NDR Kultur - Korrespondenz
28. Oktober 2004: Brief von E. Schrader an G. Romann
16. November 2004: Frau Mirow antwortet für Herrn Romann
Kritik- und Antwortbrief direkt gegenübergestellt:
Die Wellenchefin behandelt die Themen nicht so richtig
Die Argumente noch weniger
Frage: Warum wird mir als Zwangsgebührenzahler
der Zugang zu einem niveauvoll und fachlich fundiert moderierten Musikprogramm verwehrt?
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Antwort: Die Bereitschaft, sich längeren, in sich geschlossenen Werken zu widmen, hat leider deutlich nachgelassen.
Formaler Rahmen der Briefe |
Absatz in der Antwort berücksichtigt |
Thema von E. Schrader nicht behandelt |
Absatz ohne Antwort |
E. Schrader Hamburg, den 28.10.2004 | b.mirow@ndr.de 16. November 2004 | |
Norddeutscher Rundfunk Programmdirektor Hörfunk Herrn Gernot Romann Rothenbaumchaussee 132 20149 Hamburg | Herrn E... Schrader ... | |
Sehr geehrter Herr Romann, | Sehr geehrter Herr Schrader, | |
seit einigen Monaten hat das ehemalige Radioprogramm NDR III unter dem Namen NDR Kultur eine neue Programmstruktur, und ich nehme an, Sie sind an Reaktionen aus Ihrem Hörerkreis interessiert. | der Programmdirektor des Norddeutschen Rundfunks, Herr Romann, hat mich gebeten, Ihnen auf Ihren Brief vom 28. Oktober 2004 zu antworten. | |
Zunächst zu meiner Person: Ich bin 55 Jahre alt, selbständiger Architekt, und betrachte mich als kultur- besonders musikinteressierten Zeitgenossen. Ich bin auch ausübender Laienmusiker als Chorsänger in einer Kantorei. Radio höre ich vorwiegend zwischen 7 und 19 Uhr, meistens im Auto. | ----- | |
Um mein Urteil gleich am Anfang auszusprechen: Ich bin tief enttäuscht von dieser neuen Programmstruktur und lehne sie ab. Die schlimmste Neuerung ist die Aneinanderreihung einzelner Symphonie- bzw. Sonatensätze, unterbrochen von Jingles, Prominentenwerbeblöcken oder nüchternen An- und Absagen, garniert mit angelesenen Mini-Geschichtchen oder Anekdoten. Warum enthalten Sie dem Hörer vor, den vom Komponisten gewollten spannungsreichen Übergang von einem langsamen, getragenen Mittelsatz zu einem schnelleren Schlusssatz mit zu erleben? Dieser Moment ist doch Teil des Gesamtwerkes! | Ich bedauere es, dass Sie unzufrieden sind. NDR Kultur hatte gute Gründe, über die Ausrichtung des Programms nachzudenken. Unter dem alten Namen „Radio 3“ (bis Ende 2002) mussten massive Hörerverluste registriert werden. Deshalb haben wir uns in den vergangenen Monaten intensiv mit einem an Kultur und klassischer Musik interessierten Publikum auseinander gesetzt. Wir wollten wissen, wie ein Kulturprogramm genutzt wird bzw. welche Erwartungshaltung besteht. Das Ergebnis zeigt eine deutliche Veränderung im Vergleich zu Aussagen früherer Jahre. Kulturprogramme werden heute tagsüber überwiegend zur Begleitung, zum Teil mit kürzerer „Verweildauer“, gehört. Die Bereitschaft, sich längeren, in sich geschlossenen Werken zu widmen, hat leider deutlich nachgelassen. Aus diesem Grund spielen wir auf NDR Kultur kürzere Werke bzw. einzelne Sätze aus Sinfonien, Solokonzerten oder Concerti Grossi. Wir achten dabei darauf, dass diesen einzelnen Sätzen eine innere Geschlossenheit zugrunde liegt. | |
Diese fragwürdige Neuerung fördert dazu noch die in manchen Konzerten, z.B. Schulmusikaufführungen, zu beobachtende Tendenz, dass der nicht so sachkundige Teil der Zuhörer nach einem schwungvoll gespielten ersten Satz begeistert in die Pause hinein applaudiert, zur großen Freude der Künstler und der übrigen Zuhörer. Nur man sollte sich nicht mehr darüber aufregen. Woher sollen sie die Regeln kennen, NDR-Kultur macht es ihnen ja vor! | ----- | |
(Der Brief betrifft die Zeit von 6 bis 19 Uhr) | Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass sich die Angebote im Abendprogramm nach wie vor größeren Zusammenhängen widmen. In dieser Zeit lässt sich ein Publikum mit einem Interesse an Kultur und entsprechender Musik auf konzentriertes Zuhören ein. Dann spielen wir Konzerte (sehr häufig live aus dem Sendegebiet), Opern oder wir senden Hörspiele, Gespräche, Kulturforen, Features oder Themenabende. Sie können sehr wohl auch Neue Musik hören (immer mittwochs nach dem Hörspiel)! | |
Sie gehen einen großen Schritt in Richtung kommerzieller Sender à la Klassikradio usw. Ich habe nichts gegen diese Art Radiosender. Sie müssen eine große Hörerzahl aufweisen, um sich über Werbung finanzieren zu können. Dafür müssen sie ein gefälliges, eine möglichst große Zahl Hörer ansprechendes Programm machen. Aber warum schwenken Sie als öffentlich rechtlicher Sender mit einem gesetzlich formulierten Bildungsauftrag auf diese Richtung ein? Warum wird mir als Zwangsgebührenzahler der Zugang zu einem niveauvoll und fachlich fundiert moderierten Musikprogramm verwehrt? | Seit der Reform hat NDR Kultur bundesweit gut 40.000 Hörerinnen und Hörer dazu gewonnen. Damit ist sichergestellt, dass die beschriebenen Angebote auch genutzt werden. Auch mit diesem erfreulichen Zugewinn werden wir in der grundsätzlichen Ausrichtung ein Programm bleiben, das sich an sogenannte Minderheiten wendet und das dem Bildungsauftrag gerecht wird. | |
Ich vermisse die musikwissenschaftlich solide und kenntnisreich gestalteten Moderationen von Gabriele Herz-Eichenrode, Wolfgang Sandberger oder Uwe Röhl (er ist jetzt vielleicht wirklich im verdienten Ruhestand). Stattdessen muss ich mir Histörchen und Anekdötchen zwischen auseinander gerissenen Versatzstücken anhören (...). | ----- | |
Ihre neue Musikprogrammstruktur gehorcht zuallererst den Gesetzen der Gefälligkeit und folgt damit den gleichen Maßstäben, mit denen klassische Musik auch als Bestandteil der Radio- und Fernsehwerbung, als Pausenfüller während der Telefonvermittlung oder als Handyklingelton ausgebeutet wird. Es wird dem Publikum die landläufige Vorstellung vermittelt, dass klassische Musik vorwiegend süß, weich, harmonisch und problemlos seicht zu sein hat. Lieber Dur statt Moll. Es ist kein Platz mehr für eine vergleichende Auseinandersetzung zwischen einzelnen Interpreten. Eine herbe Orgelfuge von J. S. Bach, eine Trauerkantate zur Passionszeit, Werke des 20. Jahrhunderts oder gar zeitgenössische Musik finden keinen Platz mehr. Das neue Programm trägt aber den höchst anspruchsvollen Namen „NDR Kultur“. Warum muss jede Programmreform der letzten Jahre und Jahrzehnte ein weiterer Schritt in Richtung Verflachung sein? | ----- | |
Noch eine Frage habe ich am Schluss: Wie entsteht inzwischen Ihr Musikprogramm in dem oben angeführten Zeitraum? Ist es noch eine von Musikredakteuren individuell bearbeitete Planung oder schon ein Ergebnis eines entsprechend programmierten Computers, zu dem Sprecherinnen und Sprecher lediglich An- und Absagen machen? | Das Musikprogramm von NDR Kultur wird unverändert von Fachredakteuren erstellt. Der Computer unterstützt in sinnvoller Weise. | |
Ich habe aus Ihrem früheren Radioprogramm eine Menge Anregungen für die Beschäftigung mit für mich neuen Musikstücken erhalten und häufig die entsprechende CD danach gekauft. Nur das ist jetzt Vergangenheit. Wenn ich jetzt Ihr NDR Kulturprogramm einschalte, höre ich zu 90 % Bekanntes und Vertrautes, eben Gefälliges. | ----- | |
Es tut mir sehr leid, Ihnen dieses Urteil schreiben zu müssen. Ich bin ein interessierter Radiohörer geblieben und habe dieses Medium auch bei meinen Kindern immer kräftig gegen das verflachende Fernsehprogramm verteidigt. Aber diese Pseudoreform verdient ihren Namen nicht. Ich habe mich daher auch sehr gefreut, von der Initiative „Das GANZE Werk“ erfahren zu haben, die meine volle Unterstützung erfahren wird. | ----- | |
Mit freundlichen Grüßen gez. E. Schrader | Mit freundlichen Grüßen gez. Barbara Mirow (NDR Kultur Leitung) | |
Kopie: Theodor Clostermann „Das GANZE Werk“ |
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28. Oktober 2004: Brief von E. Schrader an G. Romann
16. November 2004: Frau Mirow antwortet für Herrn Romann
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