Das GANZE Werk - Presseschau
Hannoversche Allgemeine Zeitung (HAZ), 27. Mai 2004
Reform aus der Dose
Es lebe die heitere Grundstimmung: Das flachgelegte Programm von NDR Kultur stößt auf Widerstand
Von Volker Hagedorn
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Das Programm von NDR Kultur hat unzweifelhaft an Profil gewonnen. Man erkennt es jetzt so schnell, dass schon nach Sekunden die Hand zum Radio vorstößt und nach etwas anderem sucht. Nach Überraschung, Vertiefung, Witz, Kritik, Abenteuer, Qualität. Derlei gibt es zwar auch noch bei NDR Kultur, aber in so kleiner und gut versteckter Dosierung, dass der Gesamteindruck nicht gefährdet wird. Das vor eineinhalb Jahren aus „Radio 3“ reformierte Programm entfaltet immer verlässlicher das Aroma einer Ochsenschwanzsuppe aus der Dose. Für den Musikanteil dieses „Tagesbegleitmediums“ werden die abgewetztesten Schlachtrösser des klassischen Repertoires satzweise niedergeritten. Wer wissen will, wer die Interpreten sind, erfährt es meist erst hinterher. Wenn überhaupt.
Wenn er es überhaupt noch wissen möchte. Die Programmierer des größten norddeutschen Kulturprogramms haben ein sicheres Händchen für unaufregende Interpretationen der rund 1500 bewährtesten Werke. Und wenn sie mal ein unbekanntes Stück riskieren, muss es schon so etwas Beruhigendes sein wie das Sextett eines zu Recht vergessenen Tiroler Tonsetzers. Von dem weiß uns der Moderator mit zutraulichem Timbre zu sagen, es sei von „heiterer Grundstimmung", da der Komponist zur Entstehungszeit seine große Liebe kennen gelernt habe. Ungefähr auf dem Niveau nähert man sich hier tagsüber der Klassik. Und das bei einem Sender, der auch zwei große und gute Sinfonieorchester in Hamburg und Hannover hat und von Gebühren existiert.
Eben darum hat sich jetzt ein Verein zu Wort gemeldet, der radiopolitisch
bislang nicht recht aufgefallen war. Irgendwer muss es ja tun, dachten sich
wohl die Mitglieder der ehrwürdigen Hamburger Telemann-Gesellschaft
und verabschiedeten eine Resolution, die übers „Hamburger Abendblatt“
bis in die Spalten der „Zeit“ geriet. Sie erinnern darin an
den Kulturauftrag des Senders und verlangen „täglich zwischen
6 und 19 Uhr. mindestens vier Stunden lang Musiksendungen“, und zwar
mit vollständigen Kompositionen und Ansagen und ohne Jingles zwischendrin.
Sie fordern Verzicht auf allzu viele Wiederholungen allzu beliebter Stücke
und auf die „verständnislosen" Ansagen.
Mit anderen Worten, sie wollen zurück, womöglich noch vor die
„Radio 3"-Zeit zur „NDR 3"-Epoche der Achtziger. Darüber
wird sich streiten lassen. Ein Kulturradio wird seinem Auftrag nicht schon
dadurch gerecht, dass es Sinfonien komplett sendet und ordentlich ansagen
lässt. Zudem haben sich die Hörgewohnheiten geändert, um
aktuell gelockerte Flanierstrecken kommt kein regionsbezogenes Kulturradio
mehr herum. Es ist nur die Frage, ob man sie wie Einkaufscenter ins Gewerbegebiet
stülpt oder mit der radiophonen „Altstadt“ verbindet wie
beim reformierten WDR 3. Da wurden Magazine ausgeweitet, aber die bewährten
nachmittäglichen. „Musikpassagen" beibehalten. Die zeigen
übrigens, wie man gerade mit Werkausschnitten fesseln kann, wenn sie
thematisch verbunden und kenntnisreich moderiert werden.
Doch dazu bedarf es eines (Zeit-) Rahmens, der sich mit dem verhackstückenden Begleitradio nicht verträgt. Themenprogramme nennt man neuerdings „Einschaltradio“, weil Hörer sie gezielt ansteuern. Solche Hörer werden beim NDR für eine aussterbende Tierart gehalten, die man nicht retten muss. Barbara Mirow, seit neun Monaten Chefin von NDR Kultur, groß geworden im Nachrichtensektor, vergrault vorerst die alten Hörer, ohne neue zu gewinnen - auch der Auftritt im Internet ist wenig verlockend. Kaum Zuwachs kann der „Klassiker" verbuchen - von potenziellen 11,3 Millionen Hörern im Sendegebiet von Emden bis Rostock lauschen nur 1,6 Prozent dem flachgelegten Kulturprogramm, das sind rund zwei Menschen auf jedem Quadratkilometer. Man darf schon mehr verlangen, ohne gleich dem Quotenwahn zu verfallen.
Aber während die bundesweit operierenden Kulturwellen Deutschlandradio und Deutschlandfunk beweisen, dass man mit Qualität durchaus Quote machen kann, gewissermaßen „Dranbleib-Radio“, scheint man bei NDR Kultur beides für unvereinbar zu halten. Das trifft auch die Textbeiträge, die tagsüber nie länger als eineinhalb Minuten sind. Die Welle, die mit „Texte und Zeichen“ einmal das längste, bestdotierte und meistgehörte Kulturmagazin aller ARD-Anstalten bot, ist als kritische Instanz fast verstummt. Das „Buch der Woche“, Rudiment der Literaturkritik von einst, darf nur noch Empfehlung sein. „Im Grunde“, sagt ein Mitarbeiter, „kann ich nur noch den Waschzettel wiedergeben." Premierenkritiken findet man nur per Zufall, da sie über den Tag verstreut sind. Bei der Themenauswahl wird mit Eifer aufs Populäre gesetzt. Mitunter von zwei Redaktionen gleichzeitig, da sich die Funkhäuser in Hannover und Hamburg um die Zuständigkeit rangeln. Da werden auch schon mal ohne Angabe von Gründen Mitarbeiter gefeuert.
Und über all dem Elend, das erst in den Abendstunden anspruchsvollen Formaten weicht, kräht unablässig der Billigbombast einer Acht-Ton-Fanfare wie ein Signalhorn zur ewigen Butterfahrt. „Wir identifizieren uns mit den norddeutschen Ländern, ihren Menschen und deren Erwartungen", wirbt der NDR in Inseraten. Einige dieser norddeutschen Menschen werden demnächst ihre Erwartungen persönlich vortragen. Für Dienstag, 15. Juni, lädt die Hamburger Telemann-Gesellschaft um 20.15 Uhr zu einem öffentlichen Treffen mit NDR-Machern ein. Jugendmusikschule Hamburg, Mittelweg 42. Intimer Rahmen. Aber kämen alle, die es angeht, wäre jeder Sendesaal zu klein.
Lesen Sie dazu:
2 Leserbriefe vom 1. Juni 2004 („Darf nicht elitär sein“ - G. Romann, „Kultur-Fast-Food vom NDR“)