Das GANZE Werk - Presseschau
Zitate:
Unterdessen lassen sich die Hörer die Verflachung des öffentlich-rechtlichen Radios nicht mehr gefallen und organisieren Widerstand. (...)
Eine Hörerinitiative, die von zahlreichen Prominenten unterstützt wird, will die BR-Sendung Zündfunk auf einer bayernweiten UKW-Frequenz erhalten. In Hamburg haben sich nach den Programmreformen des NDR mehr als 1.900 Hörer zusammengeschlossen, die sich für den Erhalt kultureller Standards einsetzen und verlangen, dass tagsüber mindestens vier Stunden ganze Werke gesendet werden und nicht nur aus dem Zusammenhang gerissene Sätze.
INSIGHT, Markt & Management für Journalisten, Juni 2006
RADIO-SPECIAL
Hört die Signale!
Die deutsche Radiolandschaft steht vor großen Herausforderungen: Die Digitalisierung schreitet nur langsam voran, viele Sender - allen voran die Jugendwellen – verlieren Hörer. Multimediahandys und iPods drängen auf den Markt. Wie reagieren die Sender? Welche Programme sind zukunftsträchtig? Was versteht man unter Visual Radio? Das INSIGHT-Special beleuchtet den Markt aus verschiedenen Perspektiven.
Es folgt der erste der vier Artikel des Specials.
Zwischen Qualität und Quote
Von Christoph Mulitze
Originalansicht (Pdf - 215 kb) |
Deutschland krankt an akustischer Einheitsbeschallung – die Mainstream-Sender im Radio ähneln einander oft bis zur Unkenntlichkeit. Doch ein Umdenken hat begonnen.
B |
eim Deutschlandfunk dürften die Sektkorken geknallt haben, als die Zahlen zur Reichweitenuntersuchung für das Jahr 2005 bekannt wurden: Noch nie in seiner Geschichte hatte der wortlastige Sender mit Sitz in Köln mehr Hörer als im vergangenen Jahr. 1,3 Millionen Menschen schalteten an einem durchschnittlichen Tag den Deutschlandfunk ein, was einem Anteil von zwei Prozent entspricht. „Das hat sicherlich auch mit dem Qualitätsabfall der anderen Sender zu tun“, vermutet Rainer Burchardt, bis März Deutschlandfunk-Chefredakteur und seitdem Professor für Medien und Kommunikation an der Universität Kiel.
Unterschiedliche Geschmäcker
Die Reichweitenuntersuchung der Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse (ag.ma) zeigt für das erste Quartal 2006 allerdings keinen einheitlichen Trend: Sowohl Sender mit hohem Wortanteil als auch private Stationen, die ein Mainstream-Programm mit Mainstream-Musik ausstrahlen, haben zugelegt oder wenigstens nicht verloren. Wie lässt sich das erklären? „Unterschiedliche Geschmäcker“, sagt Jan Henne de Dijn, Geschäftsführer der Hamburg Media School, lapidar. „Die einen wollen vom Medium Radio eben unterhalten, die anderen informiert werden.“ Mit „Unterschichtenradio“ oder „Bildungsschere“ habe das wenig zu tun.
Fast durchgängig als Verlierer der Studie können eigentlich nur die öffentlich-rechtlichen Jugendwellen bezeichnet werden. Vielleicht eine Folge der Angleichung an die private Konkurrenz. Das beginnt schon mit den Sendernamen: Niemand soll auf die öffentlich-rechtliche Herkunft, die bei der Zielgruppe ein spießiges Image hat, schließen können. So ist zum Beispiel auch nach stundenlangem Hören von Eins Live nicht zu erfahren, dass sich dahinter der WDR verbirgt. Noch besser versteckt sich der NDR hinter N-Joy. Auf den Internetseiten findet sich erst im Impressum ein Hinweis auf den Muttersender.
Im Gleichklang
Die akustische Einheitsbeschallung betrifft nicht nur die Jugendwellen: Fast überall klingen die Moderatoren gleich, ihre Intonation klingt gleich, ihre Sprüche klingen gleich, die Beiträge klingen gleich, die Musik klingt gleich. „Die Privaten sind aber authentischer. Unser Kontakt zu den Hörern ist enger, unsere Ansprache gibt das Signal: Ihr seid auf Augenhöhe“, sagt Elke Schneiderbanger, Geschäftsführerin und Programmdirektorin von Radio NRW, dem Rahmenprogramm-Anbieter der NRW-Lokalradios. Erst kürzlich habe sie gehört, erzählt Schneiderbanger, wie der Moderator eines öffentlich-rechtlichen Senders einen Studiogast gebeten habe, das eben Gesagte für die „Leute draußen“ noch einmal zu erklären. „So von oben herab behandeln wir unsere Hörer nicht“, meint die Programmdirektorin, die mit Radio NRW auf einer Erfolgswelle schwimmt. 33,2 Prozent aller mindestens 14-Jährigen haben an einem durchschnittlichen Werktag im ersten Quartal dieses Jahres Radio NRW oder den jeweiligen Lokalsender eingeschaltet. Damit konnte der Marktführer erneut alle fünf WDR-Wellen abhängen, die zusammen bei leichten Verlusten auf 53 Prozent kamen
.Eminem auf dem Index
Insgesamt hören 80 Prozent aller Bundesbürger täglich Radio – im Durchschnitt mehr als vier Stunden. Diese Werte sind seit Jahren stabil und belegen laut ag.ma, dass das Radio als Begleitmedium genutzt wird. Es läuft nebenbei, etwa während der Arbeit. Und manchmal wird das, was dort gesendet wird, auch zur Kenntnis genommen. Vor allem dann, wenn es akustische Ausreißer gibt – etwa Interpreten, die polarisieren und daher zum Um- oder Ausschalten veranlassen. Solche Künstler, seien sie auch noch so erfolgreich, stehen deshalb bei vielen Sendern auf dem Index. Eminem ist so ein Beispiel.
Welche Titel gespielt werden, entscheidet die Marktforschung: Probanden der Zielgruppe testen und bewerten neue Lieder. Die besten Songs kommen in die Power-Rotation, einige für ein halbes Jahr, andere – vor allem deutschsprachige Titel, weil sie stärker auffallen – für wenige Wochen. Rund zehn Lieder befinden sich permanent in der Power-Rotation. „Es gibt Sender, die spielen sie bis zu 50-mal in der Woche. Bei uns ist 18- bis 20-mal die Regel“, sagt Radio-NRW-Programmdirektorin Schneiderbanger. Nach der Power-Rotation fallen die Hits erst einmal komplett aus dem Programm. Nach einem Jahr werden sie noch einmal getestet. Bei guten Ergebnissen werden sie dann wieder gespielt. Nicht mehr so häufig wie in der Power-Rotation, aber immerhin.
Folgenlose Unkenrufe
Manche Privatsender arbeiten überhaupt nur mit 150 Titeln – und sägen damit an ihrem eigenen Ast. In Zeiten von MP3-Player und iPod, mit denen sich jeder seine eigene, viele tausende Titel umfassende Playlist selbst zusammenstellen kann, werden Sender mit beschränkter Musikauswahl und noch beschränkteren Wortbeiträgen nicht mehr gebraucht. „Ein Umdenken wird dort nötig sein. Aber das betrifft nicht nur die Privatsender, sondern auch die öffentlich-rechtlichen, die sich in den vergangenen Jahren der kommerziellen Konkurrenz zu stark angeglichen haben“, betont Rainer Burchardt. Elke Schneiderbanger sorgt sich nicht wegen der technischen Entwicklung. „Wie oft wurde dem Radio schon das Ende prophezeit?“, fragt sie rhetorisch. Vor Jahren habe es mal geheißen, Trends würden künftig nur noch übers Musikfernsehen laufen. „Nun ist Viva so gut wie weg, und MTV zeigt Soaps“, so Schneiderbanger. Außerdem: „iPod-Nutzer müssen ja irgendwoher die Trends kennen. Deshalb werden sie auch weiterhin Radio hören.“
Nische hat Zukunft
Das mag sein. Etwas mehr Inhalt und Unverwechselbarkeit schadet aber sicherlich nicht, wie einige Senderchefs längst begriffen haben. Zu den positiven Ausnahmen zählen beispielsweise Radio Eins vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) und der Informationssender WDR 5, die nicht versuchen, mit den Privaten zu konkurrieren und trotzdem - oder gerade deshalb - Quotenerfolge erzielen.
Jan Henne de Dijn, Geschäftsführer der Hamburg Media School, sieht vor allem in den Spartenprogrammen noch reichlich Potenzial. | Elke Schneiderbanger von Radio NRW hat vor der digitalen Zukunft keine Angst: „iPod-Nutzer müssen ja irgendwoher die Trends kennen. |
Organisierter Widerstand
Für Burchardt, dem es als Chefredakteur gelungen ist, die Hörerschaft des Deutschlandfunks innerhalb von zehn Jahren zu verdoppeln, könnten die öffentlich-rechtlichen Radioanstalten am Abend, nach 20.30 Uhr, noch zulegen. „Für die 19 gehobenen Hörfunkprogramme, das sind die alten Kultursender, würde ich mir eine gemeinsame Wortwelle in der Nacht wünschen mit einem ,Best of. Dort würden die Höhepunkte des Tages - Beiträge, Interviews, aber auch Musik - von allen Sendern noch einmal gespielt“, so Burchardt. In seiner Zeit als Chefredakteur hat er das schon einmal angeregt - erfolglos.
Unterdessen lassen sich die Hörer die Verflachung des öffentlich-rechtlichen Radios nicht mehr gefallen und organisieren Widerstand. Die umfassenden Programmreformen im Hessischen Rundfunk entpuppten sich als kulturpolitischer Kahlschlag, mit dem der HR die Lücke zwischen Dudelfunk und Hochkultur vergrößere, heißt es zum Beispiel auf der Internetseite www.rettedeinradio.de. Eine Hörerinitiative, die von zahlreichen Prominenten unterstützt wird, will die BR-Sendung Zündfunk auf einer bayernweiten UKW-Frequenz erhalten (www.zuendfunk-retten.de). In Hamburg haben sich nach den Programmreformen des NDR mehr als 1.900 Hörer zusammengeschlossen, die sich für den Erhalt kultureller Standards einsetzen und verlangen, dass tagsüber mindestens vier Stunden ganze Werke gesendet werden und nicht nur aus dem Zusammenhang gerissene Sätze (www.dasganzewerk.de).
So löblich das Engagement der Hörerinitiativen auch sein mag - schaut man auf die nackten Zahlen, liegen die Programmchefs mit ihren Reformen gar nicht mal so daneben. Die Welle NDR-Kultur beispielsweise konnte ihren Marktanteil im vergangenen Jahr auf niedrigem Niveau steigern.
Christoph Mulitze ist freier Autor in Düsseldorf mit den Schwerpunkten Politik, Wirtschaft und Karrierethemen. mulitze@dasmedienbuero.de
-
Lesen Sie dazu das ZEIT-Dossier
Rettet das Radio!
Gibt es Hoffnung?
Radio Hamburg
NDR Kultur und NDR Info
Zündfunk beim Bayerischen Rundfunk (BR2)
Radio Eins in Potsdam
Deutschlandradio Kultur
Motor FM in Berlin
Radio Teddy in Berlin
DAB-Radio (Digital Audio Broadcast)
Klassik Radio - Anne-Sophie Mutter stört
Quelle: www.zeit.de/2005/09/RettetdasRadio
DIE ZEIT, 24. Februar 2005