Das GANZE Werk: Hörergruppen "angleichen"? Nein!
Ein Streizug durch die Hörerforschung der ARD
Seit 2002 will Herr Romann zwei Hörergruppen "angleichen"
Das soll ihm nicht gelingen!
Über Versuche, die sogenannten "Klassisch Kulturorientieren" in der Theorie loszuwerden,
und über reale Interessen
Von Theodor Clostermann
Im Laufe der Monate haben wir reichlich Erfahrungen mit dem NDR gesammelt. Sie waren, was die Verantwortlichen betrifft, sehr einseitig. Wir haben sie systematisch auf der Seite NDR: Umgang mit Kritik aufgelistet, von der viele Links zu den Artikeln oder Briefen führen, in denen der jeweilige Vorgang genauer beschrieben wird. Eine Kostprobe:
"Und wenn Herr Clostermann drei Millionen Unterschriften sammelt, werden wir auf unsere Programmautonomie nicht verzichten", sagt Hörfunkdirektor Romann (Frankfurter Rundschau, 10. Dezember 2004).
4 Da helfen nur noch der Rundfunkrat und sein Programmausschuss...
Für den Rundfunkrat sagt Herr Dr. Kutz, turnusgemäß bis Oktober Vorsitzender, folgendes zum Thema NDR Kultur:
"Wir wollen und müssen ein Programm machen, das den Bürgern gefällt, niemanden ausgrenzt und attraktiv ist. Kultur ist ein Begriff, den man sehr eng und sehr weit fassen kann. Kultur ist mehr als Musik. Aber ich schätze es sehr, wenn Hörer sich mit Herzblut am Programm des NDR beteiligen." Daher werde sich der Programmausschuß auf seiner nächsten Sitzung im kommenden Januar auch "mit der Entwicklung bei 'NDR Kultur' erneut beschäftigen. Wir sind bedacht, auf Qualität zu kucken." ( "M" MENSCHEN - MACHEN - MEDIEN 11/2004).
Aufschlussreich ist, was wir bisher schon zu der Frage zusammentragen konnten: Was geschah 2002 mit Radio3? Auf der Seite "Ein bisschen Historie und ein wichtiges NDR-Dokument" haben wir die Hörerzahlen für Hamburg von 2000 bis heute zusammengestellt. Der rasante geradlinige Absturz vom Sommer 2001 zum Sommer 2002 von 2,9 % über 1,8 % auf 0,7 % ist beeindruckend, ebenso beeindruckend ist, dass schon zwei Wochen später das Konzept für das neue Radioprogramm steht und Herr Romann es dann gleich in einem Interview mit dem NDR präsentiert:
Fest steht inzwischen auch der Name des neuen 3. Programms: "NDR Kultur". Das passt zu unserem Corporate Design (= Logo + Konzept). Das ist ein Signal für die Hörer. Besser, finde ich, kann man das zweite Premiumprodukt neben NDR Info nicht beschreiben. (Wir im NDR, September 2002)
allerdings auch mit einer fatalen Fehleinschätzung, was die Stammhörer betrifft:
Erkenntnissen der Hörerforschung zufolge bilden - neben den "klassisch Kulturorientierten" (Durchschnittsalter: Anfang 60) - die "neuen Kulturorientierten" (Durchschnittsalter: Anfang 40) ein beachtliches Potenzial. Da selbst die "klassisch Kulturorientierten" nicht mehr nur auf Hochkultur fixiert sind und sich in ihrem Medienverhalten dem der "neuen Kulturorientierten" angleichen, bilden beide Gruppen die Zielgruppe, die wir mit unserem neuen Angebot ansprechen wollen.
Diese Fehleinschätzung, nach der sich die bisherigen Stammhörer und die Musikliebhaber einem neuen Geschmack unterordnen sollen, vertritt der NDR noch heute. Von ihnen sprechen und schreiben Hörfunkdirektor Romann und Wellenchefin Mirow aber nur in vagen Worten. "Beide Hörergruppen (bewerten) das aktuelle Programm von NDR Kultur überwiegend positiv." (Romann im KlassikClub Magazin 09/2004) Konkrete Zahlen oder Nachweise für die Repräsentativität der Befragten werden als "Geschäftsgeheimnis des NDR" gehütet (Frau Mirow in einem Telefonat). Wie wir wissen, steht der NDR damit nicht allein.
In seinem ausführlichen Vortrag vom 18. Juni 2004 in Berlin "Auf der Suche nach dem verlorenen und dem neuen KulturRadioHörer" schlägt Wolfgang Hagen - hier: vier Hörergruppen mit der "Präferenz dafür, im Radio gesprochenes Wort zu hören" - vor, trotz eines widersprüchlichen "Interessenspektrums (...) von traditionell bis hochmodern" (siehe Grafik) die Gruppen dadurch zu einer "Hörerschaft zusammenzuführen" (siehe roter Kreis), dass das Kulturprogramm selbst "ein Kulturfaktor wird". Am Ende seines Planspiels fasst er zusammen:
Nur wenn ein Kultur-Radioprogramm nicht distanziert "über" Kultur berichtet, sondern selbst Teil der Kultur wird, über die es berichtet, kann es neue Hörer gewinnen. Das Potenzial ist gegeben.
Das Wort "nur" ist verräterisch: Es offenbart die gewollte Manipulation solcher Sandkastenspiele mit einem Hörer-Mix. Was Wolfgang Hagen in Berlin will, das praktiziert NDR Kultur hier tagtäglich.
Man versteht also, warum NDR Kultur sich immer wieder selbst anpreist. Man weiß gleichzeitig, warum das alles so künstlich, unecht, aufgesetzt, oberflächlich ist. Ein Irrweg. Viele Hörer finden das sogar abstoßend.
Wir sind gegen die Romannsche Formel des Angleichens. Eine oberflächliche Fassade soll davon ablenken, dass der Hörer den Geschmack des "Häppchen"-Mixes annehmen soll.
Die soliden Untersuchungen der ARD zeigen Veränderungen im Hörverhalten auf, weisen aber ausdrücklich darauf hin, dass die sogenannten "Klassisch Kulturorientierten" mit ihrem kulturellen Interesse geachtet und respektiert werden müssen:
Klassisch Kulturorientierte: Kennzeichnend ist die eher selektive und gezielte Nutzung des Radios. Alltagsbegleitung im Sinn musikalischer Unterhaltung, Kurzinformationen und vordergründige Stimmungsmache wird eher abgelehnt. Die traditionellen ARD-Kulturprogramme und Informationswellen finden hier ihr Kernpublikum." (J. Eckardt, Klassische Musik und das Kulturradio Stand der Forschung, Köln 2003, S. 5. Siehe auch: W. Klingler, Kultur in Fernsehen und Hörfunk und E. Oehmichen, Aufmerksamkeit und Zuwendung beim Radio hören, Ergebnisse einer Repräsentativbefragung in Hessen)
Auch die Praxis mit NDR Kultur beweist dieses. Wie ist sonst der so massive Protest gegen das gegenwärtige Konzept von NDR Kultur und die große Unterstützung für die Initiative Das GANZE Werk zu erklären?
Wir haben augenblicklich eine Situation, die in der heutigen Medienlandschaft des Kampfes um Zuschauer, Zuhörer und Quoten einmalig ist: Da gibt es eine große Hörergruppe von Musikliebhabern, die NDR Kultur nicht bedienen will und die auch sonst kein regionaler Sender bedient. Wo gibt es so etwas?
Es ist hoffentlich nur von kurzer Dauer! Es soll ja ein Programm geben, das "niemanden ausgrenzt".
31. Dezember 2004, Zweiter Teil des Briefes an Mitglieder der Landesmusikräte