Das GANZE Werk - Presseschau

Lübecker Nachrichten, 15. Oktober 2004

Programmreform bei NDR Kultur sorgt für Misstöne:
Musikliebhaber organisieren Postkartenaktion für längere Titel

Klassikfans fordern „das ganze Werk“

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Von Petra Haase

REINBEK -Wie speziell kann und sollte ein gebührenfinanziertes Radioprogramm sein? Muss es bestimmte Sparten bedienen, oder sollte es sich eher dem Mainstream anpassen, um Hörer zu halten beziehungsweise neue zu gewinnen? NDR Kultur entschied sich Anfang dieses Jahres für letzteres - und das Konzept ging auf. Mit mehr aktuellen Beiträgen und kürzeren Musikstücken darf sich der Kulturkanal über eine steigende Resonanz freuen: 240.000 Hörer ergab die jüngste Mediaanalyse, 40.000 mehr als im Januar. Klingt gut - allerdings nicht für eingefleischte Klassikfans, die sich maßlos über die Klassik-Light-Variante, wie sie es nennen, ärgern. Wie der Reinbeker Gymnasiallehrer und Präsident der Hamburger Telemann-Gesellschaft Theodor Clostermann, der Mitte des Jahres die Gründung der Hörerinitiative „Das ganze Werk“ initiierte. Über 600 Mitglieder und knapp 1500 Unterstützer fordern, dass zwischen 6 und 19 Uhr vier Stunden lang Musik am Stück gespielt wird, nicht unterbrochen von Wortbeiträgen, Jingles und Eigenwerbung. Derzeit würden durchschnittlich alle siebeneinhalb Minuten die Titel gewechselt, so Clostermann. Er hält es zwar grundsätzlich für richtig, neue Hörer für Kunst und Kultur zu interessieren, sieht NDR Kultur aber auf dem falschen Pfad. Laut einer noch nicht veröffentlichten Studie würden junge Klassik-Light-Hörer die Musik als eine Art von Pop konsumieren und nicht als Einstieg in ernsthafte Klassik.

Der NDR kann der Argumentation Clostermanns nicht folgen. „Die Forderung nach vier Stunden Klassik en suite ist ähnlich unrealistisch, als würde man den Lübecker Nachrichten auferlegen, täglich eine Novelle oder eine Erzählung, im günstigsten Fall von Thomas Mann, abzudrucken“, so die Stellungnahme von Gernot Romann, NDR-Hörfunk-Programmdirektor, gegenüber den LN. Der Initiativkreis verkenne die Funktion des Mediums Radio und die Nutzungsgewohnheiten der Hörer.

Zu einem direkten Schlagabtausch zwischen Programmbefürwortern und Gegnern kam es noch nicht. Eine Diskussionsrunde, die bei NDR Kultur ausgestrahlt werden soll, scheiterte bisher an Vorbehalten der Initiative (sie darf nur einen Vertreter schicken, die Sendung soll aufgezeichnet werden). Mit einem Brief vom 23. September habe man dem NDR allerdings die Zustimmung zu diesen Bedingungen signalisiert, so Theodor Clostermann.

Wie ernst es den Klassikfans mit ihren Forderungen ist, wird in den kommenden Monaten eine vom „Ganzen Werk“ organisierte Postkartenaktion zeigen. Gefragt wird grundsätzlich, ob NDR Kultur tagsüber mindestens vier Stunden lang ganze Werke senden soll oder ob das Programm so bleiben soll, wie bisher. Eine Karte geht an die Initiative, eine an den NDR. Die Aktion läuft bis Januar, zur Tagung des NDR-Rundfunkrates. „Das Interesse ist enorm, wir kommen kaum hinterher“, freut sich Clostermann über die Resonanz.

Postkartenbestellungen:
„Das ganze Werk“, Theodor Clostermann,
Sandkamp 4, 21465 Reinbek,
tact.htg@t-online.de

Aktueller E-Mail-Kontakt: dgw-nord@t-online.de (dgw-nord@t-online.de)

PS: Die vom NDR angegebene

    Forderung nach vier Stunden Klassik en suite

ist eine Erfindung und Fehlinformation des Senders. Ähnliches geschah aus Anlass der NDR-Stellungnahme in der taz vom 15. Oktober 2004. Statt dessen erwartet die Initiative „Das Ganze Werk“ von NDR Kultur,

    dass er täglich zwischen 6 und 19 Uhr mindestens 4 Stunden lang Musiksendungen bringt, (...) die nach ihrem jeweiligen Beginn durch keine Reportage, Rundfunkeigenwerbung oder Erkennungszeichen (Jingle) gestört werden. Diese Sendungen könnten unter dem Titel „Konzert am Morgen“, „Konzert am Mittag“ und „Konzert am Abend“ laufen.

So steht es in der Resolution der Initiative.