Das GANZE Werk - Presseschau

19. Februar 2007

Dreizehn Thesen zur Renaissance der politischen Kultur

„Aus Weghörern müssen wieder Zuhörer werden. Nur so kann sich ein Kulturradio auch als Fels in der Brandung neuer digitaler Massenangebote behaupten“

Von Johannes Wendt, Berlin

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1. Die bevorstehende Digitalisierung ist eine Form der Globalisierung, die in den Sendeinhalten fehlt. Wo sind die Redaktionen und die Sendezeiten, die sich kontinuierlich um das Verhältnis zu den armen Ländern kümmern? In Berlin gibt es wie in den anderen Ländern über hundert Nichtregierungsorganisationen, die sich auf den anderen Kontinenten engagieren und mithelfen wollen, die Millenniumsziele umzusetzen. Sie und ihre Projekte kommen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk kaum vor - auch nicht in Multikulti.

2. Die Migranten könnten sich zwar aufgehoben fühlen in der Multikultiwelle, im Funkhaus Europa und den Programmen ihrer Muttersprache. Wichtig ist aber auch, dass die Nicht-Migranten-Gesellschaft die Integrationsprobleme reflektiert, wie es heute morgen zum Beispiel im SWR2 in einem Feature über Schein- bzw. Zweckehen geschehen ist, für viele Zuwanderinnen und Zuwanderer oft der letzte Ausweg aus der Illegalität.

3. Die Kulturprogramme sind nicht dazu da, eine Welt des schönen Scheins aufzubereiten, sondern auch die soziale Wirklichkeit zu reflektieren. Die kulturpolitische Sozialreportage fehlt. Wie leben die Rentner, was geht in den Jugendbanden vor, welche Erfahrungen sammelt das Quartiermangagement?

4. Angesichts der Bildungskrise kommen die Hochschulen, Akademien und Schulen mit ihren alltäglichen Angeboten und Problemen in den Kulturprogrammen zu kurz. Dem Gespräch mit Bernhard Schlink am Sonnabend war zu entnehmen, dass es durchaus Vorbehalte gegen den Elitewettbewerb gibt. Das wird in eigenen rbb-Programmen kaum reflektiert.

5. Die vielfältigen künstlerischen Aktivitäten jenseits der großen events und Festivals, die kleinen Orchester und Chöre, die Maler und Musiker, die Architekten und ihre Entwürfe werden in vielen Kulturprogrammen allenfalls sporadisch wiedergegeben.

6. Nötig ist gerade in der Zeit der digitalen Öffnung eine selbstkritische Medien- und Programmbeobachtung in Kontakt mit den Hörerinnen und Hörern. Warum sollte nicht in der zunehmenden Schar der Rentnerinnen und Rentner eine kompetente Kontrollgruppe gefunden werden, die mehr Zeit hat und mehr leistet, als ein Programmausschuss mit Vertretern, die hart ins Berufsleben und ihre übrigen Funktionen eingespannt sind, leisten kann?

7. Insgesamt ist es nötig, die aussterbende Rasse des recherchierenden, distanzierten, kritischen Journalisten, der klar berichtet und seine Meinung sagt, zum Leben zu erwecken und ihm - mindestens in den Kulturprogrammen - wieder eine Chance zu geben.

8. Dabei sollte das Radio auch in den Kulturwellen seinen Aktualitätsvorsprung und den Vorteil der akustischen Dimension nutzen, die eine besondere Authentizität und Attraktivität hat.

9. Konkurrenten im dualen System sind weniger die kommerziellen Anbieter von Musikkonserven aller Art, sondern viel eher die Printmedien, die ihrerseits online-Redaktionen unterhalten und mit ihrem journalistischen Können ins audiovisuelle Geschäft einsteigen (wollen).

10. Die Digitalisierung bringt eine Vermehrung und Verlängerung der Sendemöglichkeiten und damit womöglich noch mehr Wellen-Wettbewerb, in dem sich die öffentlich-rechtlichen Programme behaupten müssen und können, wenn sie eine qualitative Orientierung bieten. Zahlreiche Ansätze sind da. Sie müssen gepflegt und ergänzt werden, abrufbar, an-, hin- und zuhörbar sein. Aus Weghörern müssen wieder Zuhörer werden. Nur so kann sich ein Kulturradio auch als Fels in der Brandung neuer digitaler Massenangebote behaupten.

11. Dabei ist die regionale Struktur der Medienlandschaft in der Bundesrepublik unverzichtbar; denn gerade das Radio kann und muss die Menschen in ihrer Lebenswelt aufsuchen, um Verständnis werben und sie - natürlich - mit den Traditionen und Sorgen anderer Regionen und Kulturen bekannt machen.

12. Die Formate müssen aufgeweicht werden zugunsten einer besseren Integration und Kommunikation bisher getrennt bedienter Zielgruppen. Die Jungen müssen die Alten, die Alten die Jungen, die Migranten die Nicht-Migranten, die Arbeiter die Arbeitslosen, die Klassikliebhaber die Rapfans kennenlernen. Keineswegs und schon gar nicht leichtfertig sollten die eingespielten öffentlich-rechtlichen Radioprogramme im Zeichen der Digitalisierung eingedampft werden. Sie müssen aber - jedes für sich - im vorbezeichneten Sinn zum Teil gründlich, zum Teil weniger gründlich renoviert und, wie gesagt, politisch und gesellschaftlich relevante Gesamtkunstwerke werden.

13. Dem Wort muss unbedingt mehr Platz und Gewicht eingeräumt werden. Es leidet am meisten unter der Konstellation der Durchhörbarkeit im sog. Tagesbegleitprogramm. Ist das somalische Sprichwort: „Nichts ist sich näher als die Zunge und die Zähne“ auf das Verhältnis von Wort und Musik im Radio anzuwenden? Beide werden eingesetzt, um aus dem Rohstoff, der sie erreicht, einen verdaulichen Brei zu machen. Aber die anspruchsvolle Kommunikation unter Kulturbürgern ist kein Verdauungsvorgang, sondern ein Dialog der Köpfe.

Veröffentlicht am 4. März 2007, mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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Ausführliche Darstellung des Tagungsverlaufs
9. Akademie-Gespräch: Das Radio und die Kultur
Der Weblog der Akademie der Künste, beim GANZEN Werk chronologisch dokumentiert

Von: Den Kulturauftrag ernst nehmen
Bis: K.O.-Schlag für deutsche Kultur in der dritten Runde?
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Das Radio und die Kultur - Wider die audio-finger-food
Hauptreferat zum 9. Akademie-Gespräch
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„Öffentlich-rechtlicher Rundfunk hat Kultur als Querschnittsaufgabe wahrzunehmen. Das gesamte Medium muss als Kulturinstrument verstanden werden.“
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Das Radio und die Kultur - eine Berliner Akademietagung
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streiten über die mediale Zukunft, Der Tagesspiegel, 21. Februar 2007

Veranstaltungsankündigung
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