Das GANZE Werk - Presseschau
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 19. Dezember 2005
Jürgen Bertram: „Mattscheibe. Das Ende der Fernsehkultur“
Ein Mann sieht bunt
„Ein fundiertes, aber parteiisches Buch, eines, das eine noble Vision von öffentlich-rechtlichem Rundfunk gegen seine real existierende Variante verteidigt“
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Von Nils Minkmar
Lange war er für die ARD in Asien. Nach seiner Rückkehr erkannte er das deutsche Fernsehen kaum wieder: Überall Königshäuser und Volksmusik. Jürgen Betram hat ein Buch darüber geschrieben: „Mattscheibe“. Eine Abrechnung.
Dies ist die Geschichte eines Mannes, der lange weit weg war. Aus der Ferne schickte er Filmbeiträge nach Hause, ab und zu kamen von dort Kassetten zurück: Loriot, Breloers Fernsehspiele und andere Qualitätsware. Also widmete sich der Mann weiter dem Aufstieg Asiens, den dortigen Umwelt- und Menschenrechtsproblemen, traf Spitzenpolitiker und normale Zeitgenossen, bis es Zeit war, zurückzukehren nach Hamburg, zum deutschen Fernsehen.
Darauf hatte ihn niemand vorbereitet: Sein Sender, der NDR, war zum Spezialsender für die Königshäuser Europas mutiert. In der Regionalberichterstattung glühte immerzu die Lüneburger Heide, und im Ersten: Volksmusik. Dann kam irgendwann der Abend, an dem in der „Tagesschau“ gemeldet wurde, daß ein gewisser Daniel Küblböck einen Gurkenlaster gerammt hatte. Fehlte nur noch ein „Brennpunkt“ zum Schicksal der betroffenen Gurken.
Zwischen PR-Interesse und Eitelkeit
Jürgen Bertram erkannte das Fernsehen nicht wieder. Sicher, alle Medien hatten sich seit den achtziger Jahren verändert, die Werbung und die Marken hatten den Alltag kolonisiert, aber es hatten sich doch auch Reservate der Seriosität behaupten können: Deutschlandfunk und Deutschlandradio, Qualitätszeitungen, selbst in den marktbegeisterten angelsächsischen Ländern gab es PBS, BBC und in Australien die ABC, die stolz und mit guten Resultaten ihre öffentlich-rechtliche Differenz zu behaupten wußten.
Aber hier gab das Fernsehen sich geradezu lüstern allen möglichen Interessen hin: denen der Parteien, der Wirtschaft, der Verbände, ihrer PR-Agenturen und auch der Eitelkeit seiner Verantwortlichen. Bertram, der seine Karriere als Reporter beim „Spiegel“ begonnen hatte, dann bei „Panorama“ landete und schließlich die ARD-Büros in Singapur und Peking leitete, staunte.
Er war nicht der einzige. Viele Kollegen aus dem NDR und anderen ARD-Anstalten waren derselben Meinung, aber sie hatten ihren Frieden mit den Verhältnissen gemacht oder versuchten, sich im Labyrinth der ARD-Gremien zu behaupten. Die meisten aber zuckten mit den Schultern und lästerten unter vier Augen ab.
Buch der Erinnerung und des Staunens
Denn mit Kritik an den Zuständen, an der Philosophie des Senders an die Öffentlichkeit zu gehen ist paradoxerweise in öffentlich-rechtlichen Anstalten die große Ausnahme. Die Angst vor interner Disziplinierung sitzt tief. Jürgen Bertram, der vom NDR eine Pension bezieht und der von daher durchaus ein Risiko eingeht, hat das Thema aber nicht losgelassen. Statt in Telefonaten mit ehemaligen Kollegen oder an den Theken der Hansestadt Dampf abzulassen, hat sich Bertram in die Recherche vertieft, ist herumgereist, hat sich in der ihm fremden Welt der Volksmusik umgesehen und -gehört und endlose Gespräche mit Betroffenen und Experten geführt. Und daraus ist ein Buch geworden, ein fundiertes, aber parteiisches Buch, eines, das eine noble Vision von öffentlich-rechtlichem Rundfunk gegen seine real existierende Variante verteidigt.
Es ist ein Buch der Erinnerung und des Staunens: Über die Logos von gebührenfinanzierten Sendern auf Volksmusik-CDs, über die Häufigkeit von „Brennpunkten“, selbst zum Thema Schnee im Winter. Und es ist auch ein Buch über Hamburg und seine Entwicklung als Medienstadt, von den Radiofeatures eines Heinrich Böll zu den Abenteuern eines Dieter Bohlen. Es beschreibt die Entwicklung, welche die große Rundfunkanstalt im Norden genommen hat, vom kritischen, aufklärerischen und hochkulturellen Ethos des NWDR und seines Gründers Hugh Carleton Greene, dem Bruder von Graham, zum unübersichtlichen, vielfachen Einflüssen ausgesetzten NDR. Die ersten Jahre schildert Bertram als Zeit des Aufbruchs, des Sichbehauptens gegen Widerstände, der heftigen Konflikte mit politischen Autoritäten. An der feinen Rothenbaumchaussee war der Sender angesiedelt, mitten im Leben. Und heute?
Durchs Parteibuch auf die besten Posten
„Den abweisend grauen, mit Antennen und Satellitenschüsseln bewehrten Fernseh-Komplex des Norddeutschen Rundfunks begrenzt im Osten ein Streifen von Schrebergärten, deren Dekor sich, wie mancher Sendetag im Dritten Programm, zu einem deutschen Idyll arrangiert: Windmühlen surren. Rotkehlchen hüpfen. Häschen hoppeln. Auch der Gartenzwerg behauptet seinen Stammplatz unterm Fliederbusch.“ Etwas weiter entdeckt er auch noch rechtsradikale Parolen an einem Container für Kleiderspenden. Und er erkennt die Symbolik zukünftiger Aufgaben: „Dem Idyll mißtrauen, statt es zu bedienen, und der Gefahr, daß Sentimentalität und Populismus umschlagen in Radikalismus und Gewalt, durch konsequente Aufklärung und Kritik begegnen.“
Doch „Mattscheibe“ ist auch Geschichtsschreibung, hält solche Themen fest, die ansonsten nur im Flurfunk überliefert werden. Bertram erinnert durchaus selbstkritisch an die heftigen Auseinandersetzungen zwischen linken und rechten Journalisten, an die Fortsetzung des Kalten Kriegs in den Funkhäusern der siebziger und achtziger Jahre. Er schont sich nicht. Er berichtet von der großen Zeit des politischen Magazins „Panorama“ unter Peter Merseburger und beschreibt, wie dort Andersdenkende mit kühler Arroganz und sozialer Isolierung fertig werden mußten. Fernsehen sollte nie unpolitisch sein, aber die Lagerbildung in den öffentlich-rechtlichen Sendern hat, nach Bertrams Erinnerung und Analyse, das System insgesamt geschwächt, nicht zuletzt, indem schwächere Journalisten durch das richtige Parteibuch auf die besten Posten kamen.
Ein lange nicht mehr gehörtes Adjektiv: affirmativ
Heute sei der Typus des Multifunktionärs verbreitet, der ebenso eine Versicherung verwalten könnte. Denn noch etwas anderes hat die Sender kolonisiert, in ebenso starkem Maße wie die Parteien, nämlich der Markt in seinen zwei Darreichungsformen: als Quote und, ganz einfach, mit Geld.
An manchen Stellen wirkt das Buch geradezu naiv, etwa wenn sich Bertram darüber wundert, daß Reisereportagen mit finanzieller Unterstützung der dargestellten Länder produziert werden, so wie ihm ein Kameramann nach einem Trip in ein arabisches Emirat berichtet, der „Scheich habe alles bezahlt“. Und zur Beschreibung der so entstandenen Filme benutzt er ein Adjektiv, das man lange nicht mehr gehört hat: affirmativ. Und das habe Folgen: Als Australienkenner hätte ihn der Ausbruch der rassistischen Unruhen nicht gewundert. Aber den Zuschauer, der nur gesponserte Filme über lustig herumtollende Koalas und Jogger in Sidney gesehen hat?
Unzeitgemäße Fragen
Nicht nur in der Auslandsberichterstattung, selbst im Regionalprogramm finden sich zahlreiche Beispiele, wie die Programmacher noch Unterstützung kassieren, wie Diätratgeber mit erwerbbaren Diätprogrammen kooperieren oder Tourismustips das Café der Ehefrau des Filmemachers empfehlen.
Besonders groß wird das Erstaunen bei zwei Themen, die sich im Programm des NDR so übermäßig wiederfinden, der Volksmusik und den Königshäusern. Ist Monarchie denn noch zeitgemäß?, so müßte, wenn es nach Jürgen Bertram ginge, die Leitfrage bei einer angemessen knappen Übertragung einer königlichen Hochzeit heißen; und warum nicht einen Psychologen mit der Frage nach der Deutung der Massenbegeisterung für Könige beauftragen?
Ruf der Berge statt Live-Schaltung nach Brüssel
Der vergangene Freitag war wieder so ein Jürgen-Bertram-Abend: Während die BBC im Halbstundentakt nach Brüssel schaltete, um von dort das Neueste vom Britenrabatt zu erfahren, ertönte im Ersten der Ruf der Berge, „präsentiert vom Romantikherz der Fernsehwoche“, im MDR sang Tom Astor Weihnachtslieder, im RBB wurden Kaninchen vorgestellt, und im Norden wurde ein übergewichtiger Moderator nach seiner Diät befragt. Es war ein Panorama wie aus Fellinis seherischem fernsehkritischem Film „Ginger und Fred“ von 1983 - bloß daß es dem um italienisches Privatfernsehen ging.
Sicher, im badewannenwarmen, immertürkisfarbenen Meer ununterscheidbarer Programme lassen sich auch an einem solchen Abend einige Bänke der Aufklärung finden, der „Bericht aus Berlin“ oder „Aspekte“. Aber eigentlich leisten wir uns öffentlich-rechtliches Fernsehen, damit dieses Verhältnis genau umgekehrt ist. Um an diese Selbstverständlichkeit zu erinnern, muß man wohl lange weit weg gewesen sein. Besonders hart trifft es in „Mattscheibe“ übrigens den Chef des Ganzen, den ewigen NDR-Intendanten Jobst Plog: Er kommt nur ganz am Rande vor.
Jürgen Bertram: „Mattscheibe. Das Ende der Fernsehkultur“, Fischer Taschenbuch, 2005. 240 Seiten, 8,95 Euro.
Aufruf der Initiative „Qualität statt Quote“