Das GANZE Werk - Presseschau
DIE ZEIT, Gedruckte Ausgabe, 17. März 2005
Anlässlich der Anhörung der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages "Kultur in Deutschland" am 18. April
Orchester statt Autos!
In Sachen Musik ist Deutschland Exportnation Nummer eins - auch dank der Klangkörper des Rundfunks.
Jetzt werden sie totgespart.
Von Ernst Elitz
Ohne die Rundfunkorchester würde die deutsche Musikkultur Schaden nehmen. Auch für sie gilt die Bestands- und Entwicklungsgarantie, die das Bundesverfassungsgericht dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk zuerkannt hat. In Sicherheit dürfen die Ensembles sich trotzdem nicht wiegen. Sie müssen Privilegien abgeben, sich am Kulturauftrag des Rundfunks orientieren und den Gebührenzahler als Anteilseigner, Auftraggeber und Kunden behandeln, der täglich neu gewonnen werden will. Ernst Elitz |
Die Medienpolitik hat eine Großtat vollbracht. Am 1. April tritt der 8. Rundfunk-Änderungsstaatsvertrag in Kraft, und der Bürger wird statt 1,09 Euro pro Monat nur 88 Cent mehr Rundfunkgebühr zu zahlen haben. Er kann die gesparten 21 Cent für andere nützliche Dinge ausgeben - für DVDs aus der Videothek an der Ecke, für Anrufe beim Abzocksen der Neun Live oder für Abogebühren beim wirklich teuren Gebührenfernsehen Premiere. Dennoch werden sich die Dankesprozessionen vor den Staatskanzleien in Grenzen halten. Der Protest gegen die drohende Abwicklung von renommierten Orchestern und Chören dürfte dagegen umso größer sein. Noch sind es 23 Orchester und Chöre unterschiedlicher Größe und unterschiedlichen Profils, die mit jährlich 1300 öffentlichen Auftritten in heimischen Konzertsälen, in Europa und auf anderen Kontinenten die Musiknation Deutschland repräsentieren. Mit künstlerischen Leitfiguren wie Mariss Jansons und Marek Janowski, mit Kent Nagano und Christoph Eschenbach sind wir Exporteur Nummer eins in Sachen Musik. Warum müssen es immer nur Autos, Werkzeugmaschinen und Spürpanzer sein, mit denen wir auswärts auf uns aufmerksam machen? Warum nicht Musik?
Diese Frage scheint auch andere zu bewegen. Zum Wochenende verschickte die Enquete-Kommission Kultur des Deutschen Bundestages unter der Abgeordneten Gitta Connemann einen Fragebogen für eine Anhörung über die "Rolle der öffentlich-rechtlichen Medien für die Kultur", in dem sie unter anderem wissen will: "Warum werden künstlerisch anerkannte Rundfunkorchester zunehmend zur Disposition gestellt? Wer ist verantwortlich für die eingeleiteten Auflösungen und Planstellenreduzierungen?" - Gute Frage. Die Auflösung von Rundfunkorchestern war eine von den Ministerpräsidenten Stoiber (CSU), Milbradt (CDU) und Steinbrück (SPD) parteiübergreifend geforderte Sparmaßnahme. Sie wurde dort nicht ungern gehört, wo Intendanten schon seit Jahren unter der Last unflexibler Orchester-Tarifverträge und Stargagen stöhnten. Sie wurde dort mit Schrecken registriert, wo die Rundfunkorchester die musikalische Grundversorgung ganzer Regionen sicherstellen und wo diese Ensembles sich als Experimentierstudio für Neue Musik, als musische Bildungsinstitution für die Jugend und als Entdecker vergessener Werke der Musikgeschichte verstehen.
Diese Aufgaben haben den Rundfunk seit seiner Gründung begleitet. Als am 29. Oktober 1923 in Berlin die erste Radiostunde ausgestrahlt wurde, gab es keine Sportreportage und keinen Börsenbericht, sondern es erklang ein Cellosolo von Kreisler. Der Rundfunk vergab schon in den zwanziger Jahren Kompositionsaufträge an junge Komponisten wie Franz Schreker, Ernst Toch, Walter Braunsfeld und Werner Egk. Und ohne die systematische Förderung durch Redaktionen und Radioensembles wären Pintscher oder Stockhausen kaum jenseits kleiner Bekennerkreise bekannt geworden. Schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg wandten sich die Rundfunksinfonieorchester Komponisten zu, die während der nationalsozialistischen Diktatur als "entartet" galten. Bis heute setzen sie mit den Werken verfolgter und ermordeter Komponisten Schwerpunkte und arbeiten so einen Teil der deutschen Musikgeschichte auf. Sie ebnen den zu Unrecht Vergessenen den Weg ins Standardrepertoire. So sind Rundfunkorchester zu einem unverzichtbaren Partner der CD-Industrie geworden. Dieser Einsatz jenseits des Mainstreams kann und darf sich nicht an den aktuellen Vorlieben des Musikmarktes und an schneller Amortisation orientieren.
Damit ist auch schon eine andere Frage aus dem Katalog der Enquete-Kommission beantwortet: "Inwieweit gehört der Unterhalt von Klangkörpern zum Grundversorgungsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks?" Genau aus solchen Gründen. Umso bitterer, wenn Politiker, die erst der Kulturförderung wie der Eigenheimzulage als unnützem Subventionstatbestand mit dem Rasenmäher zu Leibe rückten, ein paar Tage später mit dem gleichen Sachverstand Rundfunkorchester wie Wasserwerke fusionieren und wie ausgeplünderte Kohlezechen stilllegen wollen. Die Ersten, die es traf, waren das in der zeitgenössischen Musik wegweisende Vokalensemble in Stuttgart und das für seine Bildungsarbeit hoch gerühmte Rundfunkorchester aus Bayern. Dass die Schließungs- und Halbierungsurkunden noch nicht ausgefertigt sind, ist der Einsicht zu verdanken, dass Finanzströme umgelenkt werden können und dass der praktizierte Kulturauftrag dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk mehr Zukunftssicherheit bringt als Megamix-Radio, Karl Moik, unser täglicher Pastor Fliege oder Profiboxen.
Für ihren Erhalt haben die Rundfunkensembles eine mehrfache Legitimation. Die kreative Arbeit am klassisch-romantischen Repertoire kann nur von Musikern geleistet werden, die nicht unter dem Druck kommerzieller Erlöserwartungen stehen. Zudem ist das kommerzielle Musikgeschäft über Verlage, Musikpresse, Konzert- und Künstleragenturen mit dieser kreativen Arbeit eng verbunden. Aus dem Zusammenwirken, so schrieben 1989 Karla Fohrbeck und Andreas Wiesand in einer Studie über den WDR als Kultur- und Wirtschaftsfaktor, entstünden neben dem geldwerten Vorteil für die Musikindustrie auch ein "musikalisches Klima wechselseitiger Geschmacksbildungsprozesse".
Das Kultur- und Musikpublikum von morgen ist damit noch nicht gewonnen. Der öffentlichrechtliche Bildungsauftrag verpflichtet auch zur musikpädagogischen Arbeit mit Schülern, Familien und jenen Bevölkerungsgruppen, die eine Scheu vor der Feierlichkeit eines Philharmoniebesuches verspüren. Einführungsvorträge, Themenkonzerte, Probenbesuche, moderierte Programme - das sind Angebote, wie sie nur im Zusammenwirken von Fachredakteuren und pädagogisch geschulten Musikern gemacht und in Radiosendungen verstärkt werden können. Es wirft ein bezeichnendes Licht auf die populistische Blendung so genannter Kulturpolitiker, dass sie für die Aufnahme deutschsprachiger Titel in das öffentlich-rechtliche Angebot demonstrierten, während sie diesen wichtigen musikalischen Bildungsaufgaben nicht mal einen aufmunternden Seitenblick gönnten.
Wo der Musikunterricht an Auszehrung leidet und die Kämmerer sich bei leeren Kassen als Sterbehelfer kommunaler Orchester verstehen - häufig verstehen müssen -, gewinnt der Begriff der Grundversorgung eine neue Bedeutung. Aber er kollidiert in der Praxis mit lieb gewordenen Gewohnheiten der Rundfunkmusiker und ihrer Stardirigenten. Der Beifall in Tokyo oder Montreal klingt süßer als in Hamm oder Passau. Und mit durchschnitdich vierzig Pflichtdiensten à 2,5 Stunden pro Monat (macht hundert Stunden) und großzügigen Vertretungsregelungen hat ihre Gewerkschaft, die Deutsche Orchester-Vereinigung (DOV), Arbeitsbedingungen erkämpft, von denen die IG Metall selbst in ihren besten Steinkühler-Tagen nicht zu träumen wagte. Dass die restliche Zeit fürs Probieren und für die Schonung von Fingern, Gelenken und Stimme gebraucht wird, klingt trefflich, wird in der Praxis aber durch den Eifer konterkariert, mit dem viele Musiker außerhalb ihrer Ensembles auftreten und sich als Musiklehrer ein Zubrot verdienen. Die DOV hat Besserung angekündigt, und die ARD ist geneigt, eine Forderung aus ihrem Jahrbuch 1996 umzusetzen - nicht länger "an Bedingungen festzuhalten, die vor einem Vierteljahrhundert tarifiert wurden". Unter derart veränderten Arbeitsbedingungen wäre nicht nur mehr Zeit für die Bildungsarbeit gewonnen. Die Ensembles könnten neben dem künstlerisch notwendigen internationalen Benchmarking häufiger im eigenen Sendegebiet gastieren. Wer vom Gebührenzahler entlohnt wird, muss zum Gebührenzahler gehen und darf nicht erwarten, dass der sich regelmäßig in den Regionalexpress setzt, um den Musikern in der Landeshauptstadt seine Aufwartung zu machen.
Bleiben ein paar Widersprüche, die den Rundfunkanstalten und ihren Ensembles nicht anzulasten sind. Warum müssen Orchestermusiker auf Lebenszeit angestellt sein? Wenn Etateinschnitte keine Einstellungen mehr erlauben und das Arbeitsrecht einen Austausch unmöglich macht, dürfte der Konzertbesucher eines Tages im Programmheft lesen: "Wenn auch die Qualität des Orchesters zu wünschen übrig lässt, so wurde doch werkgetreu nach den Noten des deutschen Arbeitsrechts gespielt." Und warum sind die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs (KEF) und die Rundfunkkommission der Länder, die in ihrem Kameralisteneifer 0,75 Prozent des Gesamtetats fürs Online-Angebot der Öffentlich-Rechtlichen erwarten, 1 Prozent fürs Marketing und 2 Prozent für den Personalhaushalt, samt 0,5 Prozent Rationalisierungsabschlag, noch nicht auf die Idee gekommen, einen Prozentanteil für Orchester und Chöre vorzugeben? Beim Deutschlandradio sind es 6 Prozent.
Warum erklären sich Länder und Kommunen nicht bereit, gemeinsam mit dem Rundfunk eine Strategie für das musikalische Angebot in den Regionen zu entwickeln? Ein Beispiel bietet die Berliner Rundfunk Orchester und Chöre GmbH (roc berlin), in der neben dem Rundfunk auch die Bundesregierung und das Land Berlin Anteile halten und damit sowohl das musikalische Angebot in der Region wie die Produktion fürs Radio und neuerdings den Einsatz der Ensembles weltweit für die Deutsche Welle ermöglichen. Warum wird, wenn es um Rundfunkorchester geht, so gern aufs Ausland verwiesen, wo es keine oder nur wenige solcher Ensembles gibt? In den Vereinigten Staaten wird Musik privat finanziert, und die meisten Amerikaner haben noch nie ein Konzerthaus von außen gesehen.
Das mangelnde kulturelle Selbstbewusstsein der Politik zeigt sich auch darin, dass sie in Bereichen, in denen Deutschland weltweit als Vorbild gilt, immer noch nach ausländischen Vorbildern sucht. Ohne die Rundfunkorchester würde die deutsche Musikkultur Schaden nehmen. Auch für sie gilt die Bestands- und Entwicklungsgarantie, die das Bundesverfassungsgericht dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk zuerkannt hat. In Sicherheit dürfen die Ensembles sich trotzdem nicht wiegen. Sie müssen Privilegien abgeben, sich am Kulturauftrag des Rundfunks orientieren und den Gebührenzahler als Anteilseigner, Auftraggeber und Kunden behandeln, der täglich neu gewonnen werden will. Wenn dann noch ein Wunder geschieht, könnte die Politik die Rundfunkorchester eines Tages für wichtiger halten als die Quote für deutsche Musik.
Ernst Elitz ist Intendant des Deutschlandradios