Das GANZE Werk - Presseschau
Berliner Morgenpost, 28. Januar 2004
Aus Anlass des „Wutanfalls“ von Peter Raue und der Replik von RBB-Intendantin Dagmar Reim
Von geschredderten Sinfonien und veränderten Hörgewohnheiten
Ist das Kulturzerstörung? Oder zerstört sich hier nicht vielmehr eine Kritik mit ihrer Anspruchshaltung, die in den Siebzigern wuchs, selbst?
Von Michael Link
Ein Sturm weht durch die Stadt, ein Proteststurm gegen neue Töne im Äther. „Zum Orkus hinab“ zürnte da, in geradezu alttestamentarischer Strenge, kürzlich Kulturexperte Peter Raue. RBB-Intendantin Dagmar Reim schlug zurück und versprach „Wahrheit statt Wut“. In etlichen Briefen an den RBB machen die Hörer ihrem Unmut über das neue Format Luft.
Worum geht es? Seit 1. Dezember sendet der RBB ein renoviertes Kulturradio. Aus dem alten Einschaltprogramm von RadioKultur und Radio 3 ist in der Zeit von 6 bis 18 Uhr ein Tagesbegleitprogramm geworden. Wo zuvor Sinfonien und lange Lesungen gesendet wurden, sind jetzt kurze Hörstücke, aktuelle Kommentare und Porträts zum Kulturleben, Kulturrätsel, CD-Kritiken und Service-Tipps zu hören. Ergänzt wird das Programm durch halbstündige Nachrichten - ein modernes Radioprogramm. Die Klassik wurde auf kurze Stücke bis zu vier Minuten gestutzt.
Der RBB betreibe „Raubbau an kulturhaltigen Sendungen“, klagen jedoch Hörer wie Raue, die Musiksendungen am Sonntagnachmittag seien „geschreddert“, „die Zerstörung der Klassik zum Frühstück besonders schlimm“. Ein Kulturradio, das Kultur zerstört? Wellenchef Wilhelm Matejka versteht die Aufregung nicht: „Früher wurden wir kritisiert, weil wir zu behäbig und langatmig seien, heute, weil wir abwechslungsreicher und vielfältiger geworden sind“, sagt er. In Wirklichkeit stecke der RBB mehr Geld als zuvor in die Zeit zwischen 6 und 18 Uhr. Zudem wurden alte Formen nach 18 Uhr und am Wochenende kaum angetastet.
Und nun? Soll das Kulturradio zurückkehren zur alten Tradition der Mahler-Sinfonien oder Musikporträts, zu Sendeformen fernab von veränderten Alltagsgewohnheiten der Menschen? Gebietet das der kulturelle Versorgungsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks? Ihn zu goutieren, davon hatten sich die Hörer früher selbst längst schon verabschiedet: Auf die respektable Hörerquote von 0,9 Prozent kam RadioKultur nur noch mit mathematischen Klimmzügen. Maximal 30.000 Hörer pro Stunde erreichten beide Wellen jeweils noch. Zudem war man, welche Schmach für einen Regionalsender in der Kulturmetropole Berlin, vom überregionalen Deutschlandfunk in der Hörergunst überrundet worden. Und dabei die teuerste und personalintensivste Welle, die sich ORB und SFB leisteten. Die Zeit für eine Reform war also überfällig.
3,7 Millionen Euro lässt sich der RBB nun die neue Welle kosten - auch das ist der größte Einzelposten im Radiohaushalt des Senders. Ist das Kulturzerstörung? Oder zerstört sich hier nicht vielmehr eine Kritik mit ihrer Anspruchshaltung, die in den Siebzigern wuchs, selbst?
„Einen Sturm im Wasserglas“ nennt ein RBB-Sprecher die Aufregung. Es ist wahr: Kulturradios sind Nischenprogramme - auch das ein Teil ihres Selbstverständnisses. Dort müssen kulturelle Preziosen einen Platz haben. Man muss aber auch sehen, dass sich der Kulturbegriff erweitert hat. Dem alten RadioKultur liefen auch deshalb die Hörer weg, weil die Form überholt war. Wer hört heute noch von 8 bis 18 Uhr die gleiche Welle? In einer Zeit, in der Menschen die Medien selektiv nutzen, sind sinfonische Dauersendungen überholt. „Unser neuer Auftritt erst setzt die Öffentlichkeit wieder ins Recht, uns wahrzunehmen“, sagt Wellenchef Matejka.
Es muss nicht Fast-Food für Betäubungssuchende sein - davon gibt es in Berlin schon genug -, aber ein ansprechenderes Format kann vielleicht neue Hörer locken. Wer das nicht versucht, hat im Ringen um die Gunst des Publikums schon verloren. Dann wären wir da, wo auch die Kritiker des neuen Kulturradios sicher nicht hinwollen: bei der Kultur als Vergnügen für happy few.
Lassen wir ihn also, den Sturm der Aufregung. Er könnte die Luft reinigen. Damit man genauer hinhören kann. Das wäre ja nicht das Schlechteste, was dem neuen Kulturradio widerfahren könnte.
Lesen Sie: Vom „Wutanfall“ zum Dissonanzen-Quartett
• Zum Orkus hinab - Das neue RBB-Kulturradio hat mit Kultur nichts mehr zu tun
Ein Wutanfall - Der Tagesspiegel, 14. Januar 2004
• Leserbrief: Die Wahrheit in der Wut - Der Tagesspiegel, 18. Januar 2004
• Wahrheit statt Wut - Das RBB-Kulturradio muss Schritt halten mit der Zeit
Eine Replik auf Peter Raue - Der Tagesspiegel, 16. Januar 2004
• Leserbrief: Intendantin Reim reagiert hilflos auf Kritik - Der Tagesspiegel, 25. Januar 2004
• Proteste zum Frühstück - Durchhörbarkeit nicht erwünscht: Radiohörer gegen den RBB
„Mir ist, als hätte ich einen geliebten Menschen verloren“, schrieb ein Leser
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. Januar 2004
• Von geschredderten Sinfonien und veränderten Hörgewohnheiten
Ist das Kulturzerstörung? Oder zerstört sich hier nicht vielmehr eine Kritik mit ihrer Anspruchshaltung, die in den Siebzigern wuchs, selbst?
Berliner Morgenpost, 28. Januar 2004
• Das Dissonanzen-Quartett - Ein Streitgespräch, dass auch am Nachmittag im Kulturradio gesendet wurde - Der Tagesspiegel, 28. Januar 2004
Mit: Christiane Peitz (Journalistin des „Tagesspiegel“ und der „ZEIT“), Joachim Huber (Medien-Redakteur des „Tagesspiegel“), Wilhelm Matejka (Wellenchef von RBB Kulturradio) und Peter Raue (Rechtsanwalt und Kulturförderer)
Dazu zwei Leserbriefe:
• Junges Kulturradio kommt alt daher, Der Tagesspiegel, 30.1.2004
• Furchtbare Erfindung, Der Tagesspiegel, 8.2.2004