Das GANZE Werk - Presseschau (Dokumentation)
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. Januar 2004
Durchhörbarkeit nicht erwünscht: Radiohörer gegen den RBB
Proteste zum Frühstück
„Mir ist, als hätte ich einen geliebten Menschen verloren“, schrieb ein Leser
Von Christian Deutschmann
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Nun hat es auch den Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) erwischt. Einem Kulturkampf veritablen Ausmaßes gleichen die Proteste, die mit dem Start des neuen „Kulturradios“ am 1. Dezember vergangenen Jahres über ihn hereingebrochen sind. Und es ist wie überall, wo das Kulturradio wegen gesunkener Quoten und unter dem Slogan einer neuen „Durchhörbarkeit“ geliftet wurde: Das kleinteilige „Tagesbegleitprogramm“ drei- bis vierminütiger Magazinbeiträge sowie einer Auswahl gefälliger Klassikstücke hat nicht nur - wie in dieser Zeitung am 19. Dezember 2003 - die Kulturkritik auf den Plan gerufen, sondern auch die alte Hörerschaft in Harnisch gebracht. Ein neues Publikum hingegen - jene vierzigjährigen Besserverdienenden, die neben dem Lifestyle auch der Kultur verschworen sind, aber angeblich nicht die Ausdauer besitzen, tagsüber mehr als drei oder vier Minuten einem Wort- oder Musikbeitrag zu lauschen - bleibt bislang Phantom.
Es wäre nicht Berlin, kämen nicht einige für diese Stadt typische Besonderheiten hinzu: „Kulturradio“ tritt an die Stelle des wortdominierten „Radio Kultur“, das aus dem Westteil sendete, und von „Radio 3“, einer Klassikabspielstätte, die vorwiegend aus Potsdam kam. Unter den Protestierenden nun findet sich fast ausschließlich die Klientel von weiland „Radio Kultur“, die sich wiederum aus den Stammhörern von „SFB 3“ rekrutiert, das einst als Stimme der kritischen Intelligenz West-Berlins Ruhm genoß.
Verdeutlichen läßt sich dies am Beispiel des jetzt eingestellten Morgenprogramms „Klassik zum Frühstück“. Die „Mutter aller moderierten Klassiksendungen“, in der neben einer Handvoll professioneller Moderatoren auch Größen der Berliner Kultur und Wissenschaft in gepflegtem Plauderton den Tag einleiteten, war im April 1979 erstmals auf Sendung gegangen: Zu Spitzenzeiten hörten nach Senderangaben bis zu fünfunddreißigtausend Hörer zu. Hörer und Macher waren wie eine große Familie, die sich untereinander nicht immer grün ist, aber stets zusammenhält, wenn es Bedrohungen von außen zu bestehen gilt. Als diese sich unter dem Stichwort „Modernisierung“ im Herbst 1993 ankündigten, zeigte sich erstmals, was eine solche Familie vermag. Die „leichten Retuschen“, die Programmchef Wilhelm Matejka damals ansetzte - Einführung von Nachrichtenblöcken, mehr leichte Kost bei der Musikauswahl -, sie genügten, um einen veritablen Sturm zu entfachen. Fast die Hälfte der Moderatoren verließ den Sender. Und von Claudio Abbado bis zum Literaturprofessor Peter Wapnewski reichte die Phalanx derer, die sich einen solchen Eingriff in die Hoheitsrechte von Kunst und Kultur nicht gefallen lassen wollten.
So gleicht das Verschwinden von „Radio Kultur“ dem Schleifen einer Festung durch den Feind. Nicht einmal mehr die halbstündige „Lesung am Morgen“, bis dato ein sakrosankter Bezirk, blieb verschont. Als im vergangenen Herbst die ersten Entwürfe für ein neues RBB-Kulturradio bekannt wurden, wandte sich die Berliner Akademie der Künste gegen die Absicht, „ein Tagesprogramm mit zeitlich minimierten und weit verstreuten Wortbeiträgen an die Stelle von Sendungen treten zu lassen, die sich bisher intensiv und anspruchsvoll mit Themen der Kunst und Kulturpolitik beschäftigt haben“. Seinen jüngsten Gipfel erreichte der Protest in der vergangenen Woche mit einem Beitrag, den der Berliner Rechtsanwalt Peter Raue im Berliner „Tagesspiegel“ veröffentlichte und dem er im Untertitel die Bezeichnung „Ein Wutanfall“ gab. Raue, als Kunstförderer eine Institution des Berliner Kulturlebens, stampfte das ganze neue Programm, an dem ihm das in seiner Monotonie „entsetzlich tönende“ Motto „Kultur gehört zum Leben“, vor allem aber das Verschwinden fast aller gewohnten Sendeplätze aufregte, gleichsam in Grund und Boden.
Unsouverän reagierte Intendantin Dagmar Reim, als sie sich in ihrer Erwiderung zwei Tage darauf diese „Diskreditierung“ verbat, über Wutanfälle im allgemeinen dozierte, doch mit kaum einem Wort auf die Vorwürfe des Niveauverlustes einging. Auch Programmchef Wilhelm Matejka mag nur von „feststehenden Bewertungsmustern“ derer sprechen, die jetzt zu Hunderten ihre Empörung an den Sender weiterreichen.
So haben sich die Fronten verhärtet, während der frische Wind, den die RBB-Chefs in das Programm zu bringen gedachten, ihnen inzwischen als Sturm der kollektiven Entrüstung entgegenbläst. Wird „Kulturradio“ das Schicksal der Preisreform der Deutschen Bahn ereilen? Fast einstimmig durchzieht die Aversion gegen „Häppchen“-Programm und unqualifizierten Moderatorenschwatzton die oft seitenlangen Zuschriften, die Raue erreichten und meistens gleich mit Durchschrift an die RBB-Intendantin abgefaßt wurden. Beim „Tagesspiegel“ (wie auch bei dieser Zeitung) kann man sich nicht erinnern, je eine solche Flut an Leserbriefen zu einem einzelnen Beitrag erhalten zu haben.
Nächste Woche wird ein Streitgespräch zwischen Raue und Matejka im „Tagesspiegel“ zu lesen und im „Kulturradio“ zu hören sein. Daß es gerade das Radio ist, das derartige Energien, ja letzte emotionale Reserven freisetzt („Mir ist, als hätte ich einen geliebten Menschen verloren“, schrieb ein Leser), verwundert nicht. Die Intimität dieses „warmen“ Mediums hat es immer schon zu einem schätzenswerten Gut gemacht. Im Unterschied zu den zappenden Fernsehkonsumenten bleiben Radiohörer meist ihrem Programm treu. Es wird zu einer Heimat, deren Verlust archaische Instinkte wachrufen muß. Genaugenommen haben die Proteste denn auch ihr Gutes. Wann je hätte das Nischenprodukt Kulturradio zugleich mit dem Verbitterungspotential, das sich jetzt artikuliert, eine solche Bereitschaft erfahren, sich für seine Werte einzusetzen?
Lesen Sie: Vom „Wutanfall“ zum Dissonanzen-Quartett
• Zum Orkus hinab - Das neue RBB-Kulturradio hat mit Kultur nichts mehr zu tun
Ein Wutanfall - Der Tagesspiegel, 14. Januar 2004
• Leserbrief: Die Wahrheit in der Wut - Der Tagesspiegel, 18. Januar 2004
• Wahrheit statt Wut - Das RBB-Kulturradio muss Schritt halten mit der Zeit
Eine Replik auf Peter Raue - Der Tagesspiegel, 16. Januar 2004
• Leserbrief: Intendantin Reim reagiert hilflos auf Kritik - Der Tagesspiegel, 25. Januar 2004
• Proteste zum Frühstück - Durchhörbarkeit nicht erwünscht: Radiohörer gegen den RBB
„Mir ist, als hätte ich einen geliebten Menschen verloren“, schrieb ein Leser
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. Januar 2004
• Von geschredderten Sinfonien und veränderten Hörgewohnheiten
Ist das Kulturzerstörung? Oder zerstört sich hier nicht vielmehr eine Kritik mit ihrer Anspruchshaltung, die in den Siebzigern wuchs, selbst?
Berliner Morgenpost, 28. Januar 2004
• Das Dissonanzen-Quartett - Ein Streitgespräch, dass auch am Nachmittag im Kulturradio gesendet wurde - Der Tagesspiegel, 28. Januar 2004
Mit: Christiane Peitz (Journalistin des „Tagesspiegel“ und der „ZEIT“), Joachim Huber (Medien-Redakteur des „Tagesspiegel“), Wilhelm Matejka (Wellenchef von RBB Kulturradio) und Peter Raue (Rechtsanwalt und Kulturförderer)
Dazu zwei Leserbriefe:
• Junges Kulturradio kommt alt daher, Der Tagesspiegel, 30.1.2004
• Furchtbare Erfindung, Der Tagesspiegel, 8.2.2004