NDR Kultur - Beispiele aus der Praxis
NDR Kultur, 17. Juni 2005, ca. 18.15 Uhr, Ein Kalenderblatt
Eine kurze, aber aufschlussreiche Moderation
Aufgezeichnet von unserem Korrespondenten Peter Ahlmann
Flachsinn
Der Moderator erinnert an Eddy Merckx und Dean Martin
„Man merkt ja eigentlich, dass man älter wird nur daran, dass die anderen um einen rum älter werden. Der belgische Radrennfahrer Eddy Merckx, der wird heute 60 Jahre. Ist doch kaum zu glauben, irgendwie ist es doch so, als hätte er erst gestern das Gelbe Trikot getragen. 3x wurde er in den Jahren 67, 71 und 74 Profiweltmeister, er gewann die härtesten Radrennen der Welt, die Tour de France und den Giro d'Italia jeweils 5 Mal. Insgesamt siegte er in 525 Rennen und gilt als der größte Radrennfahrer aller Zeiten.
Geburtstag hätte heute auch Dean Martin, er wäre heute 88 Jahre alt. Er sang ja vorwiegend einhändig, war also so etwas wie ein Einhandsänger, denn ohne Glas hat man ihn selten auf der Bühne gesehen. Tadelnden Zeitgenossen hielt er dann entgegen: ‚Du bist nicht betrunken, solange Du auf dem Boden liegen kannst, ohne Dich festzuhalten.‘“
Warum Eddy Merckx und Dean Martin auf NDR Kultur?
Schauen wir uns - nur wegen des Anspruchs „Kultur“ - beide Meldungen etwas genauer an:
Zunächst fragt man sich, warum überhaupt nur so nebenbei Kurzes über zwei berühmte Menschen dahergeplaudert wird.
Dann fragt man sich, warum die NDR-Kultur-Redaktion ausgerechnet auf diese beiden berühmten Personen gekommen ist, noch dazu mit der ungewöhnlichen Gedenkzahl 88 bei Dean Martin. Im Internet gibt es hunderte von Seiten zu Gedenktagen. Auf die stoßen Sie, wenn Sie bei www.google.de "Eddy Merckx" "Dean Martin" als Suchwörter (mit den angegebenen An- und Ausführungszeichen) eingeben. Eine Standardseite finden Sie bei www.wikipedia.de. Relativ weit unten sehen Sie dort die Geburtstagskinder des 17. Juni, eine lange, lange Liste.
Der Musikliebhaber fragt sich nun, warum nicht statt der 88 die Zahl 123 gezogen wurde: es war der 123. Geburtstag von Igor Strawinski, oder vielleicht auch 187: Charles Gounod wäre 187 oder 88 + 11 + 88 Jahre alt geworden. Von beiden Komponisten sendete NDR Kultur am ganzen Tag kein einziges Werk, auch nicht einen einzigen Satz. Man hätte auch an den 200. Geburtstag von Christian Friedrich Ludwig Buschmann erinnern können. Warum? Er war der „als Erfinder der Mundharmonika geltende deutsche Musikinstrumentenbauer“ (Wikipedia). Da hätte man wenigstens etwas gelernt, aber das soll man ja nicht auf NDR Kultur, man soll unterhalten werden. Allgemein hätten wir auch an das eigentliche revolutionäre Ereignis vom 17. Juni 1789 erinnert werden können, als sich „die Abgeordneten des dritten Stands geschlossen zur Nationalversammlung erklärten“ (Wikipedia).
Ideenquelle: „Kalenderblatt“ der Deutschen Welle
Klicken Sie auf die erste Fundstelle der obigen Google-Suche: „Kalenderblatt - DW World“ und anschließend auf „Alle Geburtstage“. Sie finden oben eine Tabelle mit 8 „Berühmten Personen“, darunter 4 Textfelder mit 4 ausgewählten Berühmten. Sie merken schon, worauf es hinausläuft: 2 der 4 sind... Genau. Venus Williams, Eddie Merckx, Dean Martin und Viktor Platonowitsch Nekrassow. Das ist wohl die Quelle der Texte der NDR-Kultur-Redaktion (oder des Moderators). Das verwundert nicht, die Internet-Seite gehört DW, der Deutschen Welle, die Mitglied der ARD ist.
Dean Martin - nur ein trinkender Sänger?
Kommen wir zur Moderation über Dean Martin. „Er sang ja vorwiegend einhändig, war also so etwas wie ein Einhandsänger, denn ohne Glas hat man ihn selten auf der Bühne gesehen.“ Es ist „Das Letzte“ (DIE ZEIT), sich überhaupt - und dann auch noch mit einem zusätzlichen Wortspiel - über die Krankheit eines Menschen lustig zu machen. Es ist sogar menschenverachtend, ihn nur als trinkenden Sänger zu behandeln. Unkultur.
„In diesem Jahr (1987) verstärkte Dean seinen Tabletten- und Alkoholkonsum. Dean hatte schon in den 50ern angefangen Percodan zu nehmen. Percodan ist ein Schmerzmittel, das eine ähnliche Wirkung wie Morphium hat, und in den 50ern war es bei den Prominenten in den USA nicht unüblich es zu nehmen. Deans Abhängigkeit von Percodan begann Ende der 70er, nachdem er sich seinen Rücken bei seinem Lieblingssport Golf stark verrenkt hatte.“ (www.deanmartin-online.de.vu - Biografie, Seite 3)
„Du bist nicht betrunken, solange du auf dem Boden liegen kannst ohne dich festzuhalten.“ Das vom Moderator genannte Zitat Dean Martins ist jetzt auch nicht mehr weit. Es steht beim „Kalenderblatt“ auf der Startseite für den 17. Juni rechts oben mit dem Zusatz „Dean Martin“ und ist - man staune - das „Zitat des Tages“.
Auf dem „Kalenderblatt“ können Sie dann in dem Textfeld zu Dean Martin einiges Wesentliche zu seinem Leben lesen:
„17.6.1917: Dean Martin (†25.12.1995) Eigentlich Dino Crocetti, US-amerikanischer Schauspieler. Zunächst verdiente Martin seinen Lebensunterhalt u.a. als Schuhputzer, Tankwart und Boxer. Später kamen Auftritte als Popsänger in Nachtlokalen hinzu. 1946 begegnete er in Atlantic City dem Komiker Jerry Lewis, mit dem er von nun an ein sehr erfolgreiches Komiker-Duo bildete. In den 1950er Jahren drehte Martin gemeinsam mit Lewis 16 Filme, die alle sehr erfolgreich waren. Wegen Unstimmigkeiten trennte sich das Duo 1956. Nach der Trennung spielte Martin in Komödien wie ‚Küss mich, Dummkopf‘ (1964) einen eitlen Playboy oder, wie im Western-Klassiker ‚Rio Bravo‘ (1959) den Sheriff. Erfolgreich war er weiterhin auch als Entertainer im Smoking und als Sänger.“
Doppelter Geburtstag
Das ist aber noch nicht alles zu der Bemerkung des Moderators über Dean Martin. Wenn Sie auf die beiden Links im Textfeld
• us.imdb.com/Name?Martin,+Dean... „Dean Martin in der ‚Internet Movie Database‘“ oder
• www.deanmartinfancenter.com... „Eine Fansite mit allen wünschenswerten Informationen und vielen Fotos“ klicken oder wenn Sie der Spur der
• ZEIT folgen,
dann stoßen Sie jedes Mal auf das Datum 07. Juni 1917:
• „7 June 1917 Steubenville, Ohio, USA“,
• „was born on June 7, 1917 in Steubenville, Ohio at 11:55 PM“ und
• „geboren als Dino Paul Crocetti am 7. Juni 1917 in Steubenville, Ohio“
NDR Kultur und der Moderator feiern also am 17. Juni den 88. Geburtstag Dean Martins, sein Geburtstag ist aber auch... Dean Martin sang also nicht nur „vorwiegend einhändig“, er feierte auch jedes Jahr doppelt Geburtstag - angeblich. Diese Einmaligkeit hätte NDR Kultur wegen der Pointe unbedingt bringen müssen. Schade.
Was ist nun richtig? Zur Ehrenrettung für das „Kalenderblatt“ und damit auch für die NDR-Kultur-Redaktion (oder für den Moderator) haben wir herausgefunden, dass die renommierte „Encyclopædia Britannica“ als Geburtsdatum für Dean Martin den 17. Juni 1917 nennt. Das war wahrscheinlich - ungeprüft - der Ausgangspunkt für viele Tabellen und schließlich für die vielen Gedenkseiten zum 17. Juni im Internet.
So weit ist die NDR-Kultur-Redaktion (oder der Moderator) erst gar nicht vorgestoßen. Für den NDR wäre es ein Leichtes gewesen, mit seinen Materialien von und über Dean Martin den wirklichen Geburtstag festzustellen. Man hat einfach beim „Kalenderblatt“ (oder einer Kopie davon) abgeschrieben, höchstwahrscheinlich einen Fehler (Referenz: Dean Martin Committee in Steubenville, seiner Geburtsstadt). Fertig.
Eddy Merckx - Klassiker-Gewinner...
Und das zweite Geburtstagskind, Eddy Merckx? Bleiben wir doch bei der Quelle, dem „Kalenderblatt“:
Kalenderblatt | NDR Kultur | |
„Er wurde drei Mal, in den Jahren 1967, 1971 und 1974 Profiweltmeister. Bis Mitte der 1970er Jahre gewann er das härteste Straßenradrennen der Welt, die Tour de France, und die Italien-Rundfahrt, den Giro d'Italia, jeweils fünf Mal. Der ‚größte Radrennfahrer aller Zeiten‘...“ | „3x wurde er in den Jahren 67, 71 und 74 Profiweltmeister, er gewann die härtesten Radrennen der Welt, die Tour de France und den Giro d'Italia jeweils 5 Mal. Insgesamt siegte er in 525 Rennen und gilt als der größte Radrennfahrer aller Zeiten.“ |
Wenigstens nicht 1:1 abgeschrieben. Die zusätzliche Zahl 525 ist im Übrigen schnell recherchiert. Eddy Merckx als Idol auszusuchen ist ARD-mäßig sehr geschickt, läuft doch im Ersten seit der Woche die intensive Vorwerbung für die Tour de France, die überproportional im Ersten vorkommen wird. Und Eddy Merckx ist auch heute noch ein begehrter Kommentator.
... und unvergessen
Bleibt noch die Pointe zu Eddy Merckx. „Der belgische Radrennfahrer Eddy Merckx, der wird heute 60 Jahre, ist doch kaum zu glauben,“
• „irgendwie ist es doch so, als hätte er erst gestern das Gelbe Trikot getragen.“ (Moderator)
• Irgendwie ist einem so, als hätte Willy Brandt erst gestern - nach dem ÖTV-Tarifstreik, dem Streit mit Herbert Wehner und der Enttarnung von Günter Guillaume - seinen Rücktritt als Bundeskanzler erklärt (1974) - und morgen wählen wir...
• Irgendwie ist es so, als hätte es gestern noch Musiksendungen mit vollständigen Werken, ohne NDR-Eigenwerbung, ohne flache Moderation und ohne nervigen Jingle gegeben. Nein! Das ist schon viel zu lange her.
Die strenge Formatierung fördert den Hang zur Trivialisierung (Wolfgang Knauer)
Das neue Sendekonzept von 2003/04 ist verantwortlich für solche Gedenkworte zum 17. Juni. Das „Format“ sieht ein festes Sendplätzchen für Gedenktage vor. Schnell her mit dem „Kalenderblatt“, flott zwei Personen herausgefischt und die Passagen zurechtgebastelt, dazu „irgend“-welche neckischen Kalauer - einen tieferen Sinn soll das nicht geben.
In dem Bericht aus Celle wurde 70 Minuten vorher während der gleichen Sendung auf NDR Kultur berichtet,
• der NDR stehe für „Professionalität“
• wenn man sich die kommerzielle Konkurrenz ansehe, so würden wohl eher dort die Geschmacksgrenzen leidenschaftlich getestet (NDR-Intendant Plog).
Nicht erst seit den Kalenderblüten des Moderators sind irgendwie begründete Zweifel angebracht.
Lesen Sie alle Beiträge zu den Sendungen von NDR Kultur am 17. Juni 2005:
Wortbeiträge von NDR Kultur „auf der Goldwaage“
Gütesiegel der Professionalität? Schutz vor Geschmackslosigkeiten?