Das GANZE Werk - Korrespondenz
Brief an Mitglieder von
Landesmusikräten in Norddeutschland
Theodor Clostermann
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An Mitglieder der Landesmusikräte
im Sendegebiet von NDR Kultur
(Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern,
Niedersachsen und Schleswig-Holstein)
Entscheidung des Programmausschuss
zu NDR Kultur am 21. Januar 2005
Reinbek, 31. Dezember 2004
Sehr geehrte Damen und Herren,
zunächst wünsche ich Ihnen als Musikliebhaber in Norddeutschland ein gutes Neues Jahr. Als Vorsitzender der Hamburger Telemann-Gesellschaft e.V., die Mitglied des Landesmusikrates Hamburg ist, und als Sprecher der Initiative Das GANZE Werk möchte ich Ihnen mitteilen, dass nach unserem Kenntnisstand der Programmausschuss am 21. Januar 2005 endgültig über das neue Konzept von NDR Kultur entscheiden wird. Das ist für die Musikliebhaber im Sendegebiet des NDR eine wichtige Frage, weil der Widerstand gegen das tagsüber "formatierte" Programm und das damit einhergehende abgesenkte kulturelle Niveau erheblich ist.
Es stört die Hörer an den Sendungen zwischen 6 und 19 Uhr vor allem:
- Die Kompositionen werden fast ausschließlich nicht mehr ganz gesendet.
- Es werden einzelne Sätze als "Häppchen" herausgegriffen - nicht nach einem inneren Zusammenhang, sondern nach den geplanten Wortbeiträgen, nach den in der Musikuhr eingegebenen Situationen oder nach den von der Musikuhr ermittelten freien Zeiten. Für den Hörer ergibt sich ein Sammelsurium der Beliebigkeit.
- Nur im Internet kann man kurzfristig vorher erfahren, was kommt, und das auch nicht immer.
- "Populäre" Sätze werden als sogenannte "Highlights" oft gesendet.
- Von einer Komposition wird meistens nur eine Interpretation gesendet.
- Viele Gattungen und viele Komponisten werden kaum noch gesendet.
- Die Repertoirevielfalt ist also voerst dahin.
- Die sogenannte "aktuelle Kulturberichterstattung", die die Musik ständig unterbricht, gibt kein allgemeingültiges Bild des kulturellen Lebens, sondern eins, das vorrangig von den Aktivitäten und Medienpartnerschaften des NDR geprägt ist.
- Hinweise von NDR Kultur auf kommende Sendungen wiederholen sich mehrfach an einem Tag - eine weitere Form der Eigenwerbung.
- Ein nerviger, häufig laut eingestellter und nicht zur Musik passender Jingle nervt die Hörer.
- Die - leicht abstellbare - permanente Sendernennung in den Ansagen ("auf NDR Kultur") wird als aufdringlich empfunden. Selbst "die Morgendämmerung bricht herein - auf NDR Kultur" .
- Die An- und Absagen sind unvollständig. Werkverzeichnisnummern werden oft gemieden, sie haben wohl einen nicht gewollten akademischen Touch. Nach einem Jingle und meistens auch nach einer Begrüßung gibt es keine Ansage.
- Die Moderatoren ersetzen qualifizierte Redakteure und scheinen kaum der Aufgabe gewachsen zu sein, sehr viele und oft wiederkehrende Stücke anzusagen.
Seit Januar 2003 haben viele Hörer in Briefen und E-Mails ihren Unmut gegenüber dem NDR ausgedrückt, seit Ende Dezember 2003 haben auch viele Mitglieder des KlassikClubs ihre Mitgliedschaft gekündigt, weil der Programmablauf nicht mehr als Vorschau existiert. Wozu auch, sagt man sich bei NDR Kultur: "Auch anspruchsvolle Kulturprogramme werden heute tagsüber zum Nebenbeihören genutzt, und wer sind wir denn, dass wir uns nicht danach richten." (Wellenchefin Mirow, Hamburger Abendblatt, 10. 9. 2003) Der eine Hörer wusste aber nichts vom anderen, und der NDR verschwieg den Protest.
Erst als die Hamburger Telemann-Gesellschaft am 25. April 2004 eine Resolution beschloss, das "Hamburger Abendblatt" dies veröffentlichte und die Veröffentlichung eine große Resonanz bewirkte, formierte sich der Widerstand. Am 15. Juni 2004 wurde die Initiative Das GANZE Werk auf der Grundlage der Resolution gegründet. Heute - nach gut sechs Monaten - hat sie schon mehr als 1.350 Mitglieder. Zusätzlich sind mehr als 875 Unterschriften für die Forderung der Initiative gesammelt worden. Bei der am 6. Oktober 2004 begonnenen Postkartenaktion erreichten die Initiative mehr als 1.200 Karten, die Zahl der beim NDR eingegangenen Karten ist uns nicht bekannt.
Das Erfolgsrezept der Initiative ist ihr Vorschlag zu einem Kompromiss. Er lässt dem NDR Kultur das Feld für Experimente, aber für eine bestimmte Dauer am Tag soll die Zielgruppe der Musikliebhaber berücksichtigt und sollen der Kultur- und Bildungsauftrag im Sinne der anerkannten kulturellen Werte eingehalten werden. Konkret: Von 6 bis 19 Uhr soll es auf NDR Kultur mindestens vier Stunden lang Musiksendungen mit GANZEN Werken und ohne störende Effekte geben.
Dort, wo die Zeitungen über die Initiative berichteten, und wo wir die Menschen direkt erreichten, z.B. in den Gebieten von Hamburg, Hannover und Lübeck oder in Chören und Orchestern, gab es zu diesem Thema kaum noch eine Diskussion und war der Zuspruch groß. Der NDR, der in Norddeutschland ein enormer Informationsträger ist, schwieg zu allem in der Öffentlichkeit, wenn er nicht gerade von einem Jormalisten gefragt wurde. Der NDR boykottierte von sich aus eine am 25. Mai 2004 der Hamburger Telemann-Gesellschaft angebotene Diskussion im Programm von NDR Kultur und eine von der "Hamburger Morgenpost" geplante Podiumsdiskussion.
Eine wesentlich Hilfe für unsere Arbeit ist die Homepage www.dasganzewerk.de, die uns die neue musikzeitung gesponsert hat und zu der Links im Kulturinformationszentrum des Deutschen Kulturrates führen. Sie wird immer beliebter, die durchschnittliche Zahl der täglichen Besucher ist kontinuierlich auf jetzt 325 gestiegen.
Die Möglichkeiten, noch mehr Musikliebhaber zu erreichen, sind also reichlich vorhanden. Sie können dazu beitragen, dass es mehr werden, und Sie können auch Ihren Einfluss beim Programmausschuss geltend machen. Ich bitte Sie darum, wenn Sie es für sinnvoll halten und wenn Sie es öffentlich verantworten können und wollen:
- Informieren Sie in Ihrem Wirkungsbereich über die Diskussion zu NDR Kultur, über die Sitzung des Programmausschusses und eventuell über die Initiative Das GANZE Werk (umfangreiches Material finden Sie auf der Homepage www.dasganzewerk.de - Beschreibung der Kritikpunkte, Alternativen bei anderen Sendern, Briefe von Hörern und Briefe des NDR, Aktuelles, Zeitungsberichte, Satire...)
- Sprechen Sie mit Mitgliedern des Programmausschusses, die Sie kennen, oder schreiben Sie ihnen einen Brief (die Mitglieder des Programmausschusses, die auch im Rundfunkrat sind, stehen auf der Homepage des NDR, Adressen können wir Ihnen mitteilen)
Ich hoffe dass Sie sich für die Aufrechterhaltung von kulturellen Standards einsetzen, zu denen der NDR durch den Bildungs- und Kulturauftrag nach dem Rundfunkstaatsvertrag und dem NDR-Staatsvertrag verpflichtet ist. Solange der Sender NDR Kultur selbst nicht gefährdet ist, darf die Kultur nicht auf Kosten einer Quote oder wegen der Konkurrenz zu Klassik Radio verlieren. Schließlich ist er öffentlich-rechtlich und gebührenfinanziert. Nach dem Verfassungsrechtler Prof. D. Dörr hat sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk essentiell "an den überkommenen kulturellen Werten auszurichten", die zur Grundversorgung gehören, und läuft "der Begriff der Kultur im weiten Sinn (...) stets Gefahr, seine Konturen zu verlieren" (D. Dörr, Mitautor des Kommentars zum Rundfunkstaatsvertrag, Rechtsgutachten..., Mainz 2004, S. 18 und 45).
Mit freundlichen Grüßen
gez. Theodor Clostermann
Anlagen
- Resolution der Initiative Das GANZE Werk
- Artikel der WELT zür Gründungsversammlung, WELT 27-06-2004.pdf
- Grundlegende Presseerklärung der Initiative, Presse 26-07-2004.doc
Zusatzinformationen
Es folgten Ausführungngen, die anschließend in folgendem Artikel veröffentlicht wurden:
Ein Streizug durch die Hörerforschung der ARD
Seit 2002 will Herr Romann zwei Hörergruppen "angleichen"
Das soll ihm nicht gelingen!
Über Versuche, die sogenannten "Klassisch Kulturorientieren" in der Theorie loszuwerden, und über reale Interessen