Das GANZE Werk - Presseschau
Kreiszeitung Syke, 3. August 2004
Im Presto durch die Musikgeschichte
Die Gegner der Programmreform bei „NDR Kultur“ gründen eine Initiative: „Das ganze Werk“
Von Johannes Bruggaier
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HAMBURG Es gibt sie noch: anspruchsvolle Radiohörer, die um ihre Kultur kämpfen. Während unsereins das Radio längst resigniert abgeschaltet hat, verfolgen manche Musikfreunde Tag für Tag das freundlich-belanglose Geplätscher „reformierter“ Klassik-Sender, obgleich es ihnen keinerlei Freude zu bereiten vermag. Fleißig notieren sie sich jedes gespielte Werk, penibel berechnen sie, zum wievielten Mal es gesendet worden ist. Was versprechen sie sich davon? Eine Dokumentation unseres kulturellen Niedergangs? Oder glauben sie etwa an einen Sieg gegen die alles niederwalzende Unterhaltungs-Branche?
Es geht um den Norddeutschen Rundfunk (NDR). Und es geht um seine Gegner, die doch eigentlich nur seine Hörer sein wollen. Seit Monaten kämpfen diese gegen die Reform des Spartenprogramms „NDR Kultur“. Nun spitzt sich der Streit zu: Die Kritiker haben sich in Hamburg unter dem Namen „Das ganze Werk“ zu einem Initiativkreis zusammengeschlossen. Nach Angaben einer Pressemitteilung sollen ihm unter anderem Künstler wie das Ensemble „L‘art pour l‘art“, Hochschul-Professoren und Kirchenchöre angehören. Ausgegangen ist die Initiative von der Hamburger Telemann-Gesellschaft, die sich bereits mit einer Resolution an den Sender gerichtet hatte.
Der Stein des Anstoßes ist im Titel der neu gegründeten Initiative zu finden, oder besser gesagt: in dessen Verneinung. Denn „das ganze Werk“ ist nichts anderes als das, was sich die NDR-Hörer sehnlichst wünschen, aber nicht erhalten. Was sie vom musikalischen Kuchen tatsächlich abbekommen, ist hingegen nicht die Hälfte, nicht das Viertel, nein; allenfalls ein Restbestand, gerade einmal ein paar Krümel. Die Kritik richtet sich also gegen die Zerstückelung klassischer Werke in einzelne „Hits“, häufige Wiederholungen und die Konzentration auf eingängige Stücke.
Der NDR indes wirft seinen Kritikern vor, ein Radioprogramm mit einem Konzertsaal zu verwechseln. Wer tagsüber eine ganze Sinfonie oder gar eine komplette Oper hören möchte, beschied erst kürzlich der Programmchef Gernot Romann, der möge sich doch einfach eine CD oder eine Schallplatte auflegen.
Ach, ginge es doch nur um ganze Sinfonien und Opern! Bei einem Blick auf den alltäglichen Programm-Mix muss den Reform-Gegnern dieser Vergleich zynisch erscheinen. In einem Zeitraum von zwölfeinhalb Stunden sei auf „NDR Kultur“ ein „Potpourri“ aus 95 Musiktiteln zu hören, heißt es von Seiten des Initiativ-Sprechers Theodor Clostermann. Damit werde im Schnitt alle siebeneinhalb Minuten ein neues Musikstück gestartet: „Was kann das dann schon sein? Eine Ouvertüre oder ein Satz, ein Ausschnitt aus einer längeren Komposition.“
Allein vom 17. Mai bis zum 26. Juni habe der Sender fünfzehnmal den ersten Satz des dritten Brandenburgischen Konzertes von Johann Sebastian Bach gespielt, rechnet Clostermann vor. Im selben Zeitraum sei der Satz „Saltarello“ aus Mendelssohns „Italienischer Sinfonie“ ganze zehnmal zu hören gewesen.
Wer es nicht glaubt, der kann den pluralistischen Wahnsinn nun schwarz auf weiß nachlesen. Auf ihrer Internetseite „www.dasganzewerk.de“ präsentiert die Initiative eine täglich aktualisierte Liste der „Hits“ auf „NDR Kultur“. Was dort geschrieben steht, mutet an wie ein Versuch für das „Guinness Buch der Rekorde“: im Presto vivace durch die Musikgeschichte. Nicht weniger als 20 Stücke – vielmehr: Stückchen – wurden demnach gestern zwischen 6 und 8.30 Uhr gesendet. Weitere 30 folgten von 9 bis 13 Uhr. Tatsächlich befindet sich darunter der erste Satz des dritten Brandenburgischen Konzertes – versehen mit einer Anmerkung der Initiative: „unschlagbar? – seit Mitte Mai zum 17. Mal – welches Stück bringt es auf mehr?“ Aber auch Häppchen wie das Prélude aus der Carmen-Suite Nr. 1 oder die „Rejouissance“ aus Händels „Feuerwerksmusik“ stehen auf der Speisekarte des medialen Fast-Music-Restaurants. Den ersten Satz aus Johann Christian Bachs G-Dur-Sinfonie gab es gleich zweimal: einmal morgens zum Frühstück („klassisch in den Tag“) und einmal zum Mittagessen („Matinee“). Ist das alles überhaupt wahr? Ja, das ist es. Denn in der Tat ist die Liste auch auf der Homepage von „NDR Kultur“ zu finden. Unter „www.ndr-kultur.de“ kann man das tägliche Programm herunterladen. Es sind bis zu fünf Seiten pro Sendung. Das findet in keiner Programmzeitschrift Platz.