Das GANZE Werk - Presseschau
Der Tagesspiegel, 14. März 2005
Deutschlandradio Kultur sendet seit einer Woche
Berauschend bunt
Das Prinzip Wundertüte: „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen.“
Von Tom Peuckert
Der Mensch wird älter, und eines Tages stirbt er. Das ist ein Naturgesetz, kein Weg führt daran vorbei. Aber die Institution träumt von ewiger Jugend. Sie muss sich bloß oft genug reformieren. Im richtigen Augenblick Ballast abwerfen, eine neue glänzende Haut überstreifen, dem Zeitgeist mit frischem Schwung in die Arme sinken. Deutschlandradio Berlin hat sich reformiert. Der Sender heißt jetzt Deutschlandradio Kultur, die neue Logofarbe ist Rot-Orange, alle Jingles klingen irgendwie bombastischer. Im Programm haben sie Termine hin und her geschoben: Der Krimi kommt jetzt am Sonntagnachmittag, das große Hörspiel am Mittwoch um halb zehn, die Themennächte beginnen eine Stunde später. Vieles ist beim Alten geblieben: lange Konzerte am Abend, Features zur Mitternacht, das Programm am Wochenende.
Wirklich neu ist ein so genanntes Radiofeuilleton. Es läuft werktags von 9 bis 12 und von 14 bis 17 Uhr. In der klassischen Kernzeit. Kernarbeitszeit, Kernzeit zum Wachsein, Kernzeit für die Vita activa. Man kann bei allen deutschen Kulturwellen den Trend beobachten, diesen Tagesabschnitt mit kleinteiligen Magazinen zu füllen. Mit einem straff durchrhythmisierten Wechsel zwischen den Kulturgenres, Informationsebenen, Anspruchsniveaus. Aber Deutschlandradio Kultur praktiziert diesen Trend mit neuer Radikalität. Nennen wir ihn: das Prinzip Wundertüte.
Es gibt einen Spruch, den altgediente Entertainer mögen: „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen.“ Klingt verstaubt, dürfte trotzdem nicht ganz falsch sein. Beim Deutschlandradio glauben sie daran. Das „Radiofeuilleton“ überrascht mit einem berauschend bunten Mix der kulturellen Botschaften. Das Sendeschema erinnert an scharf kalkulierte Flugpläne auf einem internationalen Airport: Alle drei Minuten hebt ein glänzender Jet in eine neue Himmelsrichtung ab. Eben noch philosophierte ein Buchkritiker über den Schicksalsbegriff der Naturwissenschaften, schon dröhnt ein alter Maffay-Song, garniert mit sachkundigen Anmerkungen zum deutschsprachigen Pop. Ein Glossist glossiert eine Filmpremiere nebst dazugehöriger Pressekonferenz, die besten Reporterfragen werden im O-Ton vorgespielt: „Frau Potente, wie machen Sie das, dass Sie so schön aussehen?“
Ein Kurzfeature stellt weibliche DJs vor, wenig später referiert ein Historiker seine Forschungen zum Nationalsozialismus. Grell angejingelte Kulturtipps empfehlen Jazz in der Provinz. Auch die halbstündigen Kulturnachrichten versuchen, ganz locker zu bleiben. Urplötzlich zischt eine „Wurfsendung“ durch den Äther. Mehrmals pro Stunde taucht so ein sekundenkurzes Minihörspiel überraschend im Programm auf. Ein hübsch geschauspielertes süßes Nichts, ein intelligenter Jokus. Manchmal versteht man gar nicht, worüber eigentlich gescherzt wird. Wunderbarerweise ist genau das sehr reizvoll. Lauwarm informieren und allzu Bekanntes noch einmal breittreten, das kann jeder. Diese gewisse geistreiche Anarchie hört man im Moment wohl nur beim neuen Deutschlandradio.
Im Internet gibt es ein Radioforum, da wurde schon vor Monaten die geplante Reform des Senders kritisch diskutiert. Noch war gar nichts Konkretes oder Endgültiges bekannt, aber im Forum glühten schon die Meckerköpfe. Geschimpft wurde auf alles, was sich zu bewegen drohte: veränderter Umgang mit der Musik, zu kurze Nachrichten oder zu lange Nachrichten, Annäherung an den Dudelfunk oder zu abgehobene Sendestrategien. Zur Abwechslung wollen wir das neue Deutschlandradio und sein turbulentes Radiofeuilleton an dieser Stelle einmal herzhaft loben.
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