Das GANZE Werk - Presseschau

RONDO, Das Klassik & Jazz Magazin, Nr. 5/11, Oktober 2011
Zum Vergleich: Abgewandelte Zeitungsfassung im Tagesspiegel, 2. Dezember 2011

Schwerpunkte:
2004 entstand in Hamburg die Initiative »Das ganze Werk«, die damals viel Resonanz fand...
»Früher kam es nicht vor, dass man peinlich berührt feststellte: Der Moderator ist nicht kompetent.« (Claus Köppel, Das GANZE Werk/BB)
»Wir haben damit Schlimmeres verhindert. Und sogar etwas Konkretes bewirkt, nämlich die Einführung von Sonntagskonzerten auf NDR Kultur.« (Theodor Friedrich, Das GANZE Werk/Nord)
»Selbst wenn man das ganze Werk spielte, es würde niemand mehr vollständig anhören.« (Christoph Stölzl, Präsident der Hochschule für Musik »Franz Liszt« in Weimar)
»Wenn ein Hörer einschaltet, will er hören, was für seinen Sender typisch ist.« (Wilhelm Matejka, rbb Kulturradio)
»Heute spricht ein Moderator auf Augenhöhe mit dem Hörer, wobei er dabei natürlich immer kompetent sein muss.« (Axel Linstädt, BR-Klassik - Programmbereichsleiter)
»Es wird auch künftig ein Publikum für anspruchsvolles Kulturradio geben. Das Stichwort lautet ›Trimedialität‹: die immer stärkere Verzahnung von Radio, TV und Internet.« (Udo Badelt, Autor des Artikels)

Zukunft des Rundfunks

Klassik im Radio oder Klassik Radio?

Überblick bzw. Debatte entlang mehrerer Interviews

Von Udo Badelt

Artikel in Originalansicht (Pdf/2,16 MB)

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk zerreißt sich zwischen dem hehren Anspruch auf Kulturvermittlung und den Hörgewohnheiten seiner Nutzer. Kommerzielle Kuschelklassikwellen pflegen für ihre Werbekunden eine große Hörerschicht, die Lust auf Lifestyle statt Lehrstunde hat. Für den Versuch einiger Programmchefs, sich diesem Trend anzupassen, gab es kräftig Schelte von der Bildungsbürgerfront, allen voran dem Verein »Das ganze Werk«. Die sahen darin den Auftrag der öffentlich finanzierten und daher werbeunabhängigen Sender verfehlt. Doch ganz ohne Rücksicht auf die Quote geht es auch hier nicht. Udo Badelt hat für RONDO mit Journalisten, Programmverantwortlichen und Verfechtern der Sache gesprochen. Brucknersinfonie oder Häppchenstrecke, wer gewinnt?

Wie bringt man dem Hörer eine Zeit nahe, die 500 Jahre her ist? Als das Berliner Bode-Museum die Ausstellung »Gesichter der Renaissance« eröffnete, widmete das Kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) dieser fernen Epoche einen ganzen Tag – mit Musik von Palestrina, Orlando di Lasso, Josquin Desprez oder John Dowland, mit geistlicher polyphoner Vokalmusik, Madrigalen und den Klängen von Laute, Viola da gamba und Schalmei. Aber auch mit Gesprächen über Dante, das Essen in der Renaissance, die Schande, dass heute niemand mehr Latein spricht und die Frage, was Renaissance mit Lifestyle zu tun hat, sprich: ein bunter Renaissance-Teller, auf dem die Musik keineswegs die einzige Zutat ist. Ein Thementag, der ziemlich genau dem Profil heutiger öffentlich-rechtlicher Kultursender entspricht: möglichst breit gefächert, locker, kurzweilig, auch ein bisschen ernst, aber nicht zu viel, ausgewogen, niemanden überfordernd.

Früher war das anders. Da saßen Musikliebhaber zu einer bestimmten Uhrzeit auf dem Sofa, weil sie genau wussten, wann ihre Lieblingssendung begann. Und hörten sich eine Mahler- oder Bruckner-Sinfonie an, alle Sätze, von Anfang bis Ende. Das macht heute niemand mehr, und es geht auch nicht, weil die Werke oft nicht mehr vollständig gesendet werden – zumindest nicht von diesen Komponisten, zumindest nicht tagsüber. Ganz kritiklos vollzog sich der Wandel nicht. 2004 entstand in Hamburg die Initiative »Das ganze Werk«, die damals viel Resonanz fand. Denn auf dem Spiel stand, so schien es, das kulturelle Erbe des Abendlandes: Die Sender, vor allem der Norddeutsche Rundfunk, würden die thematische Verwobenheit von Sinfonien, Sonaten und Konzerten zerstören, indem sie nur noch isolierte Einzelsätze spielten, durchsetzt von seichter und anbiedernder Moderation ohne Inhalt. Das Werk, wie der Komponist es geschaffen hat, verschwinde vom Tagesprogramm. Ein Kotau sei das, ohne Not und in vorauseilendem Gehorsam, vor den kommerziellen Sendern, die diese Entwicklung in Gang gesetzt haben – allen voran Klassik Radio, ein auf maximale Entspannung getrimmter privater Sender.

»Früher kam es nicht vor, dass man peinlich berührt feststellte:
Der Moderator ist nicht kompetent.«

Claus Köppel ist Arzt am Berliner Wenckebach-Klinikum. Er spielt selbst Cembalo und Orgel, organisiert regelmäßig Konzerte für seine Patienten und hat die Berliner Sektion von »Das ganze Werk« mitbegründet. Nicht nur mit der Struktur, sondern auch mit dem Inhalt des Programms vom rbb Kulturradio hat er ein Problem. »Früher wurden selbst seltene Werke häufiger gesendet und qualifiziert besprochen«, sagt er. »Es wäre nicht vorgekommen, dass Namen falsch ausgesprochen werden und dass man peinlich berührt merkt: Der Moderator ist nicht kompetent«.

Ihm sekundiert Theodor Friedrich. Der pensionierte Lehrer war die treibende Kraft der Initiative in Hamburg. »Natürlich hat sich das Hörverhalten verändert, alles ist schneller geworden. Aber sollten die Sender mit öffentlichem Auftrag nicht gerade deshalb auf Entschleunigung und Konzentration setzen?«, fragt er. Es half nichts. Nach zwei erfolglosen Eingaben beim NDR-Rundfunkrat hat die Initiative 2010 ihre Tätigkeit eingestellt. Die Webseite ist noch online, als »Mahnmal für die Unwilligkeit des NDR zum konstruktiven Dialog« und als »Denkmal für die kulturinteressierten Radiohörer in Norddeutschland«. Theodor Friedrich glaubt trotzdem, dass nicht alles vergebens war: »Wir haben damit Schlimmeres verhindert.« Und sogar etwas Konkretes bewirkt, nämlich die Einführung von Sonntagskonzerten auf NDR Kultur, in denen zwei Stunden lang ganze Werke gespielt werden.

Wer hat die Umwälzung in der Kulturradio-Landschaft in Gang gesetzt? Befriedigt sie eine Nachfrage, oder schafft sie diese Nachfrage überhaupt erst? Passen sich die Sender den veränderten Gewohnheiten der Hörer an oder sind es die Sender selbst, die diese Gewohnheiten verändern? Die Wahrheit liegt wahrscheinlich, wie so häufig, in der Mitte. Beide Phänomene beeinflussen sich gegenseitig. Im Online-Zeitalter werden alle Lebensabläufe schneller, die Geduld nimmt ab, die Belohnung muss immer rascher verfügbar sein, und da dieses Bedürfnis auch befriedigt wird, nimmt es noch zu.

»Selbst wenn man das ganze Werk spielte, es würde niemand mehr vollständig anhören.«

Das kann man kulturpessimistisch kritisieren, muss es aber nicht. Christoph Stölzl tut es nicht. Der ehemalige Berliner Kultursenator und derzeitige Präsident der Hochschule für Musik »Franz Liszt« in Weimar findet die Möglichkeiten, die das Internet bietet, toll: »Schauen Sie sich die Schnipsel auf Youtube an. Die haben klassischer Musik zu einer neuen Popularität bei Jugendlichen verholfen. Das ist wunderbar.« Seine Position: Es sei kein Verlust, wenn »das ganze Werk« nicht mehr gespielt wird. Das wurde es in der Vormoderne, etwa zu Mozarts Zeit, auch nicht, wie die Forschung anhand historischer Konzertprogramme herausgefunden hat. Geniekult, Kunst als Religionsersatz, komplette Werke als Fetisch: Das sei alles eine Erfindung des 19. und 20. Jahrhunderts. Heute höre man nach dem Zufallsprinzip Radio. »Selbst wenn Sie das ganze Werk spielen, es würde sich niemand mehr vollständig anhören«, so Stölzl.

Auch Sebastian Baumgarten hört nicht regelmäßig Radio, sondern nur dann, wenn er Auto fährt. Nur dann findet der 42-jährige Regisseur, der gerade in Bayreuth den »Tannhäuser« in Biogasanlagen gesteckt hat, die Zeit »für eine andere Gründlichkeit, die eigentlich nicht mehr in unsere Zeit passt, für eine gedankliche Fortsetzung von Motiven«. Auch er hat beobachtet, dass alles immer schneller passiert, auch im Theater, wo Inszenierungen von nur noch 80 oder 90 Minuten Länge immer populärer werden. Wirklich kritisieren mag er es nicht: »Ob es früher anders war, ob man damals mit einem Glas Rotwein und einer Zigarre im Sessel saß und Romane las, das weiß ich nicht. Ich glaube, das ist ein sehr romantisch gefärbtes Bild.«

»Wenn ein Hörer einschaltet, will er hören, was für seinen Sender typisch ist.«

Wilhelm Matejka wirkt wie ein zufriedener Mann. Der Wiener, der 1987 beim damaligen SFB anfing, ist Programmchef beim rbb Kulturradio, gegen das sich die Kritik der Initiative »Das ganze Werk« gerichtet hat. Aber die jüngste Medienanalyse hat ihm ausgezeichnete Quoten bescheinigt. »Ich gehöre nicht zu denen«, sagt er, »die ihr Publikum beschimpfen.« Die Aufmerksamkeit beim Radiohören sei nun mal episodisch. Es habe lange gedauert, bis man das begriffen habe. »Früher gab es Kästchensendungen für Schüler, für Chormusik, für Theologie – in der Erwartung, dass jeder Hörer genau dann einschaltet, wenn die Sendung kommt, die ihn interessiert.« Aber das habe sich irgendwann als Illusion erwiesen, und heute gelte: »Wann immer der Hörer einschaltet, will er etwas hören, was für seinen Lieblingssender typisch ist.« Ein Wunsch, den die Programmmacher zu erfüllen versuchen.

Zur Zeit gibt es acht Sender in Deutschland, die hauptsächlich klassische Musik spielen: BR-Klassik (bis 2009 Bayern 4 Klassik), rbb Kulturradio, WDR 3, NDR Kultur, MDR Figaro, SR 2, SWR 2 und HR 2, dazu kommen Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur. Der Bayerische Rundfunk sticht heraus. Denn BR-Klassik ist das einzige Klassik-Vollprogramm, während alle anderen Sender Mischprogramme haben, zwar mit einem erheblichen Klassikanteil, aber eben auch mit anderen Themen.

In München hat man dafür den reinen Wortsender Bayern 2. Auch finanziell ist man dort vergleichsweise gut ausgestattet, was sich gleich in zwei Orchestern niederschlägt: dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, das als bestes seiner Art in Deutschland gilt, und dem Münchner Rundfunkorchester, dazu kommt noch der Chor des Bayerischen Rundfunks. Außerdem existiert ein relativ üppiger Produktionsetat für CD-Aufnahmen. Sie entstehen nicht im Konzertsaal, sondern im Studio und kommen im eigenen Label »BR-Klassik« heraus.

Das Sendeschema ist dennoch bei allen Sendern ähnlich: Tagsüber muss das Programm schlank, kleinteilig und durchlässig sein. Nach 20 Uhr haben dann auch ganze Werke eine Chance. »Am Abend hört vor allem der harte Kern der Klassik-Fans«, sagt Oswald Beaujean, leitender Programmredakteur bei BR-Klassik. »Morgens um sieben können Sie hingegen niemanden mit der 7. von Bruckner bombardieren.« Die gleichwohl bei ihm auch laufen kann, nämlich in der »Symphonischen Matinee« sonntags um Zehn.

»Das war weihevoll, würdevoll, zelebrierend, belehrend. Und es ist vorbei.«

Uwe Friedrich ist Kritiker und freier Journalist bei Deutschlandradio Kultur. Für ihn besteht der größte Unterschied zur Radiokultur der 60er und 70er Jahre in der geänderten Ansprechhaltung der Moderatoren: »Die ist viel entspannter geworden. Wer heute noch sagt ›Wir blicken für Sie jetzt auf die große goldene Studiouhr. Beim nächsten Gongschlag ist es 19 Uhr, und Sie hören die Jupitersinfonie von Mozart‹, macht sich komplett lächerlich.« Ins gleiche Horn stößt Axel Linstädt, Programmbereichsleiter von BR-Klassik: »Das war weihevoll, würdevoll, zelebrierend, belehrend. Und es ist vorbei. Heute spricht ein Moderator auf Augenhöhe mit dem Hörer, wobei er dabei natürlich immer kompetent sein muss.« Und Armin Köhler, Spezialist für Neue Musik beim SWR, meint: »Man kann Qualität auch anders präsentieren als über eine akademische Vorlesung. Wir haben hervorragende Musikwissenschaftler, aber die können keine Rundfunksendungen machen, weil sie nicht radiofon denken. Das haben sie nicht gelernt.«

Wie geht es weiter? Werden die Kultursender irgendwann von Klassik Radio nicht mehr zu unterscheiden sein, nur noch Lounge- und Filmmusik senden und in gebührenfinanzierter Bedeutungslosigkeit verschwinden? Wohl kaum. Es wird auch künftig ein Publikum für anspruchsvolles Kulturradio geben. Die Grenzen zwischen den Medien könnten aber stärker als bisher fallen. Das Stichwort lautet »Trimedialität«: die immer stärkere Verzahnung von Radio, TV und Internet. Schon jetzt können viele Sendungen online nachgehört werden. Armin Köhler allerdings warnt: »Die Kulturprogramme müssen aufpassen, dass sie weiterhin Zugang zu den technischen Neuerungen haben und nicht abgehängt werden, etwa bei der Frage, wie schnell ein Video abgespielt werden kann«. Axel Linstädt von BR-Klassik sieht das grundsätzlich aber ganz gelassen: Kein Medium sei je durch ein anderes vollständig verdrängt worden. »Wenn es uns gelingt, unverzichtbar zu bleiben, haben wir selbstverständlich eine Zukunft.«

Lesen Sie die abgewandelte Zeitungsfassung dieses Magazin-Artikels:
Eins auf die Ohren - Der Tagesspiegel, 2. Dezember 2011

Lesen Sie - dazu passend - den kurzen Bericht des Tagesspiegel, 24. Juli 2012:
Der Chefarzt, der selbst Konzerte gibt - Für Claus Köppel ist die Musik fester Bestandteil der Behandlung