Das GANZE Werk - Presseschau
Der Tagesspiegel, 2. Dezember 2011
Abgewandelte Zeitungsfassung des Artikels in der Zeitschrift RONDO Nr. 5/11
Was wird weiter aus der klassischen Musik im Radio?
Eins auf die Ohren
Medienforscher Konrad Dussel:
„Es wird nur noch zwei Formate geben, ein Massenradio als Begleitwelle und Angebote für Spezialinteressen, die vollständig ins Internet abwandern. Darunter wird auch die klassische Musik sein.“
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Willig begleiten uns Mozart & Co. beim Kochen, Bügeln und Autofahren. Doch was wird weiter aus der klassischen Musik im Radio?
Wie bringt man dem Radiohörer eine Zeit nahe, die 500 Jahre her ist? Als Ende August im Berliner Bode-Museum die Ausstellung „Gesichter der Renaissance“ eröffnet wurde, hat das Kulturradio vom RBB dieser Epoche einen ganzen Tag gewidmet – mit Musik von Palestrina, Orlando di Lasso oder John Dowland, mit den Klängen von Laute, Viola da gamba und Schalmei. Aber auch mit Gesprächen über Dante, das Essen der Zeit und die Schande, dass heute niemand mehr Latein spricht, sprich: ein bunter Renaissance-Teller. Ein Thementag, der ziemlich genau dem Profil heutiger öffentlich-rechtlicher Kultursender entspricht: möglichst breit gefächert, locker, kurzweilig, auch ein bisschen ernst, niemanden überfordernd.
Der Hörer kann jederzeit einschalten, er ist sofort „drin“.
Menschen wie der Berliner Mediziner Claus Klöppel oder der Hamburger Lehrer Theodor Friedrich wittern darin den Untergang des Abendlands. Niveauverlust, Anbiederei, Kommerz auf öffentliche Kosten.
Zu Recht?
Früher musste der Radiohörer genau wissen, wann er für welche Sendung einzuschalten hatte. Man kaufte sich deshalb die Programme. Dann lauschte man einer Mahler- oder Bruckner-Symphonie, von Anfang bis Ende. Moderatoren waren weniger Mittler als Pädagogen, Priester oder Nachrichtensprecher: „Wir blicken auf unsere große Studiouhr. Beim Gongschlag ist es 19 Uhr, und Sie hören Mozarts Jupitersinfonie.“ So ungefähr klang das. Die Sender verstanden sich als Bildungsanstalten, von wem und wie viel sie gehört wurden, interessierte sie kaum. Sie mussten sich auch nicht darum kümmern, denn sie hatten (noch) keine Konkurrenz.
Klischee und Verklärung? Es war die goldene Zeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, und die Menschen liebten ihr Radio. Es war ihr Fenster zur Welt.
Nach 1945 hatten die Alliierten in Westdeutschland ein Rundfunksystem nach dem Vorbild der BBC aufgebaut. Kein staatlicher Rundfunk sollte es sein, also nicht durch Steuern, sondern durch Gebühren finanziert und nicht von der Regierung kontrolliert, sondern von einem Rundfunkrat. Der mediale Nachholbedarf war enorm, die Hörerzahlen stiegen, die Sender verabschiedeten einen Nachtragshaushalt nach dem anderen. Programme kosten Geld – und wurden gekauft. Heute wäre das undenkbar, Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur versenden ihre ambitionierten Broschüren frei Haus und freuen sich, wenn sie gelesen werden.
1969 kommt der erste Bruch – in Form von 50 Pfennig. Die Rundfunkgebühr von zwei Mark muss auf 2,50 Mark erhöht werden. Die Hörerzahlen stagnieren, die Leute schauen jetzt lieber fern. Der Markt lebt schon damals von ständiger Innovation. Nachdem alle ein Radiogerät haben, kommt der Schwarz-Weiß-Fernseher, und als auch den alle haben, kommt der Farbfernseher – derselbe Mechanismus, der heute den Handy- und Smartphone-Absatz bestimmt. Das 1963 von den Bundesländern gegründete Zweite Deutsche Fernsehen bietet erst gar keinen Hörfunk mehr an. Das Radio wird aus dem Abend verdrängt, seine Kernzeit springt in den Morgen. Die Sender differenzieren sich aus in zielgruppenspezifische Hörfunkwellen für Pop, Schlager, Wort, auch die klassische Musik bekommt ihr Revier.
In den Achtzigerjahren hält dann die Postmoderne Einzug ins Medium – und mit ihr Vielfalt und Beliebigkeit. Die neuen technischen Möglichkeiten, der Druck des Auslands und der politische Wille der Kohl-Regierung machen den Weg frei für die Privatsender. Die Kultursender sehen sich plötzlich mit Konkurrenten wie dem Klassik Radio konfrontiert. Dort ist vieles anders. Plötzlich steht das Wohlgefühl des Hörers im Mittelpunkt, nichts anderes. Dass Musik Zeugnis einer ästhetischen Auseinandersetzung ist – davon ahnt der kommerzielle Hörer nichts.
Der öffentlich-rechtliche Hörer wiederum fühlt sich immer mehr allein gelassen. Erst vor zehn Jahren beginnen die Sender mit sanften Reformen und erkennen den Vermittlungsbedarf. „Heute muss ein Moderator mit dem Hörer auf Augenhöhe sein“, sagt Axel Linstädt, Programmbereichsleiter von BR Klassik. Kompetent sollte er natürlich auch sein, das alleine reiche aber nicht. „Wir haben hervorragende Musikwissenschaftler, die nicht radiophon denken können“, betont auch Armin Köhler, Spezialist für Neue Musik beim SWR. Für ihn gilt: „Man kann Qualität auch anders präsentieren als über eine akademische Vorlesung.“
Zur Zeit gibt es acht Sender in Deutschland, die hauptsächlich klassische Musik spielen: BR-Klassik (bis 2009 Bayern 4 Klassik), RBB Kulturradio, WDR3, NDR Kultur, MDR Figaro, SR2, SWR2 und HR2, dazu kommen Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur. Der alte Kulturauftrag, auch selbst Musik zu produzieren, gilt ebenfalls noch: Große Sender wie der Westdeutsche und der Bayerische Rundfunk beschäftigen zwei Orchester und je einen Chor, und sogar der kleinste, der Saarländische Rundfunk, ist stolz auf seine (ebenfalls fusionierte) „Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern“. Bei den Finanzen steht der Bayerische Rundfunk mit Gebühreneinnahmen von 867 Millionen Euro (2011) an vierter Stelle, die Spitzenposition hält der WDR mit 1,1 Milliarden. Als das einzige Klassikvollprogramm der Republik sticht BR Klassik dennoch heraus, alle anderen unterhalten Mischprogramme. Außerdem kommt seit 2011 das ARD-Nachtkonzert geschlossen aus München. 24 Stunden klassische Musik also, außerdem die sehr lukrativen Übertragungen aus Bayreuth in alle Welt und ein eigenes CD-Label: „Bei uns spürt man“, erklärt Hörfunkdirektor Johannes Grotzky, „dass alle Intendanten seit Jahrzehnten voll und ganz hinter dem Klassikprogramm stehen.“
Aber auch für die Münchner gilt: Tagsüber muss das Programm schlank und durchlässig sein, der Hörer hat keine Zeit. Aber geht da nicht auch viel verloren? Widerstand regte sich unter anderem in der 2004 in Hamburg ins Leben gerufenen Initiative „Das ganze Werk“. NDR und RBB würden nur mehr isolierte Einzelsätze spielen, durchsetzt von seichten Moderationen. Ein Kotau sei das vor den Privaten, die diese Entwicklung in Gang gesetzt hatten.
Claus Köppel hat die Berliner Sektion des „Ganzen Werks“ mitbegründet. Der Arzt am Tempelhofer Wenckebach-Klinikum spielt selbst Cembalo und Orgel und organisiert regelmäßig Konzerte für seine Patienten. Nicht nur mit der Struktur, auch mit dem Inhalt des RBB-Kulturradios hat er Probleme. „Früher wurden gerade seltene Werke häufiger gesendet und qualifiziert besprochen“, sagt er, „und es wäre nicht vorgekommen, dass man schon an der Stimme merkt: Der Moderator ist nicht kompetent.“ Ins gleiche Horn stößt Theodor Friedrich. Der pensionierte Lehrer war die treibende Kraft in Hamburg. „Sollten die Sender mit öffentlichem Auftrag in dieser Situation nicht erst recht auf Entschleunigung und Konzentration setzen?“, fragt er. Doch es half alles nichts. Nach zwei erfolglosen Eingaben beim NDR-Rundfunkrat hat die Initiative 2010 ihre Tätigkeit eingestellt. Die Webseite ist noch online, als „Denkmal für die kulturinteressierten Radiohörer in Norddeutschland“. Theodor Friedrich glaubt, dass trotzdem nicht alles vergebens war: Immerhin wurden auf NDR Kultur die Sonntagskonzerte wieder eingeführt. Zwei Stunden lang ganze Stücke.
Aber könnte es nicht auch sein, dass die Hörer schon immer für das Seichte zu haben gewesen wären – wenn man sie gelassen hätte? In diese Richtung denkt der Mannheimer Medienhistoriker Konrad Dussel, Autor der „Deutschen Rundfunkgeschichte“. Nach Gründung des ZDF habe es eine Vereinbarung mit der ARD gegeben, dass der eine Sender keine Unterhaltung ausstrahlen darf, während der andere eine politische Sendung zeigt. Offenbar sorgte man sich schon damals vor dem berüchtigten „Slalom“-Effekt. Die Sache ist also nicht so einfach. Haben die Programmreformen der vergangenen Jahre eine Nachfrage befriedigt? Oder erst geschaffen? Passen sich die Sender den veränderten Gewohnheiten der Hörer an, oder sind es die Sender, die diese Gewohnheiten verändern?
Im Onlinezeitalter werden alle Lebensabläufe schneller, flüchtiger. Das kann man kulturpessimistisch sehen. Christoph Stölzl tut es nicht. Der ehemalige Berliner Kultursenator und amtierende Präsident der Hochschule für Musik „Franz Liszt“ in Weimar findet das Internet toll: „Schauen sie sich die Schnipsel auf Youtube an. Die haben der klassischen Musik zu einer neuen Popularität bei Jugendlichen verholfen!“ Das „ganze Werk“ sei schon zu Mozarts Zeit nicht unbedingt gespielt worden, so Stölzl. Kunst als Religionsersatz, Totalität als Fetisch: eine Erfindung des 19. und 20. Jahrhunderts. Heute höre man nach dem Zufallsprinzip Radio. „Ganze Werke hört sich heute niemand mehr vollständig an“, so Stölzl.
Doch was ist dann mit einem Format wie dem WDR3-„Klassikforum“, das sechs Tage in der Woche von neun bis zwölf Uhr ausgestrahlt wird und nur ganze Werke spielt, historische Aufnahmen inklusive? Für seine Höreraktion „Lieblingsstücke“ gab es unlängst sogar einen „Prix Europa“. Mehrere Tausend Lieblingsstücke waren eingesandt worden, auf Platz eins landete am Ende Dvoraks Sinfonie „Aus der neuen Welt“.
Erfunden wurde das Klassikforum vor bald 25 Jahren von Wilhelm Matejka. Der Wiener, der 1987 zum damaligen SFB wechselte, ist heute Programmchef beim RBB Kulturradio und denkt längst nicht mehr in Drei-Stunden-Strecken. Und die Quote dankt es ihm: Zuletzt haben 118.000 Hörer am Tag in Berlin und Brandenburg den Sender eingeschaltet (zum Vergleich: bei Deutschlandradio Kultur waren es 70 000 in der Region). „Ich gehöre nicht zu denen“, sagt Matejka, „die ihr Publikum beschimpfen.“ Die Aufmerksamkeit beim Radiohören sei nun mal episodisch, es habe lange gedauert, bis man das begriffen habe. Heut gelte: „Wann immer der Hörer einschaltet, will er etwas hören, was für seinen Lieblingssender typisch ist.“
Damit wird auch Uwe Friedrich konfrontiert, Kritiker und freier Journalist bei Deutschlandradio Kultur. Er gehört zu den Moderatoren der „Interpretationen“ sonntags um 15 Uhr, einem der letzten Rückzugsgebiete des Traditionsradios. Zwei Stunden lang wird hier ein einziges Werk kommentiert, mit einem Stapel Aufnahmen und einem Experten im Studio. Beim BR gibt es die Sendung auch, allerdings ohne Experten, nur 90 Minuten lang und – abends. Abends ist sowieso vieles anders. Der Abend bildet heute das Reservat des harten Kerns der Klassikhörer. „Morgens um sieben können sie niemanden mit der Siebten von Bruckner bombardieren“, sagt Oswald Beaujean, leitender Programmredakteur in München. Höchstens am Sonntag, in der „Symphonischen Matinee“, aber auch da erst ab zehn.
Wie aber geht es weiter? Werden die Kultursender irgendwann vom Klassik Radio nicht mehr zu unterscheiden sein und in gebührenfinanzierter Bedeutungslosigkeit verschwinden? Dafür ist unser Musikleben in den Konzertsälen und Opernhäusern viel zu vital. Vielmehr wird das Internet die Zukunft des Radios wie auch des Fernsehens bestimmen. Die drei Medien, heißt es, würden zu einer Einheit verschmelzen. Medienforscher Konrad Dussel entwirft ein radikales Szenario: „Es wird nur noch zwei Formate geben, ein Massenradio als Begleitwelle und Angebote für Spezialinteressen, die vollständig ins Internet abwandern. Darunter wird auch die klassische Musik sein.“ In Zukunft geht es also vor allem darum, sie im weltweiten Netz zu finden. Dazu muss man allerdings wissen, was man sucht. Und ein Schubertlied von einer Bachmotette unterscheiden können. Was die Sache zur Bildungsfrage ausweitet. Eine Bildung, die früher frei Haus geliefert wurde. Indem wir das Radio angemacht haben.
Lesen Sie den ursprünglichen Magazin-Artikel dieses Zeitungsartikels:
Klassik im Radio oder Klassik Radio? - RONDO, Das Klassik & Jazz Magazin, Nr. 5/11, Oktober 2011
Lesen Sie - dazu passend - den kurzen Bericht des Tagesspiegel, 24. Juli 2012:
Der Chefarzt, der selbst Konzerte gibt - Für Claus Köppel ist die Musik fester Bestandteil der Behandlung