Korrespondenz mit NDR Kultur

Nach dem Brief von Michael Schreiber, Musikchef von NDR Kultur, an den Hörer Theodor Clostermann (26. Februar 2004) und einem Telefonat zwischen beiden (März 2004):

Wir haben eine Aussprache und eine eventuelle Beschlussfassung zum Thema NDR Kultur auf der Tagesordnung

Brief an Frau Mirow zur Vorbereitung der
Mitgliederversammlung der Hamburger Telemann-Gesellschaft

Ich bitte Sie, uns wenn möglich Informationsmaterial über demoskopische Umfragen sowie inhaltliche Begründungen
für das neu praktizierte Konzept zu schicken

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Hamburger
Telemann-Gesellschaft

Gesellschaft für Kulturgeschichte Hamburgs im 18. Jahrhundert

Reinbek, 16. April 2004

Sehr geehrte Frau Mirow,

am Sonntag, dem 25. April 2004, findet die diesjährige Midgliederversammlung der Hamburger Telemann-Gesellschaft statt, deren Vorsitzender ich seit einem Jahr bin. Wegen des Unmuts unter unseren Mitgliedern zum neuen Programm von NDR Kultur von 6 bis 19 Uhr haben wir auch eine Aussprache und eine eventuelle Beschlussfassung zum Thema NDR Kultur auf der Tagesordnung.

Zu diesem Thema hat mir vor kurzem Herr Michael Schreiber in einem Brief geschrieben:

„Es musste (...) etwas verändert werden, damit mehr Menschen von uns erreicht und angesprochen werden können. Dabei geht es ausdrücklich um Hörer, die sich für Klassik und Kultur interessieren, also nicht um die sogenannte ‚Masse‘! Das Hörverhalten hat sich insgesamt verändert. Dem müssen wir Rechnung tragen, ansonsten spielen wir bald vor einem leeren Saal!“

Für unsere Diskussion ist es sicherlich interessant, genauere Informationen für die Aussage im vorletzten Satz zu kennen. Herr Schreiber fühlte sich dafür nicht mehr zuständig, und deshalb bitte ich Sie, uns wenn möglich

a. Informationsmaterial über demoskopische Umfragen zum Hörverhalten und Hörerwünsche zu NDR 3 bzw. NDR Kultur sowie
b. inhaltliche Begründungen für das neu praktizierte Konzept

zu schicken.

Soweit unser Anliegen als Gesellschaft.

Erlauben Sie mir, einige persönliche Anmerkungen anzuschließen.

Ich fände es eine gute Sache, wenn eine öffentlich Diskussion zu diesem Thema stattfände, zum Beispiel in Form einer Podiumsdiskussion in Hamburg, zu der auch über das „Hamburger Abendblatt“, die „Hör zu“, Kantoreien usw. aufgerufen werden könnte.

Wenn man mehr Hörer erreichen will, muss man sie doch nicht alle einem gleichen Schema unterwerfen. Diejenigen „Hörer, die sich für Klassik (...) interessieren“ und die Ihrem Konzept nicht folgen wollen, das Sie entwickelt haben für „die Hörer, die sich für (...) Kultur interessieren“, sind gezwungen - erst recht angesichts der faktischen Monopolstellung des NDR in einem großen norddeutschen Raum -,
- das fast durchgehende Reduzieren von Kompositionen auf einen einzigen Satz,
- die Informationsarmut zu Musikstücken und
- viele Reportagen ohne Bezug zur gehörten Musik
hinzunehmen.

Warum bietet man zum Beispiel nicht zweierlei: längere Sendungen, in denen Musikliebhaber die Kunst von Komponisten und Interpreten ohne Hektik und Wichtigtuerei genießen können, und längere Passagen für die vermeintlich gefundene neue Zielgruppe der „Hörer, die sich für Klassik und Kultur interessieren“ (Kultur in Ihrem Sinne)? Dann könnten auch Höreranalysen später verdeutlichen, wie die Akzeptanz bei den Hörern wirklich ist.

Wie hat man überhaupt die eine Zielgruppe herausgefunden, die von den Verehrern für Johann Sebastian Bach bis hin zu den Interessenten an Reportagen aus dem Kinoleben (ganz oft Hollywood-Reportagen) oder an Reportagen über Prominente (der verschiedensten Art, nicht nur aus dem „Kultur“-Berech) reicht? Warum muss ich mir, wenn ich Alte oder Klassische Musik hören will, im Extremfall eine Reportage „über die neue Staffel ‚Sex and the City‘“ von Pro Sieben anhören (so geschehen)? Aus der soziologischen Forschung der Lebensstile in Deutschland ist mir eine derartige Mischung nicht bekannt. Krass ausgedrückt: man kann doch Schickimicki und aufrechte Musikliebhaber nicht in einen Topf werfen!

Wie begründet man in seiner Auswirkung auf die Hörer die 3 Prioritäten, die bei Musikstücken praktiziert werden: 1. wenn die Nachrichten vorbei sind, kommt normalerweise nach dem Jingle die Information über den Moderator und keine Information über das folgende Musikstück, 2. wenn der Jingle eingespielt wird, folgt normalerweise keine Information über das folgende Musikstück, ein Satz Musik schließt sich also direkt an, 3. wenn nach einem Musikstück eine Reportage folgt, gibt es schon vor dem Musikstück eine Ankündigung für die Reportage - auf Kosten der Information über das Musikstück? Wenn ein Musikliebhaber erwartet (wie es andere ARD-Kultursender normalerweise auch machen), dass er vor einem Stück darüber aufgeklärt wird, was von wem gespielt wird, und wenn er dann mit dem Hören des Namens des Moderators/der Moderatorin, des Jingels und von sonstigen Ankündigungen enttäuscht, frustriert wird, dann werden diese drei Dinge doch immer mehr negativ besetzt. Ist dies den Programmmachern, die diese drei Punkte so aufdringlich betreiben, nicht bekannt?

Wie begründet man die Informationsarmut zu den Musikstücken, nicht nur die oft fehlende vor einem Musiksatz, sondern auch die zu knappe und zu hastige Information nach dem Satz? Da spielt - zum Beispiel heute - Tabea Zimmermann angeblich alleine einen Satz aus einem Konzert (in einer bestimmten Tonart) von Carl Stamitz. Will man den Hörer davor schonen, dass er zu viel über die Musik hört? Das würde bedeuten, dass man ihn in seinem Interesse an der Musik nicht ernst nimmt und ihm unterstellt, dass für ihn die Musik nur zum Abdudeln da ist. Und wie steht es dann mit dem öffentlich-rechtlichen Auftrag zu Bildung und Kultur? Warum werden Werknummern für die Musik der Zeit vor Beethoven und Joseph Haydn fast gar nicht mehr genannt? Da wird zum Beispiel gemeldet, dass man den ersten Satz „des“ Konzertes in C-Dur für Fagott und Orchester von Vivaldi gehört habe, obwohl es laut älterem RV-Verzeichnis deren mindestens 14 gibt.

Eine Konzentration der Ungeschicklichkeiten hat mir heute nachmittag in den Ohren richtig wehgetan. Nach dem Jingle ist ohne Übergang der erste Satz eines - besonders schönen - Konzertes von Vivaldi zu hören, hinterher erfährt man, dass „die Virtuosi Saxoniae unter Ludwig Güttler den ersten Satz des Konzertes für multi strumenti“ gespielt haben. Das Konzert ist in C-Dur; in C-Dur gibt es noch mehr Konzerte dieser Art; es hat die außergewöhnliche Solo-Besetzung von 2 Violinen in tromba, 2 Blockflöten, 2 Trompeten, 2 Mandolinen, 2 Schalmeien (bei Güttler: Klarinetten), 2 Theorben und ein Violincello; je nachdem, wie eng man es sieht, gibt es von Vivaldi zwischen 5 und 30 concerti per molti strumenti. Wie anders war doch die Moderation von Hans-Heinrich Raab einmal in den 90er Jahren in einer Matinée, als er das ganze Konzert, gespielt unter Bernstein, richtig einführte!

Mit freundlichen Grüßen

gez. Theodor Clostermann

Drei Nachträge zu den folgenden Ereignissen:

1. Tatsächlich rief Frau Mirow am 22. April 2004 Herrn Clostermann an und ging auf einige Kritikpunkte ein (zum Beispiel: „Redundanzen“, das heißt unnötige inhaltliche Wiederholungen, müssten vermieden werden), bis sie bei einem internen NDR-Anruf das Gespräch beendete.

2. Ihre Absicht bestand darin, die Beschlussfassung zu NDR Kultur zu verhindern. Dafür bot sie ein persönliches Gespräch unter vier Augen an. Dazu schrieb Herr Clostermann in der Antwort an NDR-Intendant Prof. Jobst Plog (30. Mai 2004), Teil 3:

- Telefonanruf von Frau Mirow am 22.4.2004 (Donnerstag): ihre Weigerung, Material herauszugeben, ihr Vorschlag für ein Gespräch zwischen mir und ihr, ihre Bitte, unseren Beschluss zu NDR Kultur erst nach diesem Gespräch in Erwägung zu ziehen, mein Einverständnis zu einem solchen Gespräch, mein Hinweis darauf, dass es für die Bitte zu spät sei und dass der Tagesordnungspunkt - wie in den internen Unterlagen verschickt - aufgerufen werde.

- 25.4.2004: einstimmiger Beschluss der Resolution auf der Mitgliederversammlung, 28.4.2004: Veröffentlichung des „Hamburger Abendblatts“, eine Woche später Absage von Frau Mirow zu dem vereinbarten Gespräch („Zur Zeit kein Bedarf“).

3. Die weitere Auseinandersetzung mit dem NDR-Intendanten Prof. Jobst Plog führte dann zur Gründung des Initiativkreises Das GANZE Werk (15. Juni 2004).