Das GANZE Werk - Presseschau
neue musikzeitung (nmz) Nr. 10/06 (Oktober 2006)
Zitat:
Die wichtigste Aussage dieser Arbeit (...) ist die Erkenntnis, dass über eine Adaption von Klassik in populäre Musik kein tieferes Interesse für klassische Musik geweckt wird. Der Zugang zu klassischer Musik erfolgt vielmehr meist in der Kindheit über aktives Musizieren im Elternhaus oder über eine Bezugsperson.
Rezension: Wie man mit populärer Klassik tieferes Interesse für die klassische Musik weckt und neue Konsumwünsche befriedigt
Helmut Lotti und die Yellow Lounge – Sprungbrett zur Klassik?
Im Anhang: Nina Polaschegg, Klappentext des Buches und Abstract zum Vortrag „Klassik für Millionen? Oder: Die Suche nach schwarzen Zahlen?“ (3. Oktober 2003)
Von Henriette Zehme
Polaschegg, Nina: Populäre Klassik – Klassik populär. Hörerstrukturen und Verbreitungsmedien im Wandel. Böhlau, Köln 2005, 272 S., 34,90 €, ISBN 3-412-26005-3
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Was haben der Walzergeiger André Rieu, der „Schmuse-Tenor“ Helmut Lotti und der britische Punkgeiger Nigel Kennedy gemeinsam? Sie sind Vertreter der populären Klassik, also jener Musik, die Werke des klassischen Repertoires als Grundlage für populäre Interpretationen und Bearbeitungen verwendet. Kennzeichen sind eine einfache Dur-Moll-Harmonik, sangbare Melodien, einfache Rhythmen und oftmals eine harmonische, melodische und klangfarbliche Glättung der Ausgangsmusik.
Der anhaltende Boom der populären Klassik in den Massenmedien und der Tonträgerbranche seit den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts ist für Nina Polaschegg Anlass zu dieser Publikation. Die populäre Klassik interessiert sie unter zwei Gesichtspunkten. Im ersten Teil untersucht sie aus musiksoziologischer Sicht, welche Personen populäre Klassik hören, welche Musikpräferenzen sie darüber hinaus haben und ob es Grenzverwischungen zwischen Hoch- und Popularkultur gibt. Die theoretische Grundlage dafür liefert die von Gerhard Schulze in der „Erlebnisgesellschaft“ (1997) aufgestellte Typologie von fünf Milieus in Deutschland, die nach Alter, Bildung und Lebensstil unterschieden werden können. Die Autorin nimmt an, dass vor allem die Milieus mit mittlerer (und niedrigerer) Bildung bei diesen Konzerten zu finden sein müssten, da diese laut Schulze Elemente des Hochkultur- und des Trivialschemas verbinden (Streben nach Harmonie, Gemütlichkeit, Wiederholung, Sicherheit).
Als Untersuchungsmethode wählte Polaschegg leitfadenorientierte Interviews und befragte insgesamt 16 Besucher der Konzerte von André Rieu, Helmut Lotti und Nigel Kennedy jeweils nach dem Konzert in ihrer häuslichen Umgebung. Auch wenn mit dieser qualitativen Untersuchungsmethode keine repräsentativen Ergebnisse möglich sind, beschreibt Polaschegg Tendenzen und Idealtypen der Rezeption populärer Klassik. Entsprechend ihrer Annahme zeigt sich, dass mit Ausnahme des Niveaumilieus (ältere Personen mit hoher Bildung und Affinität zur Hochkultur) alle anderen Milieus unter den Besuchern der Konzerte populärer Klassik zu finden sind. Weitere Erkenntnisse liefert die Typologie kaum. Insgesamt benennt sie drei wenig trennscharfe Hörertypen, die sich durch ihr Verhältnis zur klassischen Musik und durch ihre Zuordnung der populären Klassik zur U- oder E-Musik unterscheiden.
Im zweiten Teil der Arbeit beschreibt Polaschegg die Popularisierungsversuche von Klassik durch Klassik Radio und CD-Serien wie „(Harald Schmidt) trifft (Bach)“, „Yellow Lounge“ oder „Klassik für schöne Stunden“, die klassische Musik durch die Auswahl bekannter Werke von Barock bis Romantik und eine populäre Vermarktung massentauglich machen.
Die wichtigste Aussage dieser Arbeit, die leider in ihren Implikationen nicht weiter vertieft wird, ist die Erkenntnis, dass über eine Adaption von Klassik in populäre Musik kein tieferes Interesse für klassische Musik geweckt wird. Der Zugang zu klassischer Musik erfolgt vielmehr meist in der Kindheit über aktives Musizieren im Elternhaus oder über eine Bezugsperson.
Die Hörer der populären Klassik haben sogar das Gefühl, etwas Besseres zu sein, indem sie sich durch das Hören von vermeintlicher „Klassik“ von anderen abgrenzen können. Und damit hätte klassische Musik als Distinktionsmerk¬ mal doch weiterhin eine Bedeutung.
Nina Polaschegg: Klappentext des Buches
Im Zuge sozialer, kultureller und technischer Veränderungen hat sich in den vergangenen Jahren die Popularisierung von klassischer Musik geradezu zu einem musikalischen Massenphänomen entwickelt. Erstmals werden nun Erscheinungen wie Populäre Klassik oder die Popularisierungsversuche traditioneller Klassik im Rahmen einer musikwissenschaftlichen Studie behandelt. Dem zu Grunde liegen Beobachtungen soziologischer Lebensstilforschung ebenso wie Untersuchungen des gesamtkulturellen Kontextes. Neben den unterschiedlichen Interpreten der populären Klassik wird anhand qualitativer Interviews auch die Hörerstruktur des Konzertpublikums analysiert. Des weiteren kommen Popularisierungsversuche zur Sprache, wie sie etwa Klassik Radio oder diverse Tonträgerfirmen mit Klassiksamplern produzieren. Zu beobachten sind nicht nur eine Vermischung der ehemals getrennten Genre „E“- und „U“-Musik, sondern auch Verschiebungen kultureller Wertigkeiten und Konstruktionen einer so genannten Hochkultur.
Eine Kurzfassung liegt als Vortrag „Klassik für Millionen? Oder: Die Suche nach schwarzen Zahlen?“ in einem Symposionsband vor.
Knipper, Till/Kranz, Martin/Kühnrich, Thomas/Neubauer, Carsten (Hg): Form follows Function,
Studentisches Symposium des DVSM e.V. No. 18, Hamburg: von Bockel: 2003
„Klassik für Millionen? Oder: Die Suche nach schwarzen Zahlen?“
Abstact für das Symposium
Die Klassikbranche steckt tief in den roten Zahlen. Die Neuheit der CD ist verbraucht, die Regale im heimischen Wohnzimmer mit allen ‚wichtigen‘ Aufnahmen in digitaler Form bestückt. Die öffentlichen Gelder schrumpfen, Konzertveranstalter sehen sich gezwungen, ihre hohen Kosten im Vergleich zur zum Teil geringen Besucherzahl zu rechtfertigen beziehungsweise setzen zunehmend auf Event-Kultur. Gleichzeitig boomt das Phänomen der ‚Populären Klassik‘, André Rieu, Helmut Lotti, Nigel Kennedy, Vanessa Mae und andere verkaufen Millionen CDs und Videos, ihre Konzerte in Stadien und riesigen Hallen sind bis auf den letzten Platz ausverkauft. Klassik Radio und Firmen wie Sony und Universal setzten ebenfalls auf einen neuen Klassik-Kunden, entwerfen Samplerserien nach neuen Gesichtspunkten.
Wie läßt sich ‚Populäre Klassik‘ beschreiben? Wer hört diese Musik? Diesen Fragen wird im Vortrag nachgegangen, um die Ergebnisse mit einer genauen Betrachtung und Analyse von Popularisierungsversuchen klassischer Musik, wie sie Klassik Radio und diverse CD-Serien versuchen, zu vergleichen. Liegt hier der Schlüssel, Klassik aus der Nische einer als elitär betrachteten Minderheitenkultur herauszuführen? Oder sind ‚Populäre Klassik‘ und Popularisierungsversuche klassischer Musik Indikatoren ganz anderer gesellschaftlicher Phänomene?