NDR Kultur - Korrespondenz

Eine kritische Auseinandersetzung
mit der Antwort von NDR-Hörfunkdirektor Romann:
"Längere mehrsätzige klassische Werke schließen Hörer, die nur kurz, zum Beispiel während einer kurzen Autofahrt einschalten, aus"
auf den Brief des Hörers Schrader aus Burgdorf:
Gibt es pünktlich um 19 Uhr einen wundersamen Geschmackswandel?

Von Theodor Clostermann

Romanns Kurzsichtigkeit:
Autofahrer soll Maßstab des Kulturradios sein?

Ein Streifzug durch die ARD-Studien zur Radionutzung widerlegt den Direktor

In seinem Brief hat Herr Romann nur zwei Situationen angeführt: den Kulturradiohörer, der kurz Auto fährt und den Wagner-Fan am Abend. Sie sollen für das Ganze sprechen.

In der folgenden Übersicht sehen Sie, dass die beiden Beispiele noch nicht einmal typisch sind.

Lesehilfe
in Romanns Brief behandelt 
in Romanns Brief nicht behandelt   

Alltagssituation
 
 
 
Sehr starke
Aufmerksamkeit        
für das Radio

8 Prozent + ?
Starke
Aufmerksamkeit        
für das Radio

34 Prozent + ?
Zu Hause
Körperpflege/Anziehen
Essen/Mahlzeiten
Hausarbeit
Berufsarbeit im Haus
Andere Tätigkeiten/Freizeit     
und zwar:
nur Radio hören,
Beispiel: Wagner-Fan
Romann!, aber:
nur am Abend
 
----
 
 
 
Außer Haus
Auto fahren
 
----
 
Romann!, aber:
nur Häppchen
mit Bus/Bahn unterwegs
Einkaufen/Besorgungen----
Berufsarbeit
Schule/Studium--------
Besuch bei Freunden etc.
Besuch von Kneipen etc.----
Andere Tätigkeiten/Freizeit


Zu meiner Schulzeit in Kassel stand in unserem Geschichtsbuch des 20. Jahrhunderts über die neuen Lebensgewohnheiten der Nachkriegszeit: Es werde auch während des familiären Mittagessens klassische Musik gehört. Das gehöre sich nicht - wegen des Musikgenusses. Wir fanden den erhobenen Zeigefinger komisch. Für uns als Schüler eines musischen Gymnasiums war die Situation doch selbstverständlich.

Das war Mitte der 60-er Jahre.

"Diese Erkenntnis war neu"?
Nein, das Wissen reifte in Jahrzehnten heran!

Hörfunkdirektor Romann sorgt immer wieder für Überraschungen gegenüber seinen Kritikern. Seine neueste Geschichte: Dass "jahrelang" eine "Mehrzahl" am Tage "Kulturprogramme gezielt zum konzentrierten Zuhören eingeschaltet" hätte, ohne "sonstige Tätigkeiten"? Oder dass er es selbst wenigstens bis 2002/03 glaubte?

Jeder Kulturinteressierte weiß doch, dass die Zahl derer, die gezielt nur Radio hören und die sonst nichts anderes tun, sehr gering ist, dass aber jahrelang schon die Nutzung des Radios
• nach der Tagessituation
• nach dem Grad der Aufmerksamkeit und
• nach dem thematischen Interesse
sehr variiert. Das habe ich Herrn Romann schon in dem Artikel "Ein Hörfunkprogramm kann Gegensätze gut nutzen" in der WELT vom 21. Juli 2004 geschrieben. Auf diese differenzierte Betrachtungsweise ist der Direktor nie eingegangen (vgl. die Einleitung seines Antwortartikels in der WELT vom 27. Juli 2004).

In seinem Antwortbrief an Herrn Schrader behandelt er wenigstens zwei Randsituationen der Radionutzung: den Autofahrer und den Wagner-Fan. Romanns Trick: Der Autofahrer stellt den Kulturradiohörer am Tage, der Wagner-Fan den Kulturradiohörer am Abend dar. Nebenbei bemerkt: in seinem Interview vom 25. Juni 2004 in der WELT sprach er stattdessen von den "Menschen tagsüber im Büro". Wegen des Autofahrers (oder des Büroangestellten) - "aus diesem Grunde" - hören wir tagsüber nur Kultur-Häppchen und wegen des abendlichen Kulturfans tagsüber reichlich NDR-Eigenwerbung.

Die ARD untersucht die Radionutzung seit Jahrzehnten. Einen langfristigen Überblick gibt die Studie "Trends in der Nutzung und Bewertung der Medien 1970 bis 2000" von Birgit van Eimeren und Christa-Maria Ridder in der ARD-Fachzeitschrift "Media Perspektiven" von November 2001 an. Auf Seite 12 heißt es zum Beispiel:

Tagessituationen

In der zweimal jährlich erhobenen Media-Analyse (MA) sollen die Befragten auch angeben, was sie während des Radiohörens machen. In der Reihe "Media Perspektiven" wird dieses am anschaulichsten in dem Artikel "MA 2002 Radio: Radionutzung auf hohem Niveau stabil" von Walter Klingler und Dieter K. Müller in der Ausgabe vom September 2002 dokumentiert:

Dort werden als Situationen angegeben, in denen Radio gehört und dieses für die MA erfragt wird:

• Körperpflege/Anziehen
• Essen/Mahlzeiten
• Hausarbeit
• Berufsarbeit im Haus und
• Andere Tätigkeiten/Freizeit (wie zum Beispiel konzentriertes Radiohören...)
als Tätigkeiten "Zu Hause"

• Auto fahren
• mit Bus/Bahn unterwegs
• Einkaufen/Besorgungen
• Berufsarbeit
• Schule/Studium
• Besuch bei Freunden etc.
• Besuch von Kneipen etc. und
• Andere Tätigkeiten/Freizeit
als Tätigkeiten "Außer Haus" (vgl. Smiley-Tabelle oben)

Im Vergleichsjahr 2000 werden für "Zu Hause" als höchste Minutenzahl angegeben, dass
• 92,5 Prozent bei einer durchschnittlichen Verweildauer von 338 Minuten für "Andere Tätigkeiten/Freizeit" während 313 Minuten Radio hörten
• "Essen/Mahlzeiten": 92,0 Prozent, 88 und 81 Minuten
• "Hausarbeit": 51,0 Prozent, 185 und 94 Minuten.

Für "Außer Haus" wird zum Beispiel angegeben, dass
• 52,0 Prozent der Befragten bei einer durchschnittlichen Verweildauer von 88 Minuten "Auto fahren" während 46 Minuten Radio hörten
• "Berufsarbeit": 33,5 Prozent, 481 und 161 Minuten
• "Andere Tätigkeiten/Freizeit": 44,6 Prozent, 186 und 83 Minuten.

Eine dazu passende Grafik aus einem anderen Artikel der "Media Perspektiven", "Zeitbudgets und Tagesablaufverhalten in Deutschland: Die Position der Massenmedien" von Irina Fritz und Walter Klingler (in: Nr. 01/2003; hier: Abb. 10 auf S. 9) macht klar, dass der größte Anteil der Radionutzung "im Haus" zwischen 5 und 20 Uhr , vor allem zwischen 7 und 12 Uhr - stattfindet (maximal 19 %), während der Anteil der Radionutzung "unterwegs im PKW" ziemlich gering ist (maximal 5 %).

Der Hörer, der zu Hause gezielt nur Radio hört und sonst nichts anderes tut, ist in der MA-Befragung überhaupt nicht vorgesehen. Woher soll man dann über ihn etwas Statistisches wissen? Nein, dieser Hörer war nicht Romanns Maßstab. Und die Studien der ARD zur Rundfunknutzung waren "jahrelang" schon sehr differenziert und haben auch ergeben, dass der Autofahrer weder damals noch heute der Maßstab ist. Pusteblume.

Der Grad der Aufmerksamkeit

Zur Beschreibung der Radionutzung gehört auch die Intensität des Hörens. Darauf geht gezielt Ekkehardt Oehmichen, einer der führenden Köpfe bei der Entwicklung der MedienNutzerTypen der ARD, in dem Artikel der "Media Perspektiven", "Aufmerksamkeit und Zuwendung beim Radio hören" (in: Nr. 03/2001) ein. Im Jahr 2000 wurden in Hessen repräsentativ Radiohörer befragt, ob sie sich in der jeweiligen Radionutzungssituation "sehr stark", "stark", "weniger stark" oder "gar nicht" dem Radio zuwenden. Die Auswertung ergab folgende Durchschnittswerte:

Im "Fazit" schreibt er zusätzlich:

Die "Klassisch Kulturorientierten" und die anderen Hörergruppen des Kulturradios

Während die durchschnittliche Hörintensität einen statistischen Wert von 42,5 hat, liegt er bei den "Klassisch Kulturorientierten" deutlich höher: 50,7. Die anderen für das Kulturradio interessanten Hörergruppen (MediaNutzerTypen) kommen auf folgende Durchschnittswerte: "Aufgeschlossene" 50,1, "Leistungsorientierte" 42,9 und "Neue Kulturorientierte" 38,5 (siehe Tabelle 8 auf Seite 6). - Die situationsbezogenen Ergebnisse von E. Oehmichen sollen hier nicht weiter behandelt werden, da er nur "ausgewählte Alltagssituationen" vorweist, die sich nicht mit den Situationen der MA-Befragung decken, und da er die wichtige Situation "Zu Hause"/Andere Tätigkeiten/Freizeit (ohne die Hausarbeit) am Vormittag nicht behandelt.

Die Werte der durchschnittlichen Hörintensität entsprechen den allgemeinen Beschreibungen der Hörergruppen (MediaNutzerTypen), vgl. Seite 3:

Zur Lieblingsgruppe von Herrn Romann heißt es:

Ein Hörfunkprogramm kann Gegensätze gut nutzen

Im ZEIT-Dossier "Rettet das Radio!" vom 24. Februar 2005 hat Ulrich Stock geschrieben:

Wir verstehen nicht, warum gemäß Romanns "Reform" das Radioprogramm von 6 bis 19 Uhr Stunde für Stunde nach einem einheitlichen Schema durchformatiert ist (Ausnahmen: "Am Morgen vorgelesen" und ein bisschen "À la carte" und "Concerto"):

Wolfgang Knauer, ehemaliger Wellenchef von NDR Kultur, der erst noch von Hörfunkdirektor Romann zur "Reform" angetrieben wurde, bis er "selbst NDR Kultur nicht tiefer legen" wollte, schrieb dazu in einer Stellungnahme für die Enquete-Kommission Kultur in Deutschland:

Romanns Maßstab mögen die "Aufgeschlossenen", Büroangestellte oder Autofahrer sein - und selbst unter diesen gibt es selbstverständlich viele, die den Romann-Mischmasch nicht hören wollen. Er hat aber kein Recht, alle anderen, die in den vielen übrigen Situationen mit sehr starker oder starker Aufmerksamkeit Kulturradio hören wollen, auf das gleiche Niveau herabzudrücken, unter dieses Joch zu zwingen. Die Übersicht am Anfang macht deutlich, wer alles zu berücksichtigen ist. Zur Erfüllung des Kulturauftrages gehört auch das Senden von klassischer und anspruchsvoller Musik tagsüber mit ganzen Werken und nicht nur die unterhaltsame Kultur des Mainstreams. Die vielen Musikliebhaber, die Herr Romann übergeht, zahlen schließlich auch Gebühren. NDR-Homepage: "Sie beträgt zurzeit 5,52 Euro für ein Radiogerät."

Die Initiative Das GANZE Werk, die am 15. Juni 2004 gegründet wurde und die von über 4.000 Hörern im NDR-Sendegebiet durch ihre Mitgliedschaft oder durch ihre Unterschrift unterstützt wird, hält die kompromisslose Uneinsichtigkeit des Hörfunkdirektors für nicht haltbar. Wir fordern für die Musikliebhaber, die "Klassisch Kulturorientierten", das Bildungsbürgertum bzw. die sehr stark und stark aufmerksamen Kulturradiohörer Musiksendungen, die zwischen 6 und 19 Uhr mit einer täglichen Dauer von 4 Stunden ganze Werke bringen, die in keinen formatierten Rahmen gepresst werden. Das ist ein Vorschlag zu einem vernünftigen und bescheidenen Kompromiss. Dem NDR blieben danach 9 Stunden für sein formatiertes Programm im Zeichen des Claims "Kultur hat ein Programm: NDR Kultur, der Klassiker" und seine Experimente.

Der jetzige Zustand darf nicht bleiben!

Wir wissen, dass inzwischen viele Hörer entweder nur noch kurzzeitig NDR Kultur hören, bis sie wegen einer flapsigen Moderatoren-Bemerkung oder eines Format-Knüllers genervt ausschalten (spätestens nach 60 Minuten), oder NDR Kultur gar nicht mehr hören, sondern zum Deutschlandfunk, zum DeutschlandsenderKultur oder zur eigenen CD-Sammlung wechseln.

NDR Kultur hat bei klassischen Musiksendungen (Klassik Radio als nicht ernstzunehmende Alternative nicht mitgerechnet) in einem großen Gebiet Norddeutschlands eine Monopolstellung. Die wird rücksichtslos für ein schematisches Programm missbraucht und mit allen Mitteln der Informationsunterdrückung verteidigt. Eine unglaubliche Situation. Wir sind damit nicht einverstanden, wir wollen den Sender nicht preisgeben. Sie auch nicht? Werden Sie Mitglied und unterstützen Sie unsere Aktionen.

Lesen Sie:

Die Resolution der Initiative Das GANZE Werk.

Die Presseerklärung vom 26. Juli 2004
Gibt es eine „Geschmackspolizei“ im Norden Deutschlands?
NDR Kultur von 6 bis 19 Uhr: Beliebiger Dauermix statt freier Auswahl

Lesen Sie die kritische Auseinandersetzung mit Romanns Antwort:
Romanns Kurzsichtigkeit: Autofahrer soll Maßstab des Kulturradios sein?
Ein Streifzug durch die ARD-Studien zur Radionutzung widerlegt den Direktor
Von Theodor Clostermann

Lesen Sie die Antwort von Herrn Romann auf den Brief des Hörers Schrader:
Längere mehrsätzige klassische Werke schließen Hörer, die nur kurz, zum Beispiel während einer kurzen Autofahrt einschalten, aus

Lesen Sie den Brief des Hörers Schrader aus Burgdorf vom 7. April 2005:
Gibt es pünktlich um 19 Uhr einen wundersamen Geschmackswandel?

Lesen Sie den von Herrn Schrader kritisierten Artikel von Herrn Romann:
Ein Radioprogramm ist kein Konzertsaal
Generelle Trendwende in der Hörfunknutzung

Lesen Sie Grundlagentexte, auf die in diesem Artikel verwiesen wird

Ehemaliger Wellenchef Knauer meldet sich zum Kulturradio wieder zu Wort:
Stellungnahme für die Enquete-Kommission Kultur in Deutschland
Stundenprotokolle von NDR Kultur:
Vom 11. Februar, vom 5. April und vom 17. April 2005
ZEIT-Dossier am 24. Februar 2005 (Nr. 9/2005):
"Rettet das Radio!" von Ulrich Stock
Romann und die Kultur-Ajatollahs, Artikel im KlassikClub Magazin 09/2004:
Ein Radioprogramm ist kein Konzertsaal, September 2004
Vorläufer-Artikel im Feuilleton Hamburg der WELT:
Ein Radioprogramm ist kein Konzertsaal, 27. Juli 2004
Hauptartikel vorher im Feuilleton Hamburg der WELT:
Ein Hörfunkprogramm kann Gegensätze gut nutzen
Leserbriefartikel von Theodor Clostermann zum Romann-Interview, 21. Juli 2004
Nicht warten, bis der Mond aufgeht
Interview von Lutz Lesle mit Programmdirektor Romann, 25. Juni 2004
NDR-Kultur: Ein Radioprogramm zum gepflegten Weghören
Bericht von Lutz Lesle über die Gründungsveranstaltung des Initiativkreises Das GANZE Werk, 17. Juni 2004
Die Resolution der Initiative Das GANZE Werk
Wir erwarten von NDR Kultur..., beschlossen am 15. Juni 2004
Wolfgang Knauer verlässt NDR Kultur:
Satirischer Rückblick ersetzt „Reißwolf“
Hamburger Abendblatt, 22. November 2003

Lesen Sie die benutzten Artikel aus der Reihe "Media Perspektiven"
Herausgegeben von ARD-Werbung - Sales & Service, Baden-Baden

Irina Fritz und Walter Klingler, Januar 2003:
Zeitbudgets und Tagesablaufverhalten in Deutschland: Die Position der Massenmedien
Walter Klingler und Dieter K. Müller, September 2002:
MA 2002 Radio: Radionutzung auf hohem Niveau stabil
Birgit van Eimeren und Christa-Maria Ridder, November 2001:
Trends in der Nutzung und Bewertung der Medien 1970 bis 2000
Ekkehardt Oehmichen, März 2001:
"Aufmerksamkeit und Zuwendung beim Radio hören"