Das GANZE Werk - Presseschau
Die Erkenntnis der Studie bei den drei festgestellten Typen von Konzertbesuchern:
Populäre Klassik leiste nicht das, was ihr von ihren Initiatoren häufig zugeschrieben werde, nämlich in der Klassikrezeption noch ungeübte Hörer zur „traditionellen“ Klassik hinzuführen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 21. April 2006 (Ausschnitte)
Rezension: Nina Polaschegg untersucht das Phänomen der populären Klassik
Hörerstruktur fürs Leichte
Im Anhang: „Ausblick für weitere Forschungen“ aus dem Vortrag von
Nina Polaschegg „Klassik für Millionen? Oder: Die Suche nach schwarzen Zahlen?“ (3. Oktober 2003)
Von Michael Gassmann
Die Musikwissenschaftlerin Nina Polaschegg hat dem stadienfüllenden Walzergeiger André Rieu, dem Sänger Helmut Lotti und dem Violinisten Nigel Kennedy eine soziologische Studie gewidmet, die als Dissertation an der Universität Hamburg angenommen wurde. Auf der Suche nach dem Wesen der „populären Klassik“ und ihren Wirkungen hat sie die Hörerstruktur des Konzertpublikums unter die Lupe genommen, das Programm des privaten „Klassik Radio“ untersucht und mehrere CD-Reihen mit popularisierter Klassik („Musik für schöne Stunden“ und so weiter) begutachtet. Sie fragt, inwieweit anhand solcher Phänomene Verschiebungen „kultureller Wertigkeiten“ zu beobachten sind, gar ein Legitimationsverlust der traditionellen Hochkultur zu beklagen ist.
(...) ihr empirischer Ehrgeiz erschöpfte sich im Besuch von drei Konzerten in Hamburg im Jahr 2000. (...) Nach den Konzerten mischte sich Polaschegg auf der Suche nach Interviewpartnern unters Publikum und fand sechzehn Personen, die sich zu Gesprächen, die später meist bei den Befragten zu Hause stattfanden, bereit erklärten. (...)
Drei Typen von Konzertbesuchern lassen sich der Autorin zufolge unterscheiden:
• Die einen hören populäre Klassik „als Flucht“ vor der „traditionellen“ Klassik, wobei die Selbstillusion eines Klassikhörers aufrechterhalten werden soll.
• Die anderen rezipieren diese Musik wie Pop als von der Klassik unabhängige, leichte Unterhaltung,
• die dritten genießen sie als bewußte Abwechslung zur klassischen Musik.
[Hervorhebung durch die Gliederungspunkte: Das GANZE Werk]
In allen drei Fällen leiste populäre Klassik nicht das, was ihr von ihren Initiatoren häufig zugeschrieben werde: nämlich in der Klassikrezeption noch ungeübte Hörer zur „traditionellen“ Klassik hinzuführen. Wahrscheinlich hat Polaschegg mit letzterem recht. (...)
Wer als Musiksoziologe tragfähige Thesen über die Veränderungen von Hörerstrukturen und Hörgewohnheiten aufstellen will, muß nicht nur über eine breite Datenbasis, sondern auch über profundes historisches Wissen verfügen. (...) Polascheggs Problem besteht darin, auf der Grundlage einiger in einem einzigen Jahr genommener Stichproben einen „Wandel“ beschreiben zu wollen. (...)
Nina Polaschegg: „Populäre Klassik - Klassik populär“. Hörerstrukturen und Verbreitungsmedien im Wandel. Böhlau Verlag, Köln 2005. 272 S., geb., 34,90 [Euro].
Eine Kurzfassung liegt als Vortrag „Klassik für Millionen? Oder: Die Suche nach schwarzen Zahlen?“ in einem Symposionsband vor.
Knipper, Till/Kranz, Martin/Kühnrich, Thomas/Neubauer, Carsten (Hg): Form follows Function,
Studentisches Symposium des DVSM e.V. No. 18, Hamburg: von Bockel: 2003
„Klassik für Millionen? Oder: Die Suche nach schwarzen Zahlen?“
Schlussteil: „Ausblick für weitere Forschungen“
Anstatt eine zunehmende „Verflachung“ und einen gleichzeitigen Interessenschwund an „anspruchsvoller“ Musik zu beklagen - und im Zuge einer Selbstlegitimation über Quoten und Zuhörerzahlen sich gleichzeitig der beklagten Situation anzunähern - wäre zu überlegen, ob die hier angestellten Überlegungen nicht zu anderen Ausrichtungen und Bewertungen kultureller Aktivitäten privater und oder staatlich geförderter Kultur führen könnten. Denn auch folgende Gedanken des Soziologen Peter A. Berger stehen in diesem Kontext und sind mitzubedenken:
„Nicht die Verstärkung alter oder gar neuer ‚Mobilitätsblockaden‘ [in diesem Falle kultureller Mobilität] kann also die Antwort auf Individualisierungsprozesse und die voranschreitende Pluralisierung gesellschaftlicher Erfahrungsbereiche sein. Statt dessen wird es in Zukunft darum gehen müssen, neuerliche Aus- und Abschließungen zu verhindern, den ‚Grenzgängern‘ gewissermaßen ihre ‚Vermittlungsarbeit‘ zu erleichtern und dadurch - im Sinne eines ‚Sowohl-Als-auch‘ - zugleich eine ‚Durchmischung‘ der verschiedenen, durch Teilprozesse der Modernisierung getrennten Sphären und Lebensbereiche voranzutreiben.“