Das GANZE Werk - Presseschau

Rolle der öffentlich-rechtlichen Medien für die Kultur
Experten-Anhörung in Berlin am 18. April 2005
Stellungnahme von Thomas Frickel, AG DOK

Wichtige Thesen:
• Kultur ist nicht das Sahnehäubchen, nicht die Kür nach erfolgreich absolviertem Pflichtprogramm. In einem öffentlich-rechtlichen Programm muß Kultur alle vier Bereiche - Information, Bildung, Beratung und Unterhaltung - durchdringen. Denn nur der Kulturauftrag stellt das gebührenfinanzierte Fernsehen auf Dauer außerhalb der EU-weit geltenden Marktgesetze.
• Auf die Idee, Gelder aus dem völlig überproportionierten Sport-Etat zur Kultur umzuschichten, ist bis jetzt noch niemand gekommen.
• Wie ist die Ausrichtung der Programme auf Einschaltquoten zu rechtfertigen? Gar nicht. Deshalb wird die Diktatur der Quote ja inzwischen auch gar nicht mehr hinterfragt, sondern jeden Tag von neuem wie eine Monstranz durch die Funkhäuser getragen. HR-Intendant Reitze, zitiert nach der FAZ vom 5. April 2005: "Ich schiele nicht nach der Quote, ich schaue mit der Lupe drauf".
• Es kommt nicht darauf an, Kultur durch zunehmende Popularisierung auf Null-Niveau herunterzuziehen, Zielvorgabe muß vielmehr sein, möglichst viele Menschen zur Kultur hinaufzuführen.

Textpassagen leicht gekürzt

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18. April 2005

In Vorbereitung der Experten-Anhörung in Berlin

Rolle der öffentlich-rechtlichen Medien für die Kultur

Stellungnahme zum Fragenkatalog

  Von Thomas Frickel
AG DOK (Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm)

Einführungstext der AG Dok:
Am Montag, 18. April 2005, widmete sich die vom Deutschen Bundestag eingesetzte „Enquete-Kommission Kultur in Deutschland“ in öffentlicher Anhörung einem Thema, zu dem wir viel zu sagen haben – es geht um „Die Rolle der Kultur in den öffentlich-rechtlichen Medien“. Ein wichtiger Punkt war dabei der Kulturverhinderer „Einschaltquote“, aber auch andere heiße Eisen griff der im Vorfeld der Anhörung an die eingeladenen Experten verteilte Fragenkatalog auf. Neben ZDF-Intendant Markus Schächter und dem amtierenden ARD-Vorsitzenden und BR-Intendanten Thomas Gruber ist zu dieser Anhörung auch AG DOK-Vorsitzender Thomas Frickel als Experte eingeladen worden. Vermutlich basiert diese Einladung auf den Thesen unseres im vergangenen Jahr veröffentlichten Papiers „Qualität statt Quote“, die wir in unserer vorab vorgelegten schriftlichen Stellungnahme noch weiter präzisiert haben. Der kompletten Text dieser Stellungnahme, die unter Mitwirkung anderer Berufsverbände und einiger kritischer Rundfunkinitiativen entstand, findet sich hier. Über die Arbeit der Enquete-Kommission selbst hatte in der AG DOK-Mitgliederversammlung im Februar bereits der Hildesheimer Kultur-Politologe Prof. Dr. Wolfgang Schneider referiert.

Themenblöcke I und II: Abgrenzung und Einordnung

Eine weite Definition des Kulturbegriffes, so wie sie das als Material versandte PPS-Papier vorschlägt, erscheint auf den ersten Blick sympathisch. Ebenso wichtig wäre freilich die Frage, welche Funktion der Kultur in den Medien zufällt. Dient sie dazu, die menschliche Existenz zu spiegeln? Befähigt sie die Menschen, auf der Grundlage ihrer Wahrnehmung des Geschehens eigene Haltungen zu entwickeln und damit am gesellschaftlichen Diskurs teilzuhaben? Ermöglicht sie eine Aneignung der Kulturgeschichte als Voraussetzung und Hilfe beim Erkennen und Verstehen der Welt?

Im Hinblick auf die öffentlich-rechtlichen Medien stellen sich beim Versuch einer Abgrenzung und Quantifizierung kultureller Programme zwei Probleme:

Beispiel:

Die nach dem Muster des börsen-notierten Klassik-Radios frisch reformierte Hörfunk-Welle NDR-Kultur zerlegt klassische Musik in leicht konsumierbare Häppchen - was dazu führt, daß dort innerhalb eines dreiviertel Jahres 16 mal (!) der dritte (und mit rund 6 Minuten zugleich der kürzeste) Satz von Beethovens Eroica-Sinfonie gespielt wurde, während alle übrigen Sätze dieser Sinfonie so gut wie überhaupt nicht vorkamen.

"Durchhörbarkeit" ist das Schlagwort solcher Programm-Reformen, die in der Programm-Statistik vermutlich frech und selbstbewußt als "Kultur" gelistet werden.

In Wahrheit ist das aber keine Kultur, sondern eine moderne Form der Kulturbarbarei.

Diese Methode findet in den Fernsehprogrammen ihre Entsprechung. Hier heißt das entsprechende Unwort "Formatfernsehen". Inhaltliche und ästhetische Gestaltungsfragen treten hinter Kriterien, wie "Wiedererkennbarkeit" und "Verkäuflichkeit" zurück. Die Programm-Verantwortlichen eint eine geradezu panische Angst davor, ihr Publikum zu überfordern. Damit einher geht die Angst, ein Zuschauer könnte möglicherweise umschalten. Um das zu verhindern, werden Filmabspänne verkürzt oder ganz ausgeblendet, Ansagen gibt es schon lange nicht mehr, statt dessen wird das Fernsehpublikum sofort optisch- reißerisch mit dem nächsten Thema angefüttert. Auch in dieser völlig unnötigen Atemlosigkeit kopiert das öffentlich-rechtliche Fernsehen die private Konkurrenz.

Eine eingehendere Betrachtung verdient Frage II / 7

Es fällt auf, daß kreative Arbeit im Programmbereich "Kultur" den öffentlich-rechtlichen Sendern offenbar am wenigsten wert ist. Das ZDF läßt sich einem Bericht der "Zeit" zufolge eine Sendeminute Sport siebenmal mehr als eine Sendeminute Information kosten; eine andere Studie beziffert auf der Grundlage des ARD-Jahrbuchs für das Jahr 1999 die Kosten für Sportprogramme auf 620,6 Millionen (DM); während dem Programmbereich "Kultur und Wissenschaft" im gleichen Jahr nur 85 Millionen zur Verfügung standen. Selbst in den Wetterbericht investiert die ARD pro Sendeminute deutlich mehr als in eine Kultursendung.

Im Bereich Dokumentarfilm/Dokumentation sind die von den Sendern anerkannten Vergütungen für Autoren und Regisseure seit mehr als 30 Jahren kaum gestiegen, während in anderen kreativen Bereichen, vor allem aber im Bereich der Lizenzen im gleichen Zeitraum exorbitante Steigerungsraten akzeptiert wurden.

Ein Programm wie 3-SAT mußte schon immer mit geradezu absurd niedrigen Budgets auskommen - die dort verfügbaren Mittel sind so begrenzt, daß sich die Redaktionen zum Europäischen Kulturjahr in Weimar von den Filmemachern und Produzenten 1999 Kurzfilme schenken lassen wollten.

Und bei ARTE Deutschland wurden gerade jetzt durch alle Redaktionen hindurch die Projektbudgets um 10 bis 15 Prozent gestrichen. Die Filmredaktion von ZDF-Arte kann dem Vernehmen nach bis zum Jahre 2007 überhaupt keine neuen Filme mehr in Auftrag geben, weil man ihr durch einen haushaltstechnischen Trick die Budgets weggenommen hat.

Themenblock III: Programmauftrag

Auch dieser Punkt läßt sich nicht rein quantitativ erfassen.

Bei oberflächlicher Betrachtung werden die öffentlich-rechtlichen Medien natürlich auch hier wieder 300-prozentige Planerfüllung melden und mit Stolz auf ihre Kulturkanäle 3-SAT und ARTE verweisen. Diese reinen Kultur-Kanäle, um die sich noch einige rein digitale Angebote gruppieren, sind wichtig, und es ist gut, daß der absurde Fusions-Vorschlag einiger Ministerpräsidenten wieder in der Schublade verschwunden ist.

Doch ihre Existenz darf nicht gegen kulturelle Versäumnisse in den Hauptprogrammen aufgerechnet werden. Die staatsvertraglich auferlegte Verpflichtung zur Veranstaltung von Vollprogrammen fordert "eine große inhaltliche Variationsbreite, in welcher Information, Bildung, Beratung und Unterhaltung einen wesentlichen Teil des Gesamtprogramms bilden". Kultur ist dabei nicht das Sahnehäubchen, nicht die Kür nach erfolgreich absolviertem Pflichtprogramm. In einem öffentlich-rechtlichen Programm muß Kultur alle vier genannten Bereiche - nämlich Information, Bildung, Beratung und Unterhaltung durchdringen.

Denn nur der Kulturauftrag stellt das gebührenfinanzierte Fernsehen auf Dauer außerhalb der EU-weit geltenden Marktgesetze.

In der Praxis setzen die öffentlich-rechtlichen Sender den Begriff "Vollprogramm" allerdings immer stärker mit "Populismus" gleich und versuchen - man lese und staune - der kritischen Öffentlichkeit ihre auswuchernden Sportgeschäfte als kulturelle Leistung verkaufen: "Der klassische Auftrag richtet sich auf Information und Bildung, auf Kultur und Unterhaltung. Der Sport vereint viele dieser Elemente in sich..." (NDR-Intendant Jobst Plog im Interview mit dem Hamburger Abendblatt am 9. 4. 2005).

Faktisch wird Information, Kultur und Bildung in immer stärkerem Maße dem Sport geopfert. Allein die Sendezeit, die "Das Erste" der Berichterstattung über die "Tour de France" widmete, hat sich im Jahr 1998 mit insgesamt rund 100 Stunden gegenüber den Vorjahren um 1.720 (!) Prozent erhöht, kaum eine Fußballübertragung beschränkt sich noch auch die üblichen 90 (und mit Halbzeitpause 105 Minuten), sondern die blockierte Sendezeit zur Prime-Time hat sich mit nichtssagenden Analysen zwar hochbezahlter, aber unwichtiger Kommentatoren inzwischen auf bis zu 185 und - im Extremfall - auch schon einmal auf 210 Minuten ausgelängt. "Insgesamt und auf das Ganztagesprogramm bezogen, verringerte sich 1998 im Vergleich zu 1997 das Angebot der ARD aus dem Bereich "Politik und Gesellschaft" um 143 Stunden (17 %), den Sportübertragungen wurde im Vergleich dazu 100 Stunden (13 Prozent) mehr Sendezeit eingeräumt." (Aus: Marie-Luise Bernreuther, Sprüche und Widersprüche; Beobachtungen zu Programmstruktur-Veränderungen der öfentlich-rechtlichen Sender am Beispiel der Sportberichterstattung 1994 - 2000). Neuere Statistiken liegen leider nicht vor, sie würden diese Zahlen aber vermutlich noch deutlich übertreffen.

Filmformen, die dem Zuschauer im oben beschriebenen Sinne die Chance lassen, das Gesehene selbst einzuordnen und eine eigene Haltung dazu zu entwickeln, haben in diesem System nur noch geringe Chancen.

Beispiel:

Andres Veiel, mehrfacher Träger des deutschen Filmpreises, hat für die Theaterredaktion des ZDF seine drei ersten großen Filme gedreht. " Winternachtstraum " lief um 22.45, der mit dem Filmband in Silber ausgezeichnete Film "Balagan " begann um Mitternacht, der Film "Die Überlebenden " war für 0 Uhr 5 programmiert - dann wurde die Redaktion, die alle drei Filme ermöglicht hatte, aus dem ZDF-Hauptprogramm ausgegliedert.

Im "Ersten" der ARD macht der klassische "Dokumentarfilm" einer Studie der Landesmedienanstalt Nordrhein-Westfalen zufolge nur noch ein Prozent der dokumentarischen Sendungen aus. Leicht gestricktes "Docutainment" drängt immer stärker in den Vordergrund.

Themenblock IV: Klangkörper und institutionalisierte Kultur

Kürzungen in den Budgets der Kulturkanäle, verstärkter Preisdruck gegenüber Auftragsproduzenten und die angekündigte Auflösung von Chören und Orchestern waren seltsamerweise die ersten unmittelbaren Auswirkungen, die der Gebührenbeschluß in der öffentlichen Debatte nach sich zog. Das beabsichtigte Signal war deutlich: seht her, ihr trefft mit euren Sparauflagen genau die Falschen - nämlich die Kultur.

Diese Argumentation ist unredlich und durchschaubar.

Es kann nicht angehen, daß die öffentlich-rechtlichen Sender ihre Großverdiener vor dem politischen Beschuß in Sicherheit bringen, indem sie die Kultur als lebenden Schutzschild dazwischenschieben.

Offenbar gibt es - bei Finanzierung der Harald-Schmidt-Gage erprobt - innerhalb des öffentlich-rechtlichen Systems durchaus andere Einspar-Potentiale. Nur: auf die Idee, Gelder aus dem völlig überproportionierten Sport-Etat zur Kultur umzuschichten, ist bis jetzt noch niemand gekommen.

Themenblock V: Programmentwicklung

Die Formatierung von Programmen ist im öffentlich-rechtlichen System nicht nur auf Radioprogramme beschränkt, sondern hat längst auch das Fernsehen erfaßt. Derzeit ist sie noch unterschiedlich ausgeprägt. Auf einigen Sendeplätzen (zum Beispiel im Hörfunkprogramm "NDR Kultur" oder in den ZDF-Geschichts-Reihen von Guido Knopp) ist sie bereits erschreckend weit fortgeschritten.

In jedem Fall offenbart sich in dieser Entwicklung ein dem öffentlich-rechtlichen Grundgedanken wesenfremder Trend zur Standardisierung persönlicher "Handschriften", zur Vergröberung und Trivialisierung an sich komplexer gesellschaftlicher Zusammenhänge - und damit einhergehend zur Nivellierung der Unterschiede zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten Medienangeboten.

Die Welt hat sich der Weltsicht der Programm-Strategen zu unterordnen. Sie wird nicht mehr in ihrer teilweise widersprüchlichen Vielfalt und schon gar nicht so gezeigt, wie ein Autor oder Regisseur sie sieht, sondern wie die Programmgestalter sie gerne hätten.

Beispiel I / Fernsehen:

Ein Regisseur, der (für ein öfentlich-rechtliches Programm) einen Film über eine Bergregion in Thailand drehen sollte, bekam genaue Auflagen, was er nicht zeigen durfte: zum Beispiel Einheimische mit Armbanduhren oder solche, die aus Büchsen Cola trinken. Beides war in der betrefenden Region zwar absolut alltäglich, aber es paßte wohl nicht in das gewünschte Bild eines Naturvolks. Ähnliche Geschichten sind im deutschen Fernsehalltag an der Tagesordnung, und die beschriebenen Mechanismen greifen um so massiver, je stärker eine Sendung formatiert ist. Merke: Unser Bild von der Welt entsteht auch durch das, was die Medien uns nicht zeigen wollen.

Beispiel II / Hörfunk:

Eine zufällig ausgewählte Sendestunde des Format-Radios "NDR Kultur" brachte am 5. April acht ohne erkennbaren Zusammenhang durcheinandergewürfelte Musikstücke, sämtlich sogenannte "Klassik-Schlager" - und zwar zumeist erste oder dritte (oft Presto)-Sätze, die zum Teil zum zehnten oder vierzehnten Mal gespielt wurden, während die (zumeist langsamen) zweiten Sätze der gleichen Musik-Stücke auf dieser Welle seit einem Jahr noch nie zu hören waren. Die drei Wortbeiträge dieser Sendestunde waren Eigenwerbungen des NDR für die Großartigkeit des eigenen Programms, für ein parallel laufendes Fernsehmagazin sowie für ein vom NDR produziertes Hörbuch, dessen Titel insgesamt viermal, der Verkaufspreis zweimal erwähnt wurde.

Die Fragen 18 und 19 implizieren eine Verpflichtung, Kultur zu Massenware zu machen. Das ist unseres Erachtens die falsche Zielvorgabe. Natürlich wird es neben Angeboten für kleine interessierte Minderheiten immer auch breitenwirksame Kulturangebote geben - doch letztere zum alleingültigen Maßstab zu erheben, ist eine unzulässige Verkürzung. Es kommt nicht darauf an, Kultur durch zunehmende Popularisierung auf Null-Niveau herunterzuziehen, Zielvorgabe muß vielmehr sein, möglichst viele Menschen zur Kultur hinaufzuführen.

Themenblock VI: Einschaltquoten

Frage 20: EU Beihilferecht

Die Frage bezieht sich augenscheinlich auf Artikel 87 des EU-Vertrages, der staatliche Beihilfen im wirtschaftlichen Bereich nur in klar definierten Ausnahmefällen zuläßt. Zu diesen Ausnahmen zählen (in Artikel 87, Abschnitt 3 d) unter anderem "Beihilfen zur Förderung der Kultur und zum Erhalt des kulturellen Erbes..." Der Europäische Gerichtshof hat die Beihilfe-Bestimmung interpretierend auf alle Maßnahmen bezogen, "die gewährt werden, um spezielle, in der Regel nicht ohne fremde Hilfe erreichbare Ziele zu verfolgen." (EuGH, Slg. 1961, 141 ff; EuGH, Slg. 1974; 709, 718). Demnach soll die Rundfunkgebühr in erster Linie ein Leistungsangebot finanzieren, das zur Grundversorgung der Bevölkerung unerläßlich ist, das aber unter Marktbedingungen keinen Bestand haben könnte.

Ihre in diesen Tagen immer wieder vernehmbare gebetsmühlenhafte Beteuerung, die deutsche Rundfunkgebühr sei ja überhaupt keine Beihilfe, mutet ein wenig an, wie das Pfeifen im Walde. Erfolgversprechender wäre es, wenn die Vertreter des öffentlich-rechtlichen Systems die aktuelle Debatte nutzen würden, um endlich einmal die qualitativen Unterschiede zu privaten Medienunternehmen trennscharf herauszuarbeiten. Doch mit dem offensichtlichen Kampf um Marktanteile, der damit einhergehenden Banalisierung und Niveauverflachung der öffentlich-rechtlichen Hauptprogramme und dem mit Unsummen aus Gebührengeldern finanzierten Wettbewerb um Sportrechte haben sich die Vertreter des öffentlich-rechtlichen Systems in Deutschland ganz offensichtlich selbst in Erklärungsnöte gebracht.

Wer freiwillig und ohne Not Qualitätsprogramme mit einer Elle mißt, die ursprünglich als "gemeinsame Währung" zwischen der werbetreibenden Wirtschaft und dem Privatfernsehen erfunden wurde, um die Kosten von Werbeminuten festzusetzen, braucht sich nicht zu wundern, wenn er von der EU Kommission jetzt nach den gleichen Prinzipien - nämlich denen des freien Marktes - beurteilt wird.

Frage 21: Wie ist die Ausrichtung der Programme auf Einschaltquoten zu rechtfertigen?

Gar nicht.

Deshalb wird die Diktatur der Quote ja inzwischen auch gar nicht mehr hinterfragt, geschweige denn gerechtfertigt, sondern jeden Tag von neuem wie eine Monstranz durch die Funkhäuser getragen. Jeden Morgen versammeln sich die Gläubigen zum Quotengebet. Selbst gestandene Redaktionen sinken in stummer Verehrung vor der Quote auf die Knie, und sie sind sogar stolz darauf. HR-Intendant Reitze, zitiert nach der FAZ vom 5. April 2005: "Ich schiele nicht nach der Quote, ich schaue mit der Lupe drauf".

Und bei der Entwicklung von "Leitsätzen des Fernsehens im WDR" scheiterte kürzlich die von den Redakteuren gewünschte eindeutige Formulierung "Die Qualität hat der Quote vorauszugehen" am Einspruch der Fernsehdirektion. In der zuletzt verabschiedeten Fassung wird das Reizwort "Quote" überhaupt nicht mehr angesprochen, statt dessen stellt Fernsehdirektor Deppendorf im Interview mit der Hauszeitschrift WDR-Print fest: "Es ist auch klar, dass wir in diesem Punkt weiterhin Vorgaben machen werden, wobei der Marktanteil genau so wichtig ist wie die absolute Zuschauerzahl".

Eine private Aktiengesellschaft namens GfK hat Deutschlands Fernsehmacher in eine geradezu sklavische Abhängigkeit gebracht und verkauft den Quotensüchtigen jetzt für gutes Gebührengeld jeden Tag neuen Stoff. So geht das öffentlich-rechtliche Selbstverständnis kaputt, und die Dealer machen Kasse.

"Jeden Morgen schlägt in Deutschland für Programmverantwortliche in Fernsehsendern, Produzenten von TV-Programmen, Mediaverantwortliche der Markenartikelindustrie und für Planer oder Einkäufer bei Werbe- und Mediaagenturen die Stunde der Wahrheit" - nämlich dann, wenn die GfK Fernsehforschung "die Fernsehnutzungsdaten des Vortags übermittelt... Die Ergebnisse geben Aufschluss über die Leistungsstärke eines Senders und seiner Sendungen." heißt es in einer Selbstdarstellungsbroschüre der GfK.

Das ist falsch.

Im öffentlich-rechtlichen Bereich ist die Quotenmessung gerade kein Gradmesser für die "Leistungsstärke eines Senders". Die Leistungsstärke von ARD und ZDF definiert sich vielmehr über den Funktionsauftrag und über den Begriff der Programmqualität.

Die für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk wirklich wichtigen Faktoren sind mit den GfK-Methoden nicht zu erfassen. Zur Beurteilung kultureller Werte, von Bildungsinhalten oder und Programm-Qualität ist die Quotenmessung völlig untauglich. Und in ihrer einseitigen Quotenfixierung sind die Sender bislang offenbar überhaupt nicht auf die Idee gekommen, Instrumentarien zur Evaluierung ihrer Kernaufgaben zu entwickeln.

Frage 24: Die Quote als Entscheidungskriterium

Schon bei der Stoffzulassung wird den verantwortlichen Redaktionen eine "Quotenprognose" abverlangt - und wer möchte angesichts des enormen internen Drucks da schon wiederholt danebenliegen? Für einzelne Sendeplätze gibt es inzwischen klare Quotenvorgaben - so müssen beispielsweise Dokumentationen, die montags um 21 Uhr 45 in der ARD terminiert sind, eine zweistellige Quote erbringen - wenn sie dieses Ziel (wie etwa die grimmepreisgekrönte Reihe "Das rote Quadrat") dreimal verfehlen, fliegen sie aus dem Programm.

Vollends absurd wird es aber, wenn der Quotenfetischismus - wie es zur Zeit massiv geschieht - nun auch noch auf den Kulturkanal arte übertragen wird. Das ist nicht nur ein Anschlag auf den Kulturauftrag, es ist auch methodischer Blödsinn. Denn arte-Quoten zwischen 0,6 und 0,8 Prozent bewegen sich in einem Bereich, der statistisch überhaupt nicht mehr signifikant ist. Mit solchen Zahlen zu operieren und zu argumentieren, ist schlichtweg unseriös. Die von der GfK selbst eingeräumte Fehler-Marge liegt allein schon bei einem Prozent.

Wenn man davon ausgeht, daß von den 5.640 Fernseh-Haushalten, die im Panel der GfK-Zuschauerforschung erfaßt sind, im Tages-Mittel ohnehin nur die Hälfte die Geräte eingeschaltet hat, und zugleich weiß, daß 21 Uhr die Sehbeteiligung rapide abnimmt, wird im Laufe eines Fernseh-Abends die Basis der statistischen Erhebung immer dünner.

Beispiel:

Die arte-Musik-Sendung "musica" hatte nach der GfK-Erhebung über einen längeren Zeitraum hinweg in Deutschland konstant 30.000 Zuschauer. Nach einer Programm-Reform, die den Beginn der Sendung um eine Stunde nach hinten verschob, halbierten sich die Zuschauerzahlen von einer Woche auf die andere um die Hälfte.

Eine Untersuchung dieses Phänomens ergab, daß vor der Sendezeitverschiebung diese Sendung wohl regelmäßig in zwei Haushalten des GfK-Panels gesehen wurde. Einer dieser beiden nahm die spätere Sendezeit nicht an und ging statt dessen lieber früher ins Bett, ohne zu ahnen, daß er damit einen erdrutschartigen Einbruch der Quoten verursachte.

Die Halbierung der Quoten ist ein häufig zu beobachtendes Phänomen, wenn Sendungen auf spätere Plätze verschoben werden - dem "Kultur-Report" der ARD erging es genau so, als er der Christiansen-Runde weichen mußte. Oft werden sinkende Quoten später benutzt, um solche Sendungen ganz aus dem Programm zu drängen. (Wie es zum Beispiel der mehrfach preisgekrönten WDR-Reihe "Gesucht wird" und dem nicht minder gelobten Nachfolge-Format "Die Story" widerfahren ist. "Die Story" konnte von ihren ehedem zehn ARD-Plätzen im letzten Jahr gerade einmal drei behalten - an die Stelle brisanter politischer Fakten treten zunehmend "weiche" Themen - zum Beispiel über das britische Königshaus.)

Inzwischen wurde das GfK-Panel übrigens etwas ausgeweitet, doch jeder erfaßte Haushalt steht immer noch für rund 6.000 andere Haushalte - bzw. für rund 13.000 Zuschauer. Ob die Quotenerfassung noch methodisch sauber und in irgendeiner Weise aussagekräftig ist, wenn bundesweit für eine bestimmte Sendung nur vier, fünf oder sechs Zuschauer erfaßt werden, darf wohl bezweifelt werden - zumal es für die Quotenmessung (anders, als beispielsweise bei den Instrumenten der immer weiter verfeinerten Wahlforschung) keine Gelegenheit zur Überprüfung anhand "tatsächlicher" Ergebnisse gibt.

Themenblock 7: Online-Angebote

Zur Beantwortung dieser Fragen empfehle ich die Seite http://www.ndrtv.de/tv/royalty/talk.html

Fazit:

Wichtiger als alle methodische Kritik an der Quoten-Messung bleibt die Feststellung, daß eine Beurteilung gebührenfinanzierter Hörfunk- und Fernsehprogramme nach Einschaltquoten dem öffentlich-rechtlichen System wesenfremd ist, zumal sie Qualitätskriterien ausschließt und den eigentlichen Programmauftrag von ARD und ZDF ignoriert.

In einem ersten Schritt müßten daher zumindest die Bereiche Kultur und Bildung (und zwar in dem eingangs beschriebenen weitesten Sinne) von Quotenanforderungen freigestellt werden. Für die Kulturkanäle sind Quotenanforderungen ohnehin eine Perversion des Funktionsauftrags, aber auch in den Hauptprogrammen müssen quotenfreie Zonen geschaffen werden, die frei vom kommerziellen Druck des Kampfs um Marktanteile dem Hörfunk und Fernsehen die Freiräume zurückgeben, die sie zur Entwicklung sehens- und hörenswerter Alternativen zu kommerziellen Medienangeboten brauchen.

Nicht durch schleichende Konvergenz, sondern nur durch mutiges Beharren auf seinen Stärken und Besonderheiten kann der öffentlich-rechtliche Rundfunk seine Privilegien in die Zukunft retten.

Quelle: EK-Kultur, Bundestags-Drucksache 15/367

Lesen Sie außerdem:

Bericht von Martin Hufner in der neuen musikzeitung, Nr. 05/05
Öffentlich-rechtliche Medien unter Druck
Öffentliche Meinung und öffentliche Kultur brauchen öffentliche und weit reichende Programme, eben auch zu „guten“ Sendezeiten in den Hauptprogrammen

Ausschnitt aus der Aufzeichnung von PHOENIX, 19. April 2005
Wolfgang Knauer vor der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“
Wenn Klangkörper und Programme wieder enger miteinander arbeiten würden...

Stellungnahme von Wolfgang Knauer (ehem. Wellenchef von NDR Kultur)
Schonungslose Kritik an NDR Kultur im Dienste von Musik und Kultur

Stellungnahme von Stellungnahme von Thomas Frickel, AG DOK
HR-Intendant Reitze: „Ich schiele nicht nach der Quote,
ich schaue mit der Lupe drauf“

Lesen Sie die einzelnen Stellungnahmen der Experten
Bezugsquelle: Deutscher Bundestag, Enquete-Kommission "Kultur in Deutschland", Sekretariat

Lesen Sie die Ankündigung und den Fragenkatalog an die Experten:

Pressemitteilung des Bundestages: Ankündigung und Liste der Experten

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