Das GANZE Werk - Leitartikel
Das GANZE Werk, 14. April 2006
Kulturfunk im Norden und anderswo
Längst hat die Jagd nach der Quote die Qualität gefressen
Leitartikel zur Podiumsdiskussion am 8. Juni 2006 in Hamburg
Von Ludolf Baucke
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Die Hörfunkverantwortlichen des NDR hatten sich gewaltig viel vorgenommen, als sie
zum 1. Januar 2004 ihre nach eigenem Bekunden „ambitionierteste Reform aller ARD Kulturprogramme“ starteten. Sie wollten sich „auch jenen Menschen öffnen, die ein Kulturprogramm zur Entspannung und Tagesbegleitung suchen“. Vor allem aber sollte - koste es, was es wolle - die Quote der Akzeptanz gesteigert werden, und dabei wurde viel Qualität preisgegeben. Nebenbei- und Gelegenheitshörer sollten eingefangen werden, und deshalb wird seither nicht nur der Programmname NDR Kultur gebetsmühlenartig wiederholt, sondern auch eine umfangreiche Maschinerie der selbstgefälligen Eigenwerbung angeworfen.
Ernüchternde Ergebnisse
Die Resultate der wortreich angekündigten und mit massivem Werbeaufwand propagierten Reform indes sind mehr als ernüchternd. Laut Medienanalyse 2006 I hat NDR Kultur 2006 in einem Jahr nicht nur 13,2 Prozent - in absoluten Zahlen 30.000 - seiner Hörer verloren.
Es äußern sich inzwischen auch Künstler skeptisch, die noch Anfang 2005 als Werbeträger für das Programm in kostspieligen Zeitungsannoncen vorgestellt wurden. Fatal ist vor allem der Schwund gebildeter Hörer, die sich einfach nicht mit dem Nebenbei-, Geradesoeben- oder gar Weghören zufrieden geben. Werden Vertreter dieser Schicht, zum Beispiel Hochschullehrer, führende Kulturrepräsentanten, Chordirigenten, Rechtsanwälte und Richter auf „Das Beste am Norden“ - speziell NDR Kultur - angesprochen, versichern sie ihrem Gesprächspartner immer häufiger: „Ich höre das Programm nicht mehr.“
Mag ja sein, dass NDR Kultur als öffentlich-rechtliches Hörfunkprogramm auf Sympathie und Zuspruch sogenannter Multiplikatoren überhaupt nicht angewiesen ist. Andere Kultursender legen gerade darauf besonderen Wert, was in Zeiten der aus Brüssel signalisierten Einwendungen gegen die Gebührenfinanzierung der ARD-Sender dringend geboten ist.
Alternativen in anderen Kulturprogrammen
Hörer und Programmgestalter aus west- und süddeutschen Bundesländern reiben sich verdutzt Augen und Ohren, wenn sie zufällig, etwa beim Urlaub auf einer nordfriesischen Insel die „tagsüber kompetenzfrei durchpürierte Klassiksoße“ (Volker Hagedorn in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung/HAZ vom 22. März 2006) erleben. Sie wünschen sich dann sehnlichst das Qualitätsbewußtsein ihres Haussenders. Von NDR Kultur vernachlässigte Multiplikatoren und kulturell aufgeschlossene Hörer aber haben längst die Segnungen der Satellitenübertragung aller in der Bundesrepublik und auch aus den europäischen Nachbarländern gesendeten Kulturprogramme kennengelernt. Sie haben entdeckt, dass es sich lohnt, Zeit zu reservieren für Programme außerhalb des NDR-Sendegebiets, die den Bildungs- und Kulturauftrag des öffentlich-rechtlichen Hörfunks ernst nehmen und nicht fahrlässig auf Bildung ihrer Hörer verzichten.
Ausgewählte Beispiele aus dem Westen und Süden der Republik
Der Deutschlandfunk lud am 9. April zwischen 13.30 und 15 Uhr in der sonntäglichen Sendereihe „Zwischentöne“ den zeitgenössischen Komponisten Mauricio Kagel zu „Musik und Fragen zur Person“ ein. Der Hessische Rundfunk stellte am gleichen Tag um 17.05 Uhr den Sendeplatz „Mobile / Musik grenzenlos“ unter das Thema „David und Goliath“. Unter anderm wurde darin Musik der Pygmäen, von John Coltrane („Giant Steps“) und von Beethoven (Bearbeitung eines irischen Elfenliedes) amüsant kommentiert und gelegentlich gekonnt aneinander geschnitten. SWR 2 hat 2006 jeweils um 16 Uhr den knapp einstündigen Sendeplatz „Musik kommentiert - 50 Meisterwerke“ eingerichtet. Der Redakteur Hans-Peter Jahn spricht mit einem Gast über so verschiedene Kompositionen wie eine Klaviersonate von Carl Philipp Emanuel Bach, Mozarts Klarinettenkonzert, Luigi Nonos „Il canto sospeso“ oder Wagners „Parsifal“. Besondere Pointe dabei - fast immer wird das am Donnerstagnachmittag erörterte Werk am folgenden Freitagvormittag komplett im „Treffpunkt Klassik“ gesendet. Thematisch vielfältig und wohlüberlegt seien schließlich die nachmittäglichen „MusikPassagen“ im Programm WDR 3 genannt.
Verantwortlicher qualitativer Mix dort - fader und inkompetent moderierter Mix hier
Diese Musterbeispiele für Qualität animieren zum Zuhören, gar zum Verweilen und bestechen durch ihren ebenso klug wie verantwortlich gestalteten Mix von kultureller Bildung und unterhaltsamer Aufgeschlossenheit. Zu fragen bleibt, ob sich Hörer im Westen und Süden der Republik so grundsätzlich von norddeutschen Hörern unterscheiden, dass letzteren tagtäglich nur ein fader und inkompetent moderierter Mix von immer wieder abgespulten Einzelsätzen aus „greatest hits“ zugemutet werden kann.
Dabei werden Vater und Sohn Alessandro und Domenico Scarlatti flugs in Brüder verwandelt. Das passt bestens zur NDR-spezifischen Verbildung. Längst hat die Jagd nach der Quote die Qualität gefressen. Eine Programmzeitschrift wurde einst zielgerichtet „Hörzu“ tituliert. NDR Kultur setzt in seinem Tagesprogramm auf das „Begleitradio“ und hat folgerichtig sein sendereigenes Hörfunkmagazin eingestellt.
abgeschlossen am 14. April 2006 (mit einer Korrektur am 20. Mai 2006)
Lesen Sie:
• NDR Kultur - Wird der Kulturauftrag noch erfüllt? - Ein Streitgespräch
Eine Veranstaltung der Initiative das GANZE Werk, 8. Juni 2006, 19.30 Uhr
• Programmvorschläge - Sendeplan von 9 bis 18 Uhr
Ein abwechslungsreiches Programm, das zum Zuhören einlädt - wir erwarten dies für mindestens 4 Stunden, es kann auch länger sein...
Der Sprecherrat des GANZEN Werks, 9. April 2006
• Ideensammlung für ein öffentlich-rechtliches NDR-Kulturprogramm
Erläuterungen zum vorgeschlagenen Sendeplan von 9 bis 18 Uhr
Der Sprecherrat des GANZEN Werks, 9. April 2006
Lesen Sie zur Podiumsdiskussion in Hamburg auch:
• Peinlicher Rückzug
Wird der Kulturauftrag des NDR damit erfüllt, dass er uns unterfordert?
Leserbrief zu dem Beitrag „Diskutiert wird nicht“ (NDR Kultur) vom 10. Juni 2006
Hannoversche Allgemeine Zeitung (HAZ), 27. Juni 2006
• Erweiterte Pressemitteilung: Absage des NDR zur Podiumsdiskussion in Hamburg/
• Dokumentation der Korrespondenz Das GANZE Werk - NDR
2. Mai 2006: Eindeutige NDR-Zusage
30. Mai 2006, Programmausschuss des NDR: „Diskussion über die Reform von NDR Kultur endgültig abgeschlossen.“
31. Mai 2006, Michael Plöger: „Für eine Diskussion Ihrer ‚Programmvorschläge' stehen weder Frau Mirow noch ich zur Verfügung.“
Nachdem der NDR einen juristischen Einspruch erhoben hatte, stellt der Text in seinem zweiten Teil konkret dar, wie nach unseren Erfahrungen und nach unserem Verständnis der Rückzug des NDR von der Podiumsdiskussion verlaufen ist.
Das GANZE Werk, 11. Juni 2006 (Ersatz der Erkärung vom 8. Juni 2006)
• Was bei NDR Kultur geschieht und nicht geschieht, interessiert mittlerweile republikweit
Diskutiert wird nicht
Wie die Chefs von NDR Kultur einen anregenden Abend verpassten
Der Programmausschuss des Senders betrachtet die Diskussion über die Reform als „endgültig abgeschlossen“, doch eine Überprüfung der Programme ist im Rundfunkstaatsvertrag festgelegt - für den NDR ist es Anfang Juli in Hannover so weit.
Hannoversche Allgemeine Zeitung (HAZ), 10. Juni 2006
• NDR Kultur: Quote mit „Häppchen ohne Niveau“?
Die Diskutanten waren sich einig: „Der NDR ist dabei, das Kulturradio kulturlos zu machen“ (Geißler)
Hamburger Abendblatt, 10. Juni 2006
Mit einem anschließenden Kommentar:
• Mit dem Hinweis auf das „Hamburger Radio 3-Loch“ entstellt der NDR die tatsächliche Entwicklung
Die Hörerzahlen von NDR Kultur in Hamburg und im ganzen NDR-Sendegebiet zwischen 2002 und 2006 und im letzten Jahr
• Der NDR kneift feige - das GANZE WERK wächst weiter
Kompetente Veranstaltung zu den Kernaufgaben des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
KIZ - Das KulturinformationsZentrum, 9. Juni 2006
• NDR verprellt Das GANZE Werk
Über Gründe und Kommunikation des Rückzugs herrschen Uneinigkeit
NDR: Wenn man über die Alternativ-Programmvorschläge des Ganzen Werks diskutiere, sei keine offene Diskussion über die Erfüllung des Kulturauftrags geplant
Das GANZE Werk: Die Alternativ-Programmvorschläge lagen dem NDR schon lange vor. Das Diktum des Programmausschusses ist nicht hinzunehmen, dass die Diskussion über die Reform von NDR Kultur „abgeschlossen“ sei.
die tageszeitung (taz), 9. Juni 2006
• Mehr Hochkultur, bitte!
„Das Ganze Werk“ reitet gegen die Windmühlen öffentlich-rechtlicher Programmgestaltung an
Podiumsdiskussion um 19.30 Uhr in der Freien Akademie der Künste Hamburg
die tageszeitung (taz), 8. Juni 2006