Das GANZE Werk - Presseschau

Leserbriefe zum „Wutanfall“ Raues und zur Replik Reims:
Die Wahrheit in der Wut
Intendantin Reim reagiert hilflos auf Kritik

Der Tagesspiegel, 14. Januar 2004

Das neue RBB-Kulturradio hat mit Kultur nichts mehr zu tun

Zum Orkus hinab

Ein Wutanfall

Von Peter Raue

Zwei Beispiele für Zynismus? Der wegen Mordes an seinen Eltern Angeklagte bittet das Gericht um ein mildes Urteil, weil er Vollwaise geworden ist oder: Ein Kulturradio befreit sich ohne Not von seinem Kulturprogramm und erfindet zur Rechtfertigung den Slogan „Kultur gehört zum Leben“. Der neue Slogan, mit dem das Kulturradio RBB den Raubbau an kulturhaltigen Sendungen begründet, ist verräterisch: „Kultur gehört zum Leben“, klingt wie „Zu diesem Rehbraten empfehle ich einen guten Bordeaux“. Kultur ist aber keineswegs nur das Salz in der Suppe, sie gehört nicht nur zum Leben, sondern begründet seine Würde.

Das neue RBB-Kultur-Programm: Verschwunden sind (fast) alle Sendungen, die SFB/ORB zum „Einschaltradio“ machten, zu einem Sender, den man bewusst eingeschaltet hat. „Lustgarten“ und „Belcanto“, „Kultur-Journal“ und „Musikportrait“, die „Galerie des Theaters“ und die „Noten zur Literatur“, „Zeitpunkte“, „Gulliver“, die vielteiligen biografischen Musiksendungen am Sonntagnachmittag - all das ist verschwunden, geschreddert und keineswegs ersetzt durch andere „Sendeformate dieses Niveaus und dieses Informationsgehaltes“. Die Zerstörung der „Klassik zum Frühstück“ ist besonders schlimm. Der frühe Morgen ist jetzt angereichert mit einem Kommentarblock: Irakkrieg also statt kulturelles Leben, das einst von Berlin bis Wien und Paris reichte und darüber hinaus. Auch die Ausstellungsbesprechungen in der neuen Sendung sind ein Graus: Höchstens zwei journalistische Minuten, gefolgt von den Stimmen des Museumsdirektors, des Künstlers und möglichst noch eines Besuchers. Sätzchen, Häppchen ohne Gehalt, Inhalt ohne Kontur. Und dazwischen immer wieder das entsetzlich tönende „Kultur gehört zum Leben“: Nicht auszuhalten!

Der unsinnigste, den Zynismus des neuen Programms belegende „Wandel durch Annäherung“ an Quotentreue ist der Wegfall der morgendlichen (und abendlichen) 30-minütigen Lesung. Dieser Leseblock markierte für mich und viele meiner Freunde über Jahrzehnte hinweg den Tagesablauf: Wie oft sind wir bis um 9 Uhr im Auto sitzen geblieben, um zu Ende zu hören: Peter Wapnewski mit seinen unvergleichlichen Lesungen der mittelhochdeutschen Literatur, dem „Parzival“ des Wolfram von Eschenbach oder der „Tristan“-Lesung des Gottfried von Strassburg. Jutta Lampes Orlando-Lesung. Die Wiederbegegnungen mit Thomas Mann und Theodor Fontane, gelesen von Gert Westphal. Jeffrey Eugenides' „Middlesex“. Das alles wird es nie wieder geben. Dabei haben die Macher von RBB-Kultur die Lesungen nicht einmal ganz verschwinden lassen (sie sind ja so billig), sondern in die vormitternächtliche Stunde entsorgt: Dann sitzt der Kulturmensch im Theater oder schon in der Kneipe oder - halten zu Gnaden - sieht sich Frau Maischberger im Fernsehen an.

Fragt man die Verantwortlichen bei RBB, warum sie dieser Kulturzerstörungswut nicht Einhalt gebieten, lautet die überraschende Antwort: „Weil uns nur noch ein Prozent der Bevölkerung hören will.“ Aber diese Behauptung kann nur ein Vorwand für das neue Kultur-Radio sein und nicht seine Begründung. „Bei den Lesungen haben wir oft nur 2.000 Hörer“, raunt es aus dem Sender. Aber niemand kann uns weismachen, dass von den rund 10.000 Menschen, die täglich in Berlin die Konzerthäuser, Bühnen und Museen besuchen - übers Jahr bevölkern über eine Million Menschen das Kulturleben der Hauptstadt - nur ein Promillesatz sich für ernst zu nehmende kulturelle Sendungen interessiert. Hier besteht vielmehr der Verdacht, dass die angebliche Dummheit des Publikums solange zur Rechtfertigung des neuen Programms missbraucht wird, bis das Publikum wirklich nicht mehr bereit ist, auch nur 30 Minuten lang tatsächlich zuzuhören.

Bis zur Einführung des neuen Programms war das Kulturradio von SFB/ORB einmalig. Heute kann man es von anderen (auch privaten) Klassik-Programmen nicht mehr unterscheiden. Der ohne Not produzierte Kahlschlag erinnert an die Schließung des Schiller-Theaters: Hier wie dort haben die Verantwortlichen ihren öffentlich-rechtlichen Auftrag missverstanden und an einen vorgeblichen Publikumsgeschmack verraten.

Das neue Programm bedeutet für die Hörer den Verlust kultureller Heimat: Das ist kein Ärgernis, sondern eine Katastrophe. Freilich, wissen wir von Hölderlin: „Wo Gefahr ist, da wächst das Rettende auch.“ In Frankfurt ist Ähnliches mit dem Rundfunk geschehen wie in Berlin, und dort geht man bereits den Weg zurück zu ernst zu nehmenden Programmen, die wir gerne als „Einschaltsendungen“ begreifen. Vielleicht verhelfen 20000 Briefe an den RBB doch noch zu der Erkenntnis, dass das kulturelle Programm nicht nur von maximal 2000 Menschen gehört wird.

Ein tröstendes Schiller-Wort lautet: „Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab.“ Klanglos sollten wir das Kulturradio aus SFB-Tagen nicht verschwinden lassen.

Der Autor ist Seniorpartner der Berliner Antwaltssozietät Hogan, Hartson & Raue und spezialisiert auf Kunst- und Urheberrecht

Der Tagesspiegel, 18. Januar 2004

Leserbrief

Die Wahrheit in der Wut

Betrifft: „Zum Orkus hinab“ vom 14. Januar und „Wahrheit statt Wut“ vom 16. Januar 2004

Von Wolfgang Wendt, Berlin-Schöneberg

Überfällig, dass über die erschreckende Entwicklung beim Kulturradio vom RBB öffentlich diskutiert wird. Mag sein, dass Peter Raue zuweilen falsch liegt, wenn er den Irakkrieg aus einem Kulturprogramm verbannen möchte (Kultur ist Spiegel von Politik und Gesellschaft), dass er übertrieben hat, wenn er einen Kahlschlag des bisherigen Sonntagnachmittag konstatiert, aber seine Grundaussage ist leider völlig richtig.

Die Crux mit dem neuen Typ von Programm ist, dass „Kultur“ in Strukturen und Formaten „präsentiert“ wird, die aus den Unterhaltungswellen stammen.

Es wird übersehen (gebilligt? gewünscht?), dass nicht jede Form zu jedem Inhalt passt. Durch andere Formen ändert sich auch der Inhalt. So gerinnt Klassik zur Fast Food, das Kulturradio zum Häppchensender, dem auch so manches Peinliche unterläuft, was witzig gemeint sein dürfte („Was ist besser: Frau oder Mann?“), aber dem jeglicher Esprit abgeht.

Am ausgeprägtesten ist diese Unart, nicht verweilen zu können, Dingen nicht auf den Grund zu gehen, im „Tagesbegleitprogramm“. Symptomatisch ist der Untertitel der Replik von Dagmar Reim: Das Radio muss Schritt halten. Da wird dem Zeitgeist hinterhergelaufen, die Quoten fest im Blick, und es wird offensichtlich gar nicht mehr versucht, als Institution diese Gesellschaft mitzugestalten. Das Radio, ein Kulturradio, sollte seiner Zeit voraus sein.

Lesen Sie: Vom „Wutanfall“ zum Dissonanzen-Quartett
• Zum Orkus hinab - Das neue RBB-Kulturradio hat mit Kultur nichts mehr zu tun
Ein Wutanfall - Der Tagesspiegel, 14. Januar 2004

• Leserbrief: Die Wahrheit in der Wut - Der Tagesspiegel, 18. Januar 2004

Wahrheit statt Wut - Das RBB-Kulturradio muss Schritt halten mit der Zeit
Eine Replik auf Peter Raue - Der Tagesspiegel, 16. Januar 2004

Leserbrief: Intendantin Reim reagiert hilflos auf Kritik - Der Tagesspiegel, 25. Januar 2004

Proteste zum Frühstück - Durchhörbarkeit nicht erwünscht: Radiohörer gegen den RBB
„Mir ist, als hätte ich einen geliebten Menschen verloren“, schrieb ein Leser
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. Januar 2004
Von geschredderten Sinfonien und veränderten Hörgewohnheiten
Ist das Kulturzerstörung? Oder zerstört sich hier nicht vielmehr eine Kritik mit ihrer Anspruchshaltung, die in den Siebzigern wuchs, selbst?
Berliner Morgenpost, 28. Januar 2004
Das Dissonanzen-Quartett - Ein Streitgespräch, dass auch am Nachmittag im Kulturradio gesendet wurde - Der Tagesspiegel, 28. Januar 2004

Mit: Christiane Peitz (Journalistin des „Tagesspiegel“ und der „ZEIT“), Joachim Huber (Medien-Redakteur des „Tagesspiegel“), Wilhelm Matejka (Wellenchef von RBB Kulturradio) und Peter Raue (Rechtsanwalt und Kulturförderer)
Dazu zwei Leserbriefe:
Junges Kulturradio kommt alt daher, Der Tagesspiegel, 30.1.2004
Furchtbare Erfindung, Der Tagesspiegel, 8.2.2004