Das GANZE Werk - Presseschau

DIE TONKUNST, Nr. 1/2006, 1. Januar 2006

L.EAR


An dieser Stelle kommt L.EAR zu Wort. Anders als Shakespeares tragischer King Lear, der an seiner Mitwelt verzweifelt, reibt sich Ohrenmensch LEAR mit satirischen Anfällen an Ereignissen und Zumutungen im Bereich der Tonkunst. Was das L. vorm EAR bedeutet- laughing, leery, left (siehe Abbildung!), listening, lost, lonely, lugubrious, lying oder... ? - mögen die LeserInnen selbst entscheiden.
 

L.EARs Neujahrs-Nachschlag

L.EAR in Originalansicht (Pdf)

Beim Norddeutschen Rundfunk hat sich seit dem bleiernen Herbst 2004 (siehe Tonkunst, November 2004) in Sachen Musikkultur nichts getan. Würde die PISA-Studie, die regelmäßig Deutschlands BildungspolitikerInnen, Lehrergewerkschaften und die Journaille wie erschreckte Hühner aufflattern und losgackern lässt, auch die kulturelle Intelligenz testen, dann könnte man spätestens in einigen Jahren belegen, dass kulturelle Verb - - -, sorry: Verödungsprojekte wie das vom Hörfunk-Programmdirektor Gernot Romann erbarmungslos gegen alle Hörerproteste verordnete Tagesprogramm von NDR KULTUR eine treibende Kraft bei der Absenkung des kulturellen Intelligenzquotienten und Genussniveaus gewesen sein wird. Als L.EAR die norddeutsche Klassikwüste kürzlich wieder mal verließ, vernahm er in Hessen (ja, selbst Hessen!), Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg noch richtige Musikprogramme: mehrsätzige Werke, eine ziemlich breite Musik- und Interpretenauswahl, vernünftige An- und Absagen. Beim norddeutschen Dumm- & Dudelfunk war man im Herbst 05 dagegen wieder bei Merca-dante angekommen, jenem italienischen Komponisten des frühen 19. Jahrhunderts, dessen eher grob gestricktes ohrwurmartiges Flötenkonzert-Finale schon im Herbst 04 epidemisch Heide, Deich und Watt beschallt hatte. Im Frühjahr und Sommer 05, so L.EARs subjektiver Höreindruck, hatte es eine Merca-dante-Pause gegeben. (Vielleicht beweisen NDR-Statistiken das Gegenteil - umso schlimmer!) Doch als die Blätter fielen, ging die Mercadante-Chose (Kurzform: Merde) wieder los. Was nur die schon häufiger geäußerte Vermutung bestärkt, dass sich „NDR KULTUR light“ für seine Musik tagsüber keine Programmredakteure mehr leisten muss, weil inzwischen jahreszeitgemäß programmierte Stückauswahlcomputer das Sagen haben. (Wenn nicht: ebenfalls um so schlimmer!) Öffentlich-rechtlich beginnt musikkulturelle Vielfalt somit erst kurz vor Kassel. Ab dort werden dem klassischen Hörertyp auch tagsüber noch zugemutet und zugetraut: Orgelmusik, Streichquartette, Kunstlieder, Bruckner-Symphonien, konzertante Außenseiter wie Schumanns Violinkonzert, Hardcore-Symphonik von Tschai-kowsky, Schostakowitsch oder Pettersson, überhaupt Musik der letzten hundert Jahre, die über Barbers Adagio, Carl-Orffiana burana, Schostakowitschs Jazz-Suiten und schön viel Filmmusik mit Piano & Strings hinausgeht.

So wie das Tagesprogramm von NDR KULTUR inzwischen gestrickt ist, findet L.EAR keine Antwort auf die Frage, warum der NDR sich heute in Hamburg überhaupt noch ein großes Sinfonieorchester halten sollte, das er der noch ungebauten „Elbphilharmonie“ eben gerade als Residenzorchester angedient hat. Braucht man wirklich für ein paar Hände voll Übertragungen von Montagabendkonzerten, für ein paar Wochen Schleswig-Holstein Musikfestival und ein bisschen sonstiges sinfonisches Tourneetheater ein hochqualifiziertes und hochbezahltes Orchester samt entsprechend entlohntem Chef (Christoph von Dohnányi)? Braucht man ein Sinfonieorchester, das von Berufs wegen all die Musik in voller Länge spielen muss, die Radiochef Romann zwischen 6 und 19 Uhr 30 nicht mehr hören (lassen) will? Solch ein elitäres Ensemble passt einfach nicht mehr zum neuen nördlichen Rundfunkprofil? Der NDR sollte konsequent weitersparen - an Niveau und Geld! Nur Mut! !

Manchmal wird L.EAR richtig nostalgisch, wenn er daran denkt, wie er einst kunstmusikalisch sozialisiert wurde. Wenn er sich vorstellt, er wäre heute Teenie oder Twen, kriegt er abwechselnd Depressionen oder pseudokommunistische Anwandlungen. Denn angesichts des norddeutschen Classic-Light-Terrors (nichts gegen Frühklassik, Spätbarock und Slavische Tänze an sich!!) hört er fern am Horizont die Signale von KULTURrevolution & Klassikkampf: Hätte Karl Marx - nicht der glattrasierte Komponist (1897-1985), sondern der starkbärtige Kommunist (1818-1883) - in musikalischen Dimensionen argumentiert, hätte er sich heutzutage die Hände gerieben. Bis vor wenigen Jahren konnten klassikinteressierte Jugendliche mit normalem oder unterdurchschnittlichem Taschengeldeinkommen Tag für Tag musikalische Vielfalt erleben - sofern die Eltern in der Lage waren, ein Radio zu kaufen und vielleicht auch noch die monatlichen Rundfunkgebühren zu bezahlen. Heute gibt's im Norden nur drei Arten, Kunstmusik zu hören: 1. Man beugt sich - falls man sich nicht strikt aufs öffentlich-rechtliche Abend- und Nachtprogramm beschränkt und danach bereichert, aber verkatert sein Tagwerk beginnt - dem Geschmacksdiktat des NDR und löffelt von morgens bis abends akustisches Alete. 2. Man will kein Alete, hat aber Knete genug. Dann kann man die musikkulturelle Vielfalt, die der NDR tagsüber weithin aufgegeben hat, obwohl sie ihm von Staats wegen Tag für Tag aufgegeben ist, durch massenhafte CD-Käufe kompensieren. Woraus mal wieder folgt, dass musikalische Hochkultur primär was für Betuchte ist und gerade wieder demokratisch demontiert wird. 3. Man hat keine Knete für CD-Käufe, doch genügend kulturkriminelle Energie fürs illegale Laden und Brennen. Kürzlich haben wir es ja wieder in Frankreich erlebt: Wer zu kurz kommt, fängt an zu brennen und zu laden. Und wo gebrannt und geladen wird, gibt's irgendwann auch Tote - zumindest tote Musikkultur. L.EARs Nachschlag-Eindruck: Das Tagesprogramm von NDR „KULTUR“ bleibt musikalisch Flachfunk zum Durch- und Abdrehen. Typische Handbewegung von L.EARs Tochter am Autoradio: NDR KULTUR antippen und den Nebenfinger gleich auf die nächste Stationstaste halten.

© 2006 • DIE TONKUNST • http://www.die-tonkunst.de • ISSN 1861-132X,
ursprünglich erschienen unter http://www.die-tonkunst.de/dtk-0601/index.html

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Ein Spot(t)light: „Sie hören jetzt Franz Schuberts ‚Forellenquintett‘. Es spielt das ‚Trio Fontenay‘.“ Und los geht's! Natürlich nicht mit dem ganzen Quintett, sondern - richtig geraten! - mit dem Finale (es ist Sonnabend-Nachmittag). Da L.EAR abschalten musste, hat er nicht mehr erfahren, ob den Hörern bei der Absage noch verraten wurde, wie ein Trio ein Quintett spielen kann...

TONKUNST, Nr. 11/2004, 1. November 2004: L. EAR erscheint