Das GANZE Werk - Presseschau
WELT am SONNTAG, 27. Februar 2005
Ich wünsche mir, daß Menschen in der Schule musikalisch erzogen werden, um zu erkennen, wie limitiert das Radio-Gedudel ist.
"Klassik ist eine elitäre Musik"
Der größte Komponist der Gegenwart wird 80: Pierre Boulez über Klassik, Pop und die Zukunft der Musik
Einst wollte Pierre Boulez Opernhäuser in die Luft sprengen. Heute ist der Klassik-Provokateur etwas besonnener und will vielleicht sogar eine Oper schreiben.
Welt am Sonntag: Herr Boulez, wenn man in 100 Jahren über klassische Musik unserer Zeit redet, worüber wird gesprochen: Über Madonna oder Pierre Boulez?
Pierre Boulez: Vielleicht geht es dann nicht um mich, aber mit Sicherheit auch nicht um Madonna. Es ist eine Illusion, daß klassische Musik populär war. Sie hat stets Nischen bedient. Stellen Sie sich einmal vor, eine Opern-Truppe wäre 1785 in ein österreichisches Bauernhaus gegangen und hätte dort Mozarts "Così fan tutte" aufgeführt. Ich hätte gern das Gesicht der Dienstmagd gesehen. Verabschieden Sie sich vom Mythos, daß Mozart ein Popstar war und die Klassik populär.
Sie ist also immer elitär?
Natürlich! Jeder ißt seine Hamburger bei McDonald's, aber es würde keiner behaupten, daß Fast food mit der Küche eines Sternekochs vergleichbar wäre. Die Popmusik ist per definitionem eine Fast-Listening-Music, die ihre Effekte auf den Moment ausrichtet. Nehmen Sie den Rhythmus eines Rap-Songs und vergleichen ihn mit der anarchischen Vielfalt von Strawinskys "Le sacre du Printemps", dann werden Sie sehen, daß Pop meilenweit hinter den Erkenntnissen der Neuen Musik hinterherhinkt. Ich wünsche mir, daß Menschen in der Schule musikalisch erzogen werden, um zu erkennen, wie limitiert das Radio-Gedudel ist. Aber das ist ein pädagogisches und damit ein politisches Problem.
Verschwimmen die Grenzen nicht längst? Neue Musik nutzt zum Beispiel Mittel zur Reproduktion originaler Klänge. In einem Club wird dazu vom DJ eine Platte "gescratcht".
Aber ich bitte Sie, das haben Komponisten wie Pi Scheffer schon 1948 gemacht. Ich habe in letzter Zeit öfters MTV geschaut, weil ich die Verbindung von Visuellem und Akustischem spannend finde. Aber in den Clips werden die Möglichkeiten verschenkt. Jeder Film folgt einer modischen Formatierung und läßt sich von anderen nicht unterscheiden. Das ist nicht wirklich innovativ.
Innovationen in der Neuen Musik sind dagegen so komplex, daß sie kaum verstanden werden. Müssen wir uns an neue Töne gewöhnen?
Eine Tugend des Gegenwartskomponisten ist das Urvertrauen in die Zukunft. Deshalb ist mein Leben auch meinen inneren Überzeugungen gewidmet und folgt keinen Moden. Natürlich kommt man sich da manchmal ziemlich einsam vor. Und das ist ein Grund, warum ich angefangen habe zu dirigieren. So kann ich das Publikum direkter erreichen.
Sie haben nach dem Weltkrieg bei Olivier Messiaen studiert. 60 Jahre, später sitzen Sie in der "Cité de la Music", einer Musik-Burg, mitten in Paris. Ist die Neue Musik inzwischen institutionalisiert?
Schon nach dem Krieg haben sich besonders deutsche Radioorchester um Neue Musik gekümmert, und die Donaueschinger Musiktage oder die Darmstädter Sommerkurse waren ebenfalls Institutionen, in denen die Neue Musik gewachsen ist. Das ist wie mit der Gegenwartsmalerei. Sie war lange eine Außenseiterdisziplin. Jetzt können sich Museen vor Publikum kaum retten. Die Musik hat allerdings den Nachteil, daß sie sich nicht so leicht erschließt wie ein Bild. Sie braucht mehr Zeit.
Waren Darmstadt und Donaueschingen nicht hermetische, weltfremde Elfenbeintürme?
Das sehe ich anders. Menschen aus allen Ländern haben sich hier gefunden, nicht, um sich abzuschotten, sondern um sich zu solidarisieren und von hier aus zu strahlen.
(Fortsetzung des Interviews bei www.wams.de)
Das Gespräch führte Axel Brüggemann
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