Das GANZE Werk - Presseschau

Das Club-Magazin von SWR 2 - DOPPELPFEIL 2/2005, Seite 10 und 11

Micaela Lämmle, SWR2-Programmchefin, bezieht Position

Zwischen Bewahren und Erneuern

SWR2 AM MORGEN:
Ein erster Schritt in der Programmoptimierung von SWR2
ohne die Musik als prägenden Bestandteil der Sendung in Frage zu stellen

Artikel in Originalansicht (Pdf)

Wie exklusiv darf das Kulturangebot im Radio noch sein? Unter dem steigenden finanziellen Druck müssen die Kulturradios der ARD ihre Themenmischung überprüfen und nach neuen, zeitgemäßen Formen der Vermittlung suchen.

Lange Zeit galten sie als Inseln der Glückseligen, als Bewahrer und Rechtfertigung des öffentlich-rechtlichen Kulturauftrags: die Kulturwellen der ARD. Sie hatten ihre eingeschworenen Hörergemeinden, zwar klein, aber fein. Und man konnte diesen Hörern einiges zumuten, selbst harte, oft schwer verdauliche Kost. Während die Sparmaßnahmen der Sender immer einschneidender werden und alles - auch das öffentlich-rechtliche Kulturengagement - auf dem Prüf stand steht, wächst für die Kulturprogramme der Leistungsdruck und die Konkurrenz. Kann man diese exklusiven Minderheitenprogramme weiterhin legitimieren? Oder muss man sich auch hier auf die Suche nach neuen Hörern machen? Und: Gibt es überhaupt ein Potenzial an neuen Hörern, das es zu erschließen lohnt? Oder bleibt Kulturradio ein Medium für überdurchschnittlich Gebildete, meist ältere Hörer, wie die heutige Nutzerstruktur signalisiert?

Die

Micaela Lämmle
Gebürtig in Baden-Baden, begann Micaela Lämmle 1965 als Sekretärin beim damaligen Südwestfunk, nebenher Mitarbeit bei regionalen Zeitungen. 1974 bimediales Volontariat beim SWF, danach Tätigkeit für das LITERATURMAGAZIN im Fernsehen, Literaturkritiken für "Die Zeit" und die "Süddeutsche Zeitung". 1979 absolvierte sie das Begabtenabitur, anschließend studierte sie Germanistik, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften in Frankfurt am Main. Freie Mitarbeit bei HR, NDR und SWF. Nach dem Erziehungsurlaub kehrte Lämmle 1989 zum SWF zurück, ab 1990 festangestellt beim Landesprogramm Baden-Württemberg als Redaktionsleiterin für das Kulturmagazin BIZZ, Entwicklung der Jugendsendung NA UND und anderer Formate. Ab 1998 Abteilungsleiterin für Aktuelle Kultur Fernsehen. Im September 2004 wechselte sie als SWR2-Programmchefin zum Hörfunk.
Verantwortlichen der Kulturwellen suchen seit einiger Zeit nach neuen kulturinteressierten, auch jüngeren Hörern. Für die einen heißt die Lösung "Einschaltradio", das konzentriertes Zuhören einfordert, mit wiedererkennbaren Sendungen zu festen Zeiten, für die anderen "Begleitradio", jederzeit verfügbar mit immer knapperen Wortanteilen. Es gleicht der Suche nach dem Stein der Weisen, trotz Medienforschung immer noch ein Stochern im Nebel - eine klare, gemeinsame Zielrichtung gibt es im Moment nicht. Stattdessen eine Gratwanderung zwischen Altem und Neuem, zwischen Bewahren und Ausprobieren, immer mit der Gefahr verbunden, Stammhörer zu verlieren und neue Kulturinteressierte nicht zu erreichen. Das Deutschlandradio, ab März Deutschlandradio Kultur (!), will zum Beispiel Qualität und Substanz des bisherigen Programms in jugendlichen und attraktiven Formen aufgehen lassen. Die Beiträge sollen kürzer werden, gleichzeitig hat man den Anspruch eines Feuilletons - auch hier der Versuch, Altes mit Neuem zu vereinbaren.

Auch für SWR2 stellt sich die Frage: Wie viel Neues verträgt das Programm? Oder ganz konkret: Wie sieht eine sinnvolle Programmoptimierung aus, die andere Radioprogramme des SWR bereits hinter sich haben? Unsere Antwort lautet: Einschaltprogramm mit großen Wort- und Musikflächen, mit starker Informationskompetenz, ein Programm, das Lust macht auf Wissen, Bildung und Kultur, mit Mut zu Ungewöhnlichem, auch in längeren Formen. Das ist eine deutliche Absage an manche Zeitungsorakel, die Häppchenkultur befürchten oder ein Programm wie ein "flirrender Insektenschwarm" für die unter 60-Jährigen mit "Hummeln im Hintern".

Nach Umfragen der Medienforschung sind unsere Hörer etwa zu gleichen Teilen interessiert an aktuellen Informationen mit Hintergrund, an Kultur- und Wissensthemen und an klassischer Musik. Das sind bereits jetzt die Bestandteile von SWR2, was aber nicht heißt, dass alles so bleibt, wie es ist. Gerade ein Kulturprogramm ist ein lebendiger Organismus, der sich entwickelt, der auf aktuelle Ereignisse reagiert. Kultur kann nicht fernab von der Tagesaktualität existieren, sondern soll im Gegenteil eng damit verknüpft sein. Neben der Musik, die den Hauptanteil des Programms prägt, sollen die Wortbeiträge zeitbezogen sein, kulturelle und gesellschaftliche Debatten aufgreifen und mitprägen. Ein Beispiel: Im vergangenen November hat SWR2 eine lange Nacht zur amerikanischen Präsidentschaftswahl gesendet, mit einem Musikprogramm von Bruce Springsteen bis George Gershwin, mit aktuellen Schaltungen zu den Korrespondenten und eigenen Hintergrundberichten.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Regionalität, die "Nähe" zum Programm: SWR2 ist in seinem Sendegebiet zu Hause, informiert über alles, was wichtig und für den "mobilen" Kulturinteressierten erreichbar ist, ohne dabei "provinziell" zu werden. Natürlich wird Christo weiterhin ein kulturelles Topthema sein, wenn er den New Yorker Central Park dekoriert. Aber auch im Sendegebiet gibt es Topthemen, vom Streit über private Sammlermuseen über die Nibelungen-Festspiele in Worms bis hin zur Aufführung eines unbekannten Opernfragments von Mozart unter Nikolaus Harnoncourt im Festspielhaus Baden-Baden.

Soviel zur zeitgemäßen inhaltlichen Ausrichtung eines Kulturprogramms. Bleibt die Frage nach modernen Formen der Vermittlung. Welche Sprache benutzt man? Wie verständlich kann man die Inhalte machen? Es geht nicht darum, auf Themen zu verzichten, sondern gerade die "härtere" Kost so zu verpacken, dass ein breiterer Hörerkreis erreicht werden kann. Weg vom kleinen, oft elitären Zirkel, hin zu größerer Verständlichkeit und damit zu mehr Akzeptanz. Dabei kommt auch der Programmpräsentation große Bedeutung zu. Der Hörer soll den Menschen spüren, der durch das Programm führt, nicht nur einen Präsentator. Denn zu den wichtigsten Kapitalien eines Senders, ob Hörfunk oder Fernsehen, zählen die wiedererkennbaren Köpfe und Stimmen, ob Wieland Backes im NACHTCAFE oder Zeus und Wirbitzky bei SWR3.

Ein Exkurs zum Fernsehen: Hier waren die Kulturinhalte in einem bunten Vollprogramm schon viel früher dem Quotendruck ausgesetzt. Vor allem die Kulturmagazine standen ARD-weit unter Beobachtung und mussten sich neu definieren. Im Zuge der Optimierung kam es zur Rückbesinnung auf einen breiteren Kulturbegriff, von Alltagskultur bis Hochkultur. Prägend war auch die Einsicht, dass man Ereignisse nicht nur abbilden und kommentieren kann, sondern Geschichten erzählen muss, die den Zuschauer in seiner Erfahrungswelt abholen. Eine schwierige Theaterinszenierung beispielsweise vermittelt sich oft am besten über das Porträt eines Schauspielers oder des Regisseurs. Über diese Erkenntnisse wurde noch vor ein paar Jahren bei einer Tagung zum Thema "Kultur in Radio und Fernsehen" in Stuttgart-Hohenheim heftigst zwischen Hörfunk- und Fernsehkollegen gestritten. Beinahe unversöhnlich standen manche Positionen nebeneinander, auch innerhalb der Hörfunkprogramme. Inzwischen hat sich die Medienlandschaft verändert. Eine neue Programmierung ist auch für die Kulturradios angesagt - mit allen Risiken der Fehlentscheidungen. Doch zumindest eine Einsicht scheint sich überall durchzusetzen: Kulturprogramme sollen nicht mehr nur Pflicht- und Bildungsprogramme, "Schwarzbrot" für den Alltag sein, sondern Programme, die neugierig machen, Lust auf mehr wecken.

Lust auf Kultur: So könnte das Motto für die Zukunft lauten, Lust auf Musik, auf Wissen und Bildung, auf Information. Und diese Lust zu vermitteln, die Neugier zu wecken, das ist die Aufgabe eines Kulturprogramms und gleichzeitig seine Chance, neue Hörer zu gewinnen. Wie das geht, zeigt zum Beispiel das SWR2-Ressort Wissen, dessen Sendungen dem rapide wachsenden Interesse an Wissensthemen entsprechen: Im vergangenen November wurden rund 60 000 Downloads von Manuskripten gezählt. Aber nicht nur der Internet-Kontakt, sondern auch der unmittelbare Kontakt zum Hörer wird intensiver. So hat der SWR2 RADIOCLUB große Erfolge, auch mit seinen CLUB-EXTRAS, exklusiven Mitglieder-Veranstaltungen, von der Radiowerkstatt über moderierte Orchesterproben bis hin zu Ausstellungsführungen. Die Resonanz ist riesig, sodass diese Veranstaltungen sofort ausgebucht sind.

Ein erster Schritt in der Programmoptimierung von SWR2 betrifft die Morgensendung. SWR2 AM MORGEN bietet künftig zwischen 6 und 8 Uhr mehr Information: ausführliche Nachrichten zur vollen Stunde, Kurznachrichten mit Wetter zur halben Stunde. Ein Moderator führt durch das Programm, nimmt dabei auf aktuelle Ereignisse Bezug oder verweist auf die Highlights im weiteren Tagesprogramm. All das, ohne die Musik als prägenden Bestandteil der Sendung in Frage zu stellen. Seit 28. Februar heißt es: SWR2 AM MORGEN - Musik und Information.

Lesen Sie auch zu SWR 2:

Ich komme aus dem NDR-Gebiet zurück und stehe unter Schock
In Norddeutschland Radio hören zu wollen, ist eine Katastrophe
Eintrag von A. Dannenberg im Gästebuch von SWR2, 5. April 2005

Liebe Hörerinnen, liebe Hörer
Auch Ihre Kritik, für die wir uns nochmals bedanken, nehmen wir in diesem internen Diskussionsprozess sehr ernst
SWR2 am Morgen Redaktion, 9. März 2005

Zwischen Bewahren und Erneuern
Micaela Lämmle, SWR2-Programmchefin, bezieht Position
SWR2 AM MORGEN: Ein erster Schritt in der Programmoptimierung von SWR2, ohne die Musik als prägenden Bestandteil der Sendung in Frage zu stellen
Das Club-Magazin von SWR 2 - SWR-Doppelpfeil 2/2005

Themenseite: "Was wird aus den Kulturradios"
• Exklusiver Zweitwagen
Interview mit Hörfunkdirektor Bernhard Hermann zur Zukunft von SWR 2
• Dienste im Dienst der Musik
Die Orchester der Sender und ihre Profile
• Ein Ohrengraus: Nordwestradio und NDR Kultur
Das Zuhören gelingt allerhöchstens eine Stunde
• PS: Es lebt!
Ein (obligatorischer) Leserbrief von NDR-Hörfunkdirektor Romann
Stuttgarter Zeitung, 17. April 2004 (und 29. April 2004)