Das GANZE Werk - Presseschau

Zitat:
Wenn ich dafür plädiere, auch tagsüber zu den Ursprüngen zurückzukehren, meine ich keine Regressionen. Ich will nicht in die Babyzeit des Rundfunks zurück, in der der AEG-Ingenieur Hans Bredow als Offizier einer Nachrichtentruppe kleine Unterhaltungsprogramme veranstaltete, um das Personal in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges zu belustigen. Mir schwebt ein Radioprogramm vor, das den gesetzlich geforderten und keineswegs überholten Bildungsauftrag - wieder - ernst nimmt, mit deutlichen Konturen, nicht larmoyant und durchaus witzig, aber bitte nicht dauerfröhlich und seicht. Ich will meinen Ohrwurm wiederhaben, denn dieses kleine possierliche Tierchen - Loriot lässt grüßen - , ist ein Kulturbewahrer in Zeiten rapider Vergesslichkeit. Es ist mir in der Ära der Durchhörbarkeit verlorengegangen. Der Wirt des Ohrwurms ist nicht der Durch- und Weghörer, sondern der Hin- und Zuhörer.
Es mag ja sein, dass die durchhörbaren Begleiter den optimalen Ansatz digitaler Verwerbartkeit bieten. Nur bliebe in dieser Façon Radiokultur auf der Strecke und mit ihr die öffentlich-rechtliche Konstruktion.

19. Februar 2007

Hauptreferat zum 9. Akademie-Gespräch

Das Radio und die Kultur - Wider die audio-finger-food

Von Johannes Wendt, Berlin

Inhalt
Die neuen technischen Systeme: „Niemand blickt durch“
Die Öffentlich-Rechtlichen können und müssen den privaten Fast-food-Konzepten standhalten
Sachverstand, der recherchierende, investigative Journalismus, muss - wieder - den Ton bestimmen
Die kulturelle Wiedergeburt des Radios ist zu schaffen, wenn ihm das Geld zukommt, das ihm gebührt
Die Öffentlich-Rechtlichen müssen sich wieder als demokratische Bildungsinstitute begreifen
Ein erster Schritt: Abschied von der „Programmphilosophie“ der „Durchhörbarkeit“
Der Wirt des Ohrwurms: nicht der Durch- und Weghörer, sondern der Hin- und Zuhörer

Johannes Wendt, Journalist
Foto: Akademie der Künste Berlin
Nur wenige Wochen vor seinem Waterloo hat der stimmgewaltige Bayer Edmund Stoiber in seiner leider wenig beachteten ersten und wahrscheinlich letzten Berliner Medienrede den Rundfunk als Kulturgut gefeiert, das in einer globalisierten Welt nicht genug zu schätzen sei. Und er forderte den Rundfunk auf, sich einzumischen. Soweit sind wir schon gekommen. Konservative Politiker, die sich vor Zeiten über das „rote Radio“ ereiferten und die „Staatsferne“ des öffentlich-rechtlichen Rundfunks am liebst aufgehoben hätten, erinnern ihn nun an seine verfassungs- und satzungsgemäßen Aufgaben. Die schönen Worte von der Isar sind indessen kaum mit den glücklicherweise gescheiterten Plänen zu vereinbaren, das Rundfunkorchester in der Landeshauptstadt abzuwickeln und die Klassikwelle Bayern 4 in den digitalen Orkus zu schicken. Das soll nun dem Radioprogramm für die jungen Bayern widerfahren, von denen offenbar angenommen wird, dass sie eher als die älteren Klassikfreundinnen und -freunde mit der digitalen Technik zurechtkommen, sofern sie sich die Empfangsgeräte leisten können. Immerhin: Kultur muss sein - auch im digitalen Zeitalter, das nun über uns hereinbricht.

Die neuen technischen Systeme: „Niemand blickt durch“

Die Öffentlich-Rechtlichen können und müssen den privaten Fast-food-Konzepten standhalten

Noch ist die Verwirrung groß. „Niemand blickt durch“, klagte jüngst der Mediendienst des epd (16. Dezember 2006). Ab 2008 stehen die digitalen Frequenzblöcke zur Verfügung, die im vergangenen Sommer von 104 Ländern auf der internationalen Wellen-Konferenz in Genf verteilt wurden. Zum Unbehagen der kommerziellen Anbieter wird in Deutschland immerhin die Hälfte dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk zugesprochen, dem sich damit ungeahnte Chancen, vielleicht aber auch einige Falltüren öffnen. „Die halbe Welt ist digital“ - wurde eben erst triumphierend auf dem Transmediale-Festival in der Akademie verkündet. Aber von diesem Zustand sind wir noch weit entfernt. Noch sind über 90 % der Empfangsgeräte nicht für den digitalen Hörfunk hergerichtet. Die vorhandenen DAB-Geräte - etwa 50.000 bis 100.000 gegenüber Millionen normaler, also nicht digitaler Radiogefäße - sind ein Flop. Sie müssen ersetzt werden; denn die Codierungs- und Übertragungsstandards verbessern sich ständig, wie die Landesmedienanstalten soeben halb mahnend, halb prahlend in ihrer Studie über den digitalen Rundfunk festgestellt haben. Das gegenwärtige Kompressionsverfahren MPEG I Layer 2, so lese ich, wird von der tüchtigeren Methode MPEG 4 AAC+ abgelöst. Bitte fragen Sie mich nicht, welche Worte oder gar technischen Details sich in solchen Chiffren verstecken. Und so ähnlich wie diese Chiffren stottern die Übermittlungen des digitalen Weltradios DRM (Digital Radio Mondiale), wenn die Lang-, Mittel- und Kurzwellen aus der Ionosphäre und ihren Erdumrundungen zu uns zurückfinden. Die Sendungen leiden unter Schwund (Fading), Aussetzern und Verstümmelungen, befand unlängst ein Experte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (9. Januar 2007). Kurzum, noch möchte man's nicht hören, sofern man es genießen will. Noch dürfen wir analog und ultrakurz Sendungen mit herkömmlichen Geräten empfangen.

Noch ist auch die Finanzierung der neuen technischen Systeme ungeklärt. Sie kosten vermutlich mehrere hundert Millionen Euro. Vom pay-radio ist die Rede und von einem Digitalisierungsfonds, in den die bisherigen Hörfunkveranstalter zahlen sollen, und die Endverbraucher werden ebenfalls zur Kasse gebeten; denn die neuen digitalen Empfänger sind teuer - ab 200 Euro. Aber aufgepasst! China will demnächst Geräte zu 50 Euro und weniger auf den elektronischen Unterhaltungsmarkt werfen und - daher die heutige Veranstaltung! - die Zeit rennt. Wir haben nicht mehr als eine Verschnauf- und Besinnungspause. Im Verein mit der elektronischen Geräte-Industrie wirbt die Europäische Kommission dafür, dass Radioprogramme bis 2012 - in fünf Jahren also - komplett digitalisiert werden. Deutschland gibt sich mindestens drei Jahre mehr Zeit für die Umstellung. Die Landesmedienanstalten indessen träumen schon davon, dass sich digitale Radiogeräte zu einem „Kultgegenstand“ entwickeln.

Die Öffentlich-Rechtlichen können und müssen den privaten Fast-food-Konzepten standhalten

Werden sie uns wirklich mehr als audio-finger-food servieren? Was ist zu tun, damit sich der Kult nicht im Faszinosum einer neuen weltumspannenden Technik mit schier unendlichen auch medienübergreifenden Übertragungsmöglichkeiten erschöpft? Die Antwortet lautet: die öffentlich-rechtlichen Anstalten müssen die kurze Zeit, die ihnen bleibt, nutzen, um ihre Stärken auszuspielen und Programmkonzepte zu entwickeln, die auch der digitalen Zukunft standhalten. Sie müssen dem kulturellem Anspruch gerecht werden, den Edmund Stoiber durchaus in Übereinstimmung mit dem Gesetzgeber und dem Verfassungsgericht formuliert hat und der also auch die nicht-digitale Gegenwart bestimmen müsste. Ich wähle den Konjunktiv, weil ich durchaus zweifele, ob alles, was über öffentlich-rechtliche Abspielstationen in unsere Ohren gelangt, dem Kulturauftrag genügt. Um außer Bayern nun auch Berlin und Brandenburg die Ehre zu geben, zitiere ich kurz, was die Parlamente hier und in Potsdam vor fünf Jahren abgesegnet haben, als sie den rbb aus der Taufe hoben. Jede und jeder in- und außerhalb des Sendebetriebes möge prüfen, ob seine öffentlich-rechtlichen Lieblingswellen dem entsprechen, was diesem jüngsten Kind der ARD - verfassungskompatibel und idealtypisch für die älteren Geschwister - aufgetragen wurde, und zwar im Indikativ:

Das Programm, heißt es im § 4 „dient der Information und Bildung sowie der Beratung und Unterhaltung und erfüllt den kulturellen Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.“ Er „hat in seinen Sendungen einen objektiven und umfassenden Überblick über das internationale, europäische, bundesweite sowie länder- und regionenbezogene Geschehen in allen wichtigen politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Fragen zu geben“. ... Kultur auch hier zuletzt! Immerhin wird noch betont, dass die Rundfunkprogramme zur Zusammengehörigkeit im vereinten Deutschland und zur Förderung der gesamtgesellschaftlichen nationalen und europäischen Integration in Frieden und Freiheit und zu einer Verständigung unter den Völkern beitragen sollen.

Sachverstand, der recherchierende, investigative Journalismus, muss - wieder - den Ton bestimmen

An dieser hohen Latte, die auch in den Grundsatztexten über die anderen Mitglieder der ARD-Familie so oder ähnlich beschrieben wird, müssen sich die Programme messen lassen, zumal die Kulturwellen, die ohne kommerzielle Werbung, wenn auch nicht ohne sponsoring auskommen. Sachverstand, der recherchierende, investigative Journalismus, muss - wieder - den Ton bestimmen, der gleichwohl freundlich und gewitzt sein, aber auf die kumpelhafte Geste („Hallo! Grüß Sie, meine lieben Hörerinnen und Hörer!“) durchaus verzichten darf. Hauptsache: Man muss die Dinge kennen, über die man spricht. Fachredaktionen für soziale, ökologische und ökonomische Fragen, Gesundheit, Gentechnik, Globalisierung, Hochschulen und Schulen und natürlich auch für Konzert, Theater und bildende Kunst müssen - wieder - eingerichtet und natürlich mit komfortablen Sendezeiten - auch tagsüber - ausgestattet werden. Unabdingbar sind kulturpolitische Magazine, die täglich das regionale, bundes- und weltweite Geschehen abbilden und vor klaren Worten nicht zurückscheuen.

Und warum gibt es nicht via Radio samt Podcast zur festen oder gespeicherten Stunde Frühgymnastik gegen die zunehmenden Bäuche, Verkalkungen und Rückenschmerzen? Warum keinen Sprach- und Sprechunterricht, der in die Stuben der Migranten vordringt, da doch allseits die Sprache als wesentlicher Faktor der Integration herausgestellt wird und - nebenbei - auch die Ausdrucksweisen der Nichtmigranten zu rekultivieren wären. Die Sozialreportage, die Live-Sendung nicht nur vom Markt, aus den Fussballstadien, Handball- und Eishockeyhallen, den Börsen und den Rad- und Auto-Rennbahnen, den blutigen Boxarenen, sondern auch aus den überfüllten Knästen, aus Altenheimen und Kinderläden, Arbeitsagenturen, dies- und jenseits der Werktore, aus den prekären Quartieren, kurz, von den sozialen Brennpunkten des Landes und der Stadt, müssen die magnetische Wirkung entfalten, die der Hörfunk hat, wenn er seinen Zeitvorsprung vor den anderen Medien und seine akustische Dimension ausreizt. Nicht zuletzt die Medienkritik, die natürlich die Programmdiskussion in den Anstalten selbst einschließt; denn sie - das vergessen die Gebührendauerüberweiser und das sendende Personal allzu leicht - gehören dem Volk bzw. - politisch ganz korrekt! - der „Bevölkerung“. Natürlich müssen die besonderen Kulturangebote, die Lesungen - Lyrik eingeschlossen! - , das Hörspiel und das Feature im Radio ebenso erhalten und belebt werden wie das elektronische Abenteuer, das Experimentieren im und mit dem Medium. Dieser kulturintensiven Radioaktivität, dem Ultraschall, beschert die digitale Ära vermutlich große und globale Möglichkeiten. Die Rückbesinnung auf die Prämissen muss jedoch sofort einsetzen.

Die kulturelle Wiedergeburt des Radios ist zu schaffen, wenn ihm das Geld zukommt, das ihm gebührt

Wer soll das bezahlen? Der Gebührenzahler zahlt für den Radioempfang monatlich 5.52 Euro. Aber dieses Geld, fast ein Drittel des Gesamtbetrages von 17,03 Euro, verschwindet im 7,12-Milliarden-Topf, aus dem disproportional zum Beispiel millionenschwere Amüsiersendungen des Fernsehens, die outgesourcten Talk-Ackermänner, selbstveranstaltete Boxspektakel finanziert werden, die den kopfeinziehenden Betrachter zu der Frage drängen, ob mit dem KO-Schlag in der dritten Runde nicht zugleich der Kulturauftrag erledigt wird. Unter den Geldverteilungsmechanismen wird der Hörfunk, obwohl insgesamt das Radiopublikum zunimmt, gegenüber dem Fernsehen disproportional benachteiligt. Das hat vor Jahren schon eine Studie gezeigt, die der Ökonom und Medienwissenschaftler Klaus Goldhammer im Auftrag der MABB vorlegte und, wie er mir heute sagte, weiterhin gültig ist: Von den Gebühren für Radioempfang fließt nicht der adäquate Anteil in die Radioprogramme, nämlich, so lese ich im Internet, nur 20 %.

Lohnend und wichtig ist die Radio-Versorgung allemal. Es gibt in Deutschland 52 Millionen Radiohörerinnen bzw. -hörer, jede bzw. jeder hört im Bundesdurchschnitt mehr als vier Stunden, in Berlin mehr als drei Stunden Radio pro Tag. Durch die Digitalisierung wird sich das Publikum vermutlich vermehren, vor allem jenseits der Grenzen - bis nach Shanghai. Aber die Zahl der Gebührenzahler wird kaum steigen, eher ein wenig sinken, weil die Bevölkerung abnimmt. Aber insgesamt kein Grund, die öffentlich-rechtlichen Programme abzubauen; denn sie befinden sich, auch wenn sie noch über die meisten Frequenzen im UKW-Bereich verfügen, in einer krassen Minderheit: 56 öffentlich-rechtlichen Anbietern stehen 211 kommerzielle gegenüber. Das A und O der ARD-Sender muss sein, dass sie sich von den anderen abheben, das kulturpolitische öffentlich-rechtliche Alleinstellungsmerkmal. Am Geld müsste das Projekt einer kulturellen Wiedergeburt des Radios nicht scheitern, wenn ihm zukommt, was ihm gebührt. Man muss es nur wollen. Darauf haben schlaue Köpfe schon längst aufmerksam gemacht. Der Jurist Dieter Dörr zum Beispiel hat in Vorträgen und mit der Schrift „Programmvielfalt im öffentlich-rechtlichen Rundfunk durch funktionsgerechte Finanzausstattung“, Baden-Baden 1997/98 (unter Mitarbeit von M. Fromm) dafür geworben hat, dass nicht einfach die Anstalten, die das größte Sendegebiet haben (was übrigens im Zeitalter der Verkabelung, Digitalisierung und Internetverwertung nicht mehr klar zu begrenzen ist), das meiste Geld bekommen. Vielmehr sollen die Gebühren leistungsgerecht verteilt werden, und dabei würde sicher auch für ein ordentliches Radio einiges abfallen.

Die Öffentlich-Rechtlichen müssen sich wieder als demokratische Bildungsinstitute begreifen

Dramatisch gestiegen ist im übrigen auch die Zahl der Hörbücher, was das Interesse des Publikums am gesprochenen Wort belegt, und in der sich ausdehnenden Podosphäre - inzwischen werden 4.000 Podcast-Sender mit über 200.000 Sendungen - gezählt, sind ebenfalls die Wortsendungen gefragt, z.B. das immer noch sehr hörenswerte und jeden Morgen auf neue überraschende Zeitzeichen vom WDR.

In der digitalen Flut, so viel ist sicher, können sich die öffentlich-rechtlichen Sender nur halten und ihre Legitimation erhalten, wenn sie sich - wieder - als die demokratischen Bildungsinstitute begreifen, als die sie im Nachkriegsdeutschland nach dem Radio-Mißbrauch durch die Nazi-Propaganda mit britischer Hilfe konstituiert wurden. Leuchttürme, um im Bild zu bleiben, seriöse Sensorien mit präventiver Wirkung, gesellschaftliche Frühwarnanlagen, die den Bürgern und vielleicht auch den mit undurchsichtigen Reformvorhaben überforderten Politikern wieder Orientierung schenken.

Ein erster Schritt: Abschied von der „Programmphilosophie“ der „Durchhörbarkeit“

Ein erster Schritt, nicht Rück-, sondern Fortschritt in diese Richtung wäre der Abschied von einer zur „Programmphilosophie“ hochstilisierten Verhaltensweise, die - verräterisch genug - „Durchhörbarkeit“ als Ziel ausgibt. Die sogenannten „Tagesbegleitprogramme“ fließen in das eine Ohr hinein und aus dem anderen hinaus. Wahllos und beliebig werden aus dem reichen CD-Schatz der Klassik und Pseudoklassik Klanghäppchen zusammengesucht und ab und an mit - dieses Unwort ist eine hierarchische Prägung - „Wortinjektionen“ versehen, die kurz und billig und wenig verbindlich sind und gelegentlich hart am product-placement vorbeischrammen. Das unnachahmliche Liebes-Stöhnen der Jane Birkin gleitet über zum Piazolla-Tango, dann Brahms, Theodorakis, Bach, Händel, Haydn, Haydn, Händel, Bach, Schubert, Schumann, Mendelssohn Bartholdy, alles und alle durcheinander, ohne Punkt und Komma, teils mit, teils ohne Ansage, heute früh z.B. zwischen 7 und 8 Uhr im rbb-Kulturradio Carl Philipp Emanuel Bach, Chopin - mit der flockigen Einführung „Die nächsten Minuten gehören dem Walzer“ - dann, Boccherini, Bizet, Tschaikowsky usw. usf.. Oder, ich nehme einen anderen Tag, an dem der vierte Satz der Jupiter-Sinfonie Mozarts mit der Matrosen-Polka von Josef Strauß kollidierte. Das mag ja interessant sein. Nur muss die Hörerin und der Hörer nachher den Eindruck haben, die Gestalter haben sich etwas dabei gedacht, so wie die Kolleginnen und Kollegen vom WDR 3, die am heutigen Rosenmontag zwischen den klassischen Karnevalsmusiken von Saint-Saëns, Grieg, Händel und anderen sehr hintergründig und gekonnt die Motette „Erhalt uns Frieden gnädiglich“ von Mendelssohn Bartoldy erklingen ließen.

In vielen Klassik-Folgen unserer Kulturprogramme dominiert unter dem freundlichen Motto der „Tagesbegleitung“ die Beliebigkeit. Wort und Musik legen sich gegenseitig lahm. Böse Zungen sprechen von Geräuschen mit und ohne Noten. Der hoffentlich nicht beabsichtigte Effekt dieser Methode, die das Radio zur Geräuschkulisse erniedrigt, ist eine durchgehende Entpolitisierung. Absurd, aber wahr: erst wenn die Sonne untergeht und sich der Fernsehschatten über das Radio legt, kommen in nicht wenigen Kulturprogrammen der ARD Wort und Musik, die schönen Stimmen, die „besten Waffen des Menschen“, wie sogar die Bild-Zeitung meint, zu ihrer angestammten Bedeutung. Die Abend- und Wochenendprogramme bilden das öffentlich-rechtliche Alibi. Ein Glück immerhin, dass es sie gibt.

Der Wirt des Ohrwurms: nicht der Durch- und Weghörer, sondern der Hin- und Zuhörer

Wenn ich dafür plädiere, auch tagsüber zu den Ursprüngen zurückzukehren, meine ich keine Regressionen. Ich will nicht in die Babyzeit des Rundfunks zurück, in der der AEG-Ingenieur Hans Bredow als Offizier einer Nachrichtentruppe kleine Unterhaltungsprogramme veranstaltete, um das Personal in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges zu belustigen. Mir schwebt ein Radioprogramm vor, das den gesetzlich geforderten und keineswegs überholten Bildungsauftrag - wieder - ernst nimmt, mit deutlichen Konturen, nicht larmoyant und durchaus witzig, aber bitte nicht dauerfröhlich und seicht. Ich will meinen Ohrwurm wiederhaben, denn dieses kleine possierliche Tierchen - Loriot lässt grüßen - , ist ein Kulturbewahrer in Zeiten rapider Vergesslichkeit. Es ist mir in der Ära der Durchhörbarkeit verlorengegangen. Der Wirt des Ohrwurms ist nicht der Durch- und Weghörer, sondern der Hin- und Zuhörer.

Es mag ja sein, dass die durchhörbaren Begleiter den optimalen Ansatz digitaler Verwerbartkeit bieten. Nur bliebe in dieser Façon Radiokultur auf der Strecke und mit ihr die öffentlich-rechtliche Konstruktion. Kleine Zeichen der Hoffnung sind nicht zu übersehen. Ausbaufähige Mehrminüter schleichen sich in die Tagesbeschallung zurück. Im Kulturradio wurde jetzt um 17.15 Uhr eine Zwölfminutensendung „Der Tag“ eingerichtet, die - angeblich - das Kulturgeschehen spiegeln soll. Und selbst in Supermärkten, Boutiquen, Frisör- und Billardsalons wird auf Wunsch die musikalische Berieselung eingestellt. Mist vergeht, hört man selbst unter Digital-Experten, und Qualität besteht. Hoffentlich haben sie recht. Noch ist der Graben zwischen den öffentlich-rechtlichen und den kommerziellen Angeboten unüberseh- und unüberhörbar. Die letzteren scheuen vor kriminellen Methoden der Hörer-Werbung nicht zurück. In den heutigen Morgenstunden wurde das Publikum eines quoten-erpichten Unterhaltungssenders aufgefordert, in den Kofferräumen abgestellter Autos nachzusehen. Irgendwo seien 4.000 Euro versteckt - der Lohn für den verführten Hörer.

Veröffentlicht am 4. März 2007, mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Lesen Sie außerden:

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„Aus Weghörern müssen wieder Zuhörer werden. Nur so kann sich ein Kulturradio auch als Fels in der Brandung neuer digitaler Massenangebote behaupten“
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Ausführliche Darstellung des Tagungsverlaufs
9. Akademie-Gespräch: Das Radio und die Kultur
Der Weblog der Akademie der Künste, beim GANZEN Werk chronologisch dokumentiert

Von: Den Kulturauftrag ernst nehmen
Bis: K.O.-Schlag für deutsche Kultur in der dritten Runde?
Akademie der Künste Berlin, 19. Februar 2007

Das Radio und die Kultur - Wider die audio-finger-food
Hauptreferat zum 9. Akademie-Gespräch
Von Johannes Wendt, Berlin, 19. Februar 2007

Klaus Staeck: Einführende Worte zum 9. Akademiegespräch
„Öffentlich-rechtlicher Rundfunk hat Kultur als Querschnittsaufgabe wahrzunehmen. Das gesamte Medium muss als Kulturinstrument verstanden werden.“
Akademie der Künste Berlin, Pressemitteilung 28. Februar 2007

Suche im Dschungel
Das Radio und die Kultur - eine Berliner Akademietagung
Frankfurter Rundschau, 21. Februar 2007

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Puristen vs Podcaster: Deutschlands anspruchsvolle Radio-Macher
streiten über die mediale Zukunft, Der Tagesspiegel, 21. Februar 2007

Veranstaltungsankündigung
9. Akademie-Gespräch: Das Radio und die Kultur
Akademie der Künste Berlin, 14. Februar 2007