Das GANZE Werk - Presseschau

Zitate:
„Mattscheibe“, Untertitel „Das Ende der Fernsehkultur“, ist eine deftige Abrechnung mit (dem) ungenierten Kampf um Marktanteile, der seit dem Start der Privaten anno 1984 wie ein Virus grassiert. (...)
... das zum „elektronischen Goldenen Blatt“ geronnene Programm...

Wiesbadener Tageblatt, 28. April 2006

„Mattscheibe“ - vom Ende der Fernsehkultur

Frankfurter Schirn: „Medienpolitischer Diskurs“ der Naumann-Stiftung mit dem Journalisten Jürgen Bertram

Von Peter Müller

Frankfurt Das hätte auch den Plot für Hannes Stöhrs Wendezeit-Film vorgeben können. Dramaturgisch ein wenig abgewandelt, aber verblüffend ähnlich: Für „Berlin is in Germany“ hatte er Jörg Schüttauf dereinst in DDR-Haft geschickt, um ihn ein ganzes Jahrzehnt später wieder rauszulassen, nach dem Mauerfall. In eine „schöne neue Welt“, die er so gar nicht mehr verstehen mochte. Und irgendwie muss sich auch Jürgen Bertram so gefühlt haben, als er Mitte der Neunziger in seine Hamburger NDR-Zentralredaktion zurückkam. Auch er war sehr lange sehr weit weg und schickte als Korrespondent aus Singapur oder Peking schön recherchierte bis schön kritische Filmbeiträge an die Rothenbaumchaussee. Dort residiert noch immer sein öffentlich-rechtlicher Arbeitgeber, der ihm jetzt seit Mai 2000 eine wohlverdiente Pension zahlt. Was ihm wiederum die Muße verschafft hat, als „gewöhnlicher Zuschauer“ vor der „Mattscheibe“ ausgiebig jenes Medium zu goutieren, mir dem er sich ein Berufsleben lang „hundertprozentig identifiziert hatte“.

Weil aber Vollblut-Journalist/Idealist Bertram, zunächst Redakteur bei diversen Tageszeitungen, dpa, „Spiegel“ und ab 1972 beim NDR, schon nach seiner Heimkehr weder Augen noch Ohren traut und aus dem Entsetzen über die inhaltlich-moralische Erosion „seines Senders“ nicht herauskommt, setzt er sich, nach reiflicher Abwägung und unter dem Eindruck von Küblböcks Gurkenlaster-Soap in den Tagesthemen, hin und schreibt ein Buch. Ein kritisches, zuweilen bitterböses, das ihm kräftigen Jubel der Medienkritiker beschert, ähnlich entschiedene, meist hinter vorgehaltener Hand geflüsterte Zustimmung von Kollegen und jede Menge Gegenwind von denen, die das zum „elektronischen Goldenen Blatt“ geronnene Programm zu verantworten haben.

Beim „Medienpolitischen Diskurs“ der Friedrich-Naumann-Stiftung in der Frankfurter Schirn gibt es wieder einmal kollektiven Applaus - im Auditorium ausschließlich Gebührenzahler, während die Beratungs-resistenten TV-Macher wohl schon wieder im Elfenbeinturm nach Quote machenden Formaten fahnden. „Mattscheibe“, Untertitel „Das Ende der Fernsehkultur“, ist eine deftige Abrechnung mit diesem ungenierten Kampf um Marktanteile, der seit dem Start der Privaten anno 1984 wie ein Virus grassiert. Qualitätsverfall in allen Sparten, die Vertümelung der Unterhaltung, eine Banalisierung der Fiktion, die Boulevardisierung der Information und mittendrin Royals mit dem „journalistischen Einstecktuch Rolf Seelmann-Eggebert“ oder „akustischer Terror“ des Musikantenstadls - Bertrams Blick zurück zu den hehren Prinzipien von Gründervätern wie Hugh Carleton Green macht die Diagnose für den maladen Patienten öffentlich-rechtlicher Rundfunk nur noch schmerzlicher.

Seine Therapie, eher Wunsch denn Überzeugung: Kritische Zuschauer, die nicht aufhören, sich zu wehren. Na ja, vielleicht doch lieber ein fernsehfreier Tag für die Nation? Oder ein quotenfreier - wenigstens einmal pro Woche? Man weiß es nicht und guckt weiter in die Röhre.