Das GANZE Werk - Presseschau
Wenn die Musik stirbt
Kommentar auf Seite 1 der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Von Wolfgang Sandner
"Die Gesellschaft verzeiht oft dem Verbrecher, niemals aber dem Träumer. Die schönen, zweckfreien Stimmungen, die die Kunst in uns weckt, sind ihr verhaßt." Oscar Wilde, der kluge Dichter im Zynikerpelz, hat seinen Finger auf die richtige Stelle gelegt. In Krisenzeiten aber verstärkt sich der Argwohn gegen die Träumer noch. Naturgemäß, würde Thomas Bernhard sagen. Denn wie in der Geschichte von der Feldmaus Frederic, die im Sommer offenbar nur herumlungert und Farben und Klänge sammelt, während die anderen Mäuse Vorräte für den Winter anlegen, wird dann sehr schnell die Frage gestellt: Und was machst du für uns? Aber die Antwort der Kindergeschichte bleibt in der Erwachsenenkrise aus: Ich unterhalte euch mit meinen klangfarbenfrohen Geschichten in der kalten Jahreszeit, wenn die Vorräte aufgebraucht sind und die Depression sich in euren grauen Mäusegesichtern zeigt.
Wer wollte heute ernsthaft bestreiten, daß der Staat auch in der Kulturpolitik sparen müßte? Die Frage ist nur, ob die Krise nicht der Gesellschaft auch als Vorwand dient, ein paar unliebsame Träumer loszuwerden. Der Eindruck drängt sich zumindest auf bei der immer schneller galoppierenden Orchesterschwindsucht und den Diskussionen über die Preisgabe von gewachsenen Kulturinstitutionen wie vor Jahr und Tag bei der später auf öffentlichen Protest hin zurückgenommenen Entscheidung, die Donaueschinger Musiktage, das traditionsreichste und international bedeutendste Festival für Neue Musik, sanft entschlafen zu lassen. Und wie jetzt bei den unseligen Überlegungen, das Stuttgarter Eclat-Festival einzustellen, sich vom Vokalensemble des Südwestrundfunks zu trennen und möglicherweise auf lange Sicht sogar das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart mit dem Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg zu fusionieren.
Das reiht sich ein in die Absichten, die Orchester in Mainz, Ludwigshafen und Koblenz zusammenzulegen oder das Rundfunkorchester des Bayerischen Rundfunks sterben zu lassen. Und es steht in dem mittlerweile eine ungute Tradition begründenden Zusammenhang von siebenunddreißig Auflösungen und Abwicklungen von Orchestern in den letzten fünfzehn Jahren hierzulande. Wer da immer noch beschwichtigend vom Paradies für Orchestermusiker spricht, um das uns das Ausland beneide, dem sei ein etwas verrückt anmutendes, aber dennoch überlegenswertes Zahlenspiel unter die hochgereckte Nase gehalten: Sechzehn Sinfonieorchester für fünf Millionen Einwohner wie in Finnland entsprächen pro Kopf gerechnet mehr als zweihundertfünfzig Orchestern für achtzig Millionen Einwohner in Deutschland. Tatsächlich sind es aber mittlerweile nur noch einhundertvierzig. In ähnlicher Weise hat vor Jahren schon der Schweizer Musiker und Autor Urs Frauchiger das Spiel mit Zahlen ad absurdum geführt, als er der ebenso aberwitzige Züge annehmenden Diskussion in Rundfunkanstalten, man müsse dem allgemeinen Hörerwunsch nach populärer Musik mehr Rechnung tragen, entgegenhielt: Wenn tausend Hörer Pop wollten und ein Hörer klassische Musik, dann bedeute das nicht, der Rundfunk müsse tausendmal soviel Pop wie Klassik ausstrahlen. Eine Stunde Klassik und eine Stunde Pop wären in diesem Falle eine demokratische Entscheidung und zugleich ein Minderheitenschutz. Denn die tausend Popfans würden mit ihrer gleichzeitig gehörten Sendung in derselben Weise bedacht wie der einsame Klassikliebhaber.
Da wir schon bei Absurditäten sind, wären auch die Fusionsträume von Kulturpolitikern ins Auge zu fassen. Nur Menschen, die sich mit den Strukturen und Aufgaben von Orchestern nie befaßt haben, können ernsthaft vorschlagen, das Opernorchester in Mainz mit dem Sinfonieorchester in Ludwigshafen zu einem chimärischen Superorchester zu verbinden. Der Gedanke besitzt ähnliche Plausibilität wie die Idee, das Arbeitsamt in Würzburg mit der Polizei in Bamberg zusammenzulegen, da ja an beiden Orten vorwiegend Beamte tätig seien, die alle mit einem Stempel umgehen könnten.
Die jetzt wieder verstärkt einsetzenden Überlegungen, die Zahl der Orchester zu reduzieren, werden unter anderem damit begründet, daß die von den Ministerpräsidenten bewilligte Erhöhung der Rundfunkgebühren unzureichend gewesen sei. Bei einer Erhöhung von 88 Cent pro Monat statt der geforderten 2,01 Euro könne man sich kostspielige Ensembles nicht mehr leisten. Es überschreitet freilich schon die Grenze zum Zynismus, in diesen Zeiten, da viele große Wirtschaftsunternehmen wie Opel und Karstadt mit roten Zahlen kämpfen, sich darüber zu beklagen, daß man nur vierhundert Millionen Euro mehr erhalte. Mit der Erhöhung um 88 Cent wächst der laufende Gebührenetat von ARD und ZDF immerhin auf insgesamt rund 7 Milliarden Euro.
Man muß hier noch einen Begriff näher betrachten, der in solchen Diskussionen immer wieder verwendet wird und den auch der Intendant des Südwestrundfunks, Peter Voß, in seiner Informationsvorlage für die gestrige Rundfunkratssitzung benutzte: Mäzenatentum. Ein eigener Klangkörper sei für den Rundfunk eine mäzenatische Leistung. Ob sich Herr Voß da - wie viele, die sich auf die von Gaius Maecenas ausgehende Idee berufen - nicht in der Terminologie vergriffen hat? Ist Herr Voß vielleicht wie Karl V., der Tizian den heruntergefallenen Pinsel aufhebt, weil er meint, nichts sei natürlicher, als daß ein Meister wie Tizian von einem Kaiser bedient werde? Hat Herr Voß, wie die Fürsten der Renaissance, Künstler freiwillig aus der eigenen Tasche bezahlt? Es sind unsere Gebühren und Steuergelder, die dem Bildungs- und Kulturauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks dienen sollen, keine huldvoll gewährten Donationen. Wenn sie nicht in unserem Sinne verwendet werden, müssen wir über den Sinn dieses Rundfunks und die Eignung seines höchsten Vertreters nachdenken.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.12.2004, Nr. 284 / Seite 1