„Thementag Händel“
NDR Kultur, 14. April 2009, Matinee, 9 bis 13 Uhr
Matinee mit Reinhard Goebel:
eine öffentliche Lehrstunde für NDR Kultur
Von Theodor Clostermann und Ludolf Baucke
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Dokumentationen
- Reinhard Goebel und die Archiv-Produktion
- Gespräch über eine auf einem modernen Flügel gespielte Sarabande
- Gespräch über Komponistengedenktage in Hamburg
Zu der Matinee schrieb uns die Hörerin aus Norderstedt:
Ich selbst konnte aus Zeitgründen am 14. April nur die Matinee anhören - und fand sie derartig niederschmetternd, dass ich nicht bedauerte, den weiteren Verlauf des Thementages nicht mitverfolgen zu können. Friederike Westerhaus und Daniel Hope hatten anlässlich des Bartholdy-Thementages die Messlatte sehr hoch gehängt, meine Erwartungen an den Tag zu Händels Ehren waren entsprechend gewesen.
Aus drei Gründen war es „niederschmetternd“:
1. Es gab keinen thematischen roten Faden, die Gesprächsreihenfolge orientierte sich noch nicht einmal durchgehend an der bunt zusammengewürfelten Musikliste („Ah! che troppo ineguali“/„O del ciel! Maria Regina“, Rezitativ und Arie für Sopran, Streicher und Basso continuo, HWV 230 mit Anne-Sofie von Otter und der Musica Antiqua Köln wurde zum Beispiel mehrfach vorangekündigt).
2. Reinhard Goebel hat durch seine inhaltlichen Beiräge die Praxis von NDR Kultur derartig in Frage gestellt, derartig vorgeführt, dass ein aufmerksamer Hörer sich fragen musste, ob er nicht gerade zufällig Zeuge einen internen NDR-Kultur-Kritikrunde geworden war.
3. Es war nicht gerade immer leicht, den präzisen und differenzierten Gedanken von Reinhard Goebel zu folgen, die spontan im Gespräch auf Fragen des Moderators entwickelt wurden.
Wer auf eine umfassend gestaltete Händel-Matinee gesetzt hatte,
wurde herb enttäuscht
Der Thementag Felix Mendelssohn-Bartholdy, besonders die Matinee mit Friederike Westerhaus und dem Geiger Daniel Hope, waren noch in bester Erinnerung, da kündigte NDR Kultur einen Händel-Tag zum 250. Todestag des barocken Komponisten an. Auch hierfür wurde ein Experte als Studiogast verpflichtet: Reinhard Göbel, Geiger und langjähriger Gründsungsleiter des Ensembles Musica Antiqua Köln. Wer jedoch als Hörer wieder auf eine umfassend gestaltete Händel-Matinee gesetzt hatte, wurde herb enttäuscht.
Reinhard Göbel konnte sich die Musik nicht aussuchen, sondern musste mit dem Häppchenallerlei vorlieb nehmen. Auch Nachrichten, kurzfristige Veranstaltungstipps („Kultur im Norden“), ebenso nicht thematisierte „Lauter Lyrik“ musste er schlucken. Fast wäre dabei die Händelinformation zu kurz gekommen.
Reinhard Göbel jedoch ließ es sich nicht nehmen, sein Expertenwissen zu pointieren - unabhängig davon, ob das den Moderationsplatitüden oder der vorgefertigten Musikauswahl passte. Freilich hat NDR Kultur eine Riesenchance vertan und nicht mit dem Pfund gewuchert. Sachgerechte Anschauung wäre doch ein leichtes gewesen. Wenn Daniel Hope zwei Fassungen des Mendelssohnschen Violinkonzertes einander gegenüberstellte, so wären Händelhörer kundiger geworden, wenn ihnen ein Satz aus einer Händelsuite sowohl vom ursprünglichen Cembalo als auch vom modernen Klavier vorgespielt worden wäre. An Reinhard Göbel jedenfalls lag es nicht, dass die Anschauung verpasst wurde. Er hatte sich auf lockeres Befragen detailliert geäußert.
„Niederschmetternd“? Bei genauerem Durchlesen der Erläuterungen und Bewertungen von Reinhard Goebel wird man in der Kritik an NDR Kultur wieder kräftig aufgerichtet.
Abgeschlossen am 24. April 2009
Dokumentation 1: Reinhard Goebel und die Archiv-Produktion
[9.10 Uhr - Moderator] Herr Goebel, welche Rolle hat Georg Friedrich Händel in Ihrem bisherigen Musikerleben gespielt?
[Reinhard Goebel, Studiogast] Bei mir eine relativ begrenzte Rolle, und zwar kam das daher, dass ich 25 Jahre lang für die Archiv-Produktion einer großen deutschen Plattenfirma gearbeitet habe, den Namen wollen wir hier nicht nennen,...
[Moderator] Doch, den können Sie ruhig nennen, das ist die Archiv-Produktion...
[Reinhard Goebel] ... oh, ich dachte schon, das fiele unter das Schleichwerbungsgesetz.
[Moderator] ... die Archiv-Produktion der Deutschen Grammophon.
[Reinhard Goebel] In der Archiv-Produktion waren die Regierungsbezirke sehr deutlich eingeteilt: Trevor Pinnock war für das Englische zuständig, ich für das richtig Deutsche und Bach durften wir beide machen, da durften wir beide dranlangen. Und deshalb bin ich nie dazu gekommen, mich intensiv mit Händel auseinanderzusetzen.
Dokumentation 2: Gespräch über eine auf einem modernen Flügel gespielte Sarabande
[9.36 Uhr - Moderator] Wir hören nun die Pianistin Ragna Schirmer, die Händels Suiten nicht auf dem Cembalo, sondern auf einem modernen Flügel aufgenommen hat.
[Musik]
[9.42 Uhr - Moderator] Sarabande, der 4. Satz der Suite Nr. 4 d-moll, von Georg Friedrich Händel, gespielt hat Ragna Schirmer. Sie hören NDR Kultur am 250. Todestag von Georg Friedrich Händel. Diese Aufnahme ist nicht auf dem Cembalo, sondern, wie Sie gehört haben, auf modernem Instrumentarium entstanden.
Und Ragna Schirmer begründet das so:
Zum einen bin ich Pianistin und bin ausgebildet auf dem modernen Klavier und beschäftige mich natürlich mit Cembalo und Clavichord und den historischen Instrumenten, beherrsche die aber sicherlich nicht so gut wie Spezialisten für dieses Fachgebiet. Das zweite ist, dass ich natürlich den Reiz des Neuen durchaus zu schätzen weiß, also ich finde, das darf man.
Und das möchte ich als Frage direkt weitergeben an Reinhard Goebel: Darf man das?
[Reinhard Goebel, Studiogast] Ja, ja, jeder findet, dass man irgendetwas darf, wenn man unbedingt etwas an den Mann bringen will. Das habe ich auch immer für mich beansprucht, dass ich das darf.
Also, hier kamen mir jetzt doch gewisse Zweifel. Und zwar aus folgendem Grunde:
Händel ist ja, wenn wir dieses Gegensatzpaar der deutschen Komponisten nehmen, nämlich Bach und Händel, dann ist Bach als der große Organist gefeiert worden, in seiner Zeit schon, und ihm wurde Händel gegenübergestellt als der unvergleichliche Cembalospieler. Da gibt es zwei Möglichkeiten, warum ein Stück gedruckt wurde.
Ich finde dieses Stück, das wir gehört haben, außergewöhnlich unrepräsentativ, weil es ja letztlich nicht mehr ist als eine Folia-Variation. Was will der Komponist uns damit zeigen, dass es gedruckt wird? Will er damit zeigen, dass er eine ganz besondere Variationstechnik hat, oder ist es auch wieder so ein Lückenbüßer, wird da einfach etwas hineingetan, was dem Geschmack der Damen auch im frühen 18. Jahrhundert entspricht? Warum dieses Stück, denn es zeigt uns Händel ja nicht als besonders einfallsreichen Komponisten? Also seine Variationstechniken sind begrenzt.
Es gäbe aber die andere Möglichkeit, dieses Stück zu deuten und zu interpretieren nämlich als Cantabile-Übung auf dem Cembalo. Und da fehlt mir jetzt beim Klavier einiges eigentlich. Nämlich:
Die Klanglichkeit des Cembalos, das sehr viel obertöniger ist, das Klavier ist grundtönig usw. Cembalo und Klavier haben natürlich eins gemeinsam, ungefähr die ähnliche Form und Tasten vorne dran. Aber das ist auch alles, denn die Tonerzeugung ist eine andere.
Und ich habe dieses Stück schon in e-moll gehört, was ich auch problematisch finde, also gleichschwebende Tonarten oder gleichschwebende Stimmungsarten für alte Musik sind problematisch. Wenn es Händel at it's best zeigen sollte, dann müsste dieses Stück vor Geschmack strotzen. Man weiß ja von dem italienisch-französischen Gegensatz, dass ein Geiger zu Ludwig XIV. kam, der bei Corelli studiert hatte, dieser Geiger hat dann Ludwig XIV. eine Sonate vorgespielt, und Ludwig war stumm und fiel ein vor Entsetzen: Holen Sie mir mal einen Geiger aus der Hofkapelle. Dann hat der, so wird berichtet, ein einfaches Air aus „Cadmus“ gespielt. Den Leuten liefen die Tränen über die Wangen, weil es so ergreifend und so schön gewesen ist. Und damit hätte ich jetzt hier meine Probleme gehabt.
Dokumentation 3: Gespräch über Komponistengedenktage in Hamburg
[9.56 Uhr - Moderator] Sie sind heute zu Gast, und wir haben das Händeljahr. Heute ist der 250. Todestag von Georg Friedrich Händel. Was halten Sie überhaupt von solchen Jubiläumsanlässen? Ich meine, wir haben gerade erst einmal das Mozartjahr verkraftet [250. Geburtstag von Wolfgang Amadeus Mozart im Jahr 2006], wie sieht es aus?
[Reinhard Goebel] Ja, ich winde mich dabei, weil ich diese Sachen als sehr unangemessen betrachte. Man gedenkt ohnehin immer nur der Großen und ihrer Todes- oder Geburtstage. Das bedeutet also für die Klangscheibenhersteller, dass sie immer wieder in großen Massen irgendetwas auf den Markt schieben können. Aber so recht wird ja kein Komponist damit gehoben. Wir hätten ja auch Buxtehudes gedenken können [300. Todestag im Jahr 2007], wir hätten auch Marc-Antoine Charpentiers gedenken können [300. Todestag im Jahr 2004] ...
[Moderator dazwischen zur Ehrenrettung von NDR Kultur] Buxtehudes ist gedacht worden. [Rest unverständlich, da Reinhard Goebel lauter weiterspricht]
[Reinhard Goebel] Das mag dann vielleicht ein norddeutsches Problem sein. - Aber ich frage Sie mal, ob Carl Philipp Emanuel Bach im Bewusstsein der Hamburger so richtig verankert ist. Da hatten wir 1988 einen Gedenktag [200. Todestag], und ich habe gesagt: Warten Sie mal bis nächstes Jahr, dann wird sich das alles wieder ein bisschen normalisieren. Ich glaube, die Pflege von Carl Philipp Emanuel Bach ist jetzt unter normal null. Das kommt dabei heraus. Man kann es ja nicht verhindern. - Mir ist das im Grunde genommen total egal.
[Moderator fasst fassungslos zusammen...] Sie sagen gerade, die, die gefeiert werden, hätten es eigentlich am wenigsten nötig, durch Jubiläen noch bekannter gemacht zu werden.
[Reinhard Goebel, betont] Ja!
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