geist der Musik, sondern vermittelt auch der nachwachsenden Generation potentieller Musikliebhaber einen verzerrten und verengten Begriff von dem, was klassische Musik eigentlich ist. Jungen Musikern, die sich der Kammermusik zuwenden wollen, kann man nur abraten: Wer wird in zehn oder zwanzig Jahren noch einen Streichquartettabend besuchen?
Ein Nachgedanke noch zum Elitevorwurf: Haben Sie einmal darüber nachgedacht, ob dieser Begriff nach dem Pisaschock und dem Beschluß der Bundesregierung, Eliteuniversitäten zu gründen, noch als Totschlagargument taugt? Hier finde ich Sie, mit Verlaub, rückwärtsgewandt.
Sehr geehrter Herr Romann, Sie und die anderen "Programmmacher" haben bisher der massiven Kritik der gebührenzahlenden Hörer nur ein "weiter so!" entgegengesetzt mit Ihrer apodiktischen Erklärung: "Die Programmreform ist richtig!" und mit der Schlußfolgerung "Sie wird nicht verändert!" Sie haben damit die volkstümliche Weisheit "Wer bezahlt, bestimmt die Musik" auf den Kopf gestellt. Ich muß es auch als besondere Herausforderung empfinden, daß Sie neuerdings zur Stärkung Ihrer Position und Abwehr der Kritik eine aufwendige Werbekampagne unter Einschaltung von Prominenten gestartet haben. Sie haben dadurch eine weitere Verlagerung von Mitteln zugunsten der ohnehin schon exzessiven Eigenwerbung und auf Kosten der Qualität des Musikprogramms vorgenommen. Dies verstößt gegen Ihren Auftrag und gegen die Interessen der Hörer.
Übrigens: Hat die wissenschaftliche Analyse der Hörerwünsche auch ergeben, daß die aufgeschlossenen Hörer genußvoll immer den gleichen Achttöner-Jingle und die gleichen arrogant-dümmlichen Sprüche hören möchten?
Ich gebe trotz der wenig ermutigenden Erfahrungen die Hoffnung nicht auf, daß ich mit meinem Brief ein wenig zu der späten Einsicht beitragen könnte, daß es sich bei den Kritikern nicht um eine von Herrn Clostermann organisierte kleine Gruppe von ewig Gestrigen handelt, die man nicht ernst zu nehmen braucht, sondern um eine große Zahl leidenschaftlicher Musikliebhaber, die für einen besseren Sender kämpfen, auch weil sie überzeugt sind, daß sie ihn als alte treue Hörer verdient haben.
Mit freundlichen Grüßen
gez. Schrader
P.S.: Ich sende eine Kopie an die Initiative "Das ganze Werk"
Lesen Sie die kritische Auseinandersetzung mit Romanns Antwort:
Romanns Kurzsichtigkeit: Autofahrer soll Maßstab des Kulturradios sein?
Ein Streifzug durch die ARD-Studien zur Radionutzung widerlegt den Direktor
Von Theodor Clostermann
Lesen Sie die Antwort von Herrn Romann auf den Brief des Hörers Schrader:
Längere mehrsätzige klassische Werke schließen Hörer, die nur kurz, zum Beispiel während einer kurzen Autofahrt einschalten, aus
Lesen Sie den Brief des Hörers Schrader aus Burgdorf vom 7. April 2005:
Gibt es pünktlich um 19 Uhr einen wundersamen Geschmackswandel?
Lesen Sie den von Herrn Schrader kritisierten Artikel von Herrn Romann:
Ein Radioprogramm ist kein Konzertsaal
Generelle Trendwende in der Hörfunknutzung
Lesen Sie außerdem von Herrn Schrader aus Burgdorf:
Die Hörer bezahlen für die NDR-Eigenwerbung doppelt
NDR Kultur verspricht sich wahrscheinlich eine enorme Gegenwirkung zu den Angriffen der "Reform"-Kritiker
E-Mail, 1. April 2005
Weitere Leserbriefe und Kommentare zu dem Romann-Artikel:
Beschwerde eines Hörers an den Intendanten des NDR, von P. Schwiesow
Nun entdecken alle Ihre Hörer wieder, was Lessing vom ‚denkenden Zuschauer/Zuhörer' schreibt Kommentar von G. Ossenbrunner, Bremen
Es wäre fair, wenn NDR Kultur mit seinen Clubmitgliedern im Magazin in einen Dialog träte, statt es als Propagandablatt zu mißbrauchen., Leserbrief von C. Meffert
Die Aufgeschlossenen, Leserbrief von M. Siebert
Zurückweisung einer Beleidigung, Leserbrief von I. Kossebau
Nicht empfehlenswert: Medienpartnerschaft mit NDR Kultur in Niedersachsen
Leserbrief von L. Baucke
Ein dankbarer Hörer..., Leserbrief von H. Jühlke
Artikel im KlassikClub Magazin 09/2004:
Ein Radioprogramm ist kein Konzertsaal, September 2004
Vorläufer-Artikel im Feuilleton Hamburg der WELT:
Ein Radioprogramm ist kein Konzertsaal, 27. Juli 2004
Hauptartikel vorher im Feuilleton Hamburg der WELT:
Ein Hörfunkprogramm kann Gegensätze gut nutzen
Leserbriefartikel von Theodor Clostermann zum Romann-Interview, 21. Juli 2004
Nicht warten, bis der Mond aufgeht
Interview von Lutz Lesle mit Programmdirektor Romann, 25. Juni 2004
NDR-Kultur: Ein Radioprogramm zum gepflegten Weghören
Bericht von Lutz Lesle über die Gründungsveranstaltung des Initiativkreises Das GANZE Werk, 17. Juni 2004