Das GANZE Werk - Presseschau
Berliner Zeitung, 19. Februar 2004
Das „Kulturradio“ des RBB hat die alten Hörer ausgeladen. Und neue sind nicht in Sicht
Klangteppich mit Wortschnipseln
„Es darf seinem Hörer mehr geistiges Bedürfnis unterstellen als das nach Häppchenkost“
Von Volker Müller
Seit achtzig Tagen ist das neue Kulturradio des RBB auf Sendung, und unter den Altvorderen des Geisteslebens, die mit ihrem Rundfunk groß geworden sind, hat es sich seither kaum Freunde gemacht. Hält man sich an die Administratoren der neuen Welle, so hat jene graumelierte Kulturelite die zeitgemäße programmstrukturelle Hamlet-Frage nicht verinnerlicht: Modernes, flottes „Durchhörradio“ oder verzopftes „Einschaltradio“ - das sei die Alternative.
Der Einschalthörer gehört demnach zu jener aussterbenden Spezies von Bildungsbeflissenen, die zu bestimmten Zeiten auf gewohnten Sendeplätzen am intellektuellen Diskurs der Gesellschaft teilhaben wollen. Der Einschalthörer des Radio Kultur von SFB/ORB mochte das „Kultur-Journal“, die „Galerie des Theaters“, die im Musik-Wort-Gefüge stimmig dargebotene „Klassik zum Frühstück“, die „Noten zur Literatur“ oder „Gullivers“ kritische Umschau in der Kulturwelt nicht missen; er leistete sich die morgendliche, ausführlichen Lesung, und er ist so altmodisch, eine Sinfonie oder eine Sonate mit allen ihren Sätzen als zusammengehöriges Ganzes genießen zu wollen.
Erboste Hörer
Nun prallt er im neuen RBB-Kulturradio auf den jung-dynamischen Konsumenten des „Durchhörradios“. Aber der hat sich bislang noch nicht zu erkennen gegeben. Ihn sich vorzustellen, kann man sich nur an das Programm halten, das nun für ihn produziert wird. Es ist ein kleinteilig gegliedertes „Tagesbegleitprogramm“ von morgens sechs Uhr bis abends 18 Uhr, in dem die traditionellen Magazinsendungen, kompakte Wort- und Musikbeiträge keinen Platz mehr haben. Gegen erboste Kritiken aus der Hörerschaft, darunter des Dirigenten Claudio Abbado, des Rechtsanwalts Peter Raue, des Kulturmanagers Joachim Sartorius oder des Akademiepräsidenten Adolf Muschg, verteidigen die RBB-Intendantin Dagmar Reim und der Kulturradio-Chef Wilhelm Matejka den radikalen Schnitt: Man müsse sich „dringend neuen Hörgewohnheiten anpassen“, man brauche „das Publikum wieder, an dem wir in den letzten Jahren vorbeigefunkt haben.“
Ohne Zweifel signalisiert die Hörerstatistik Reformbedarf. Die beiden Vorgänger dieses finanziell aufwändigsten Senders des RBB waren mit 0,9 Prozent der Hörer, jeweils etwa 36.000, das Schlusslicht aller deutschen Kultursender. Innerhalb der letzten fünf Jahre ist diese Hörerschaft um mehr als 16 Jahre gealtert - das Durchschnittsalter liegt über 60 Jahre. Intellektuelle aus der Generation der heute 30 bis 40-Jährigen zu gewinnen, ist daher eine Forderung des Tages. Was allerdings die RBB-Chefs so sicher macht, mit dem jetzigen Programmformat auf dem einzig richtigen Weg zu sein, bleibt ihr Geheimnis.
Jeder Interessierte soll und wird das Kulturradio an seiner klassischen Musikfarbe rasch erkennen. Permanente selige Harmonie, mal feierlich getragen, öfter noch verspielt heiter, meist gefällig und nett. Und weil man erklärtermaßen der „Langatmigkeit“ des Abspielens ganzer Sinfonien, Sonaten oder Konzerte zur Tageszeit abgeschworen hat, gibt es nun das zwölfstündige Potpourri einzelner aus ihrem Kontext gerissener Sätze, Durchschnittslänge fünf Minuten (Ausnahmen kommen vor), 18. und 19. Jahrhundert bevorzugt, von Bach über Beethoven bis Brahms, aber auch schon mal Bartók, Martinu, Glazunov. Jedes dieser Stücke für sich eine Kostbarkeit, als Flicken im Klangteppich aber seines Platzes in der Musik beraubt, in der Zusammenwürfelung sich gegenseitig bedrängend, entwertend.
Und: Die Musik steht oft widersinnig, ja in peinlichem Gegensatz zu den verhandelten Themen. Auf Schlingensief ein Vivaldi, auf den Bericht über das schwere Leben der Fischer auf den Lofoten Max Bruchs beliebtes Adagio aus seinem Violinkonzert. Schwer vorzustellen, dass der 40-jährige Geistesarbeiter, aufgewachsen auch mit Rock und Pop, mit Jazz und Weltmusik, so einseitig einzufangen sein soll. Die Redakteure, Moderatoren, Kritiker und Berichterstatter, die ohne Einfluss auf die vorher festgelegte Musik die Wortbeiträge einzubringen haben, sind um ihre Aufgabe nicht zu beneiden. Die Forderung nach „angefeatureten“ Kurzkritiken und -porträts, die auch O-Töne der Künstler und Zitate ihrer Werke aufzunehmen haben, drängen fachkundige Moderatoren in die Rolle naiver Abfrager, die mit dem „unwissenden“ Hörer auf einer Stufe stehen (zu Strauss „Liebe der Danae“: „Worum geht es darin?“).
Gelungene Einzelstücke
Da kann es einer renommierten Literaturkritikerin wie Sigrid Löffler schon passieren, dass sie in der Zwangsjacke solchen Programmformats über Sachauskünfte hinaus, was etwa die Schriftstellerin Caroline Alexander Neues über die Meuterei auf der Bounty herausgefunden hat, zu ihrem eigentlichen Job ästhetischer Wertung kaum kommen kann. Mehr als bestenfalls künstlerische Grundeindrücke zu formulieren, ist in den verstreuten Wortschnipseln nur schwer möglich. Mit Respekt sei angemerkt, dass - wie etwa bei der Berlinale-Berichterstattung - auch prägnante Kurzcharakteristiken gelingen. In besserer Erinnerung bleiben wohl nicht zufällig Beiträge, für die den Autoren ein paar Minuten mehr zu gründlicher Erläuterung eingeräumt werden. Etwa jüngst: Jens Sparschuhs Würdigung des Vermächtnisses von Immanuel Kant. Oder generell die nachmittägliche CD-Kritik: Da fiel zum Beispiel am Dienstag Michael Seyferts kenntnisreiche Vorstellung des zeitgenössischen griechischen Komponisten und Pianisten Vassilis Tsabropoulos angenehm aus dem Format.
Das Exempel sei angeführt, um Erwartungen zu formulieren, sollte das Kulturradio zum 1. April wie angekündigt nach einem überarbeiteten Programmschema senden. Zum einen: Ein respektables Tagesbegleitprogramm, an dem ältere wie jüngere Elite ihre Freude hätte, darf kein gehobener Dudelfunk sein und muss mit der Palette der Musikfarben variabler umgehen. Zum anderen: So wie das Kulturradio derzeit daherkommt, ist es weit gehend ein stückwerkeliges kulturelles Info-Programm, das bis hin zu Reisetipps und Restaurantkritiken einen weiten Kulturbegriff zu bedienen versucht, jedoch an seiner Beliebigkeit und Flüchtigkeit krankt. Es darf seinem Hörer mehr geistiges Bedürfnis unterstellen als das nach Häppchenkost.
Der politisch korrekte „Hörerstreit“ im „Kulturradio am Mittag“, ohne erkennbare eigene Position, ist nicht mehr als ein fades Alibi für schon weit gehend verspielte Substanz. Statt pfiffig zu modernisieren, wurden tragfähige Strukturen zerschlagen, ohne dass etwas Ebenbürtiges an ihre Stelle gesetzt wäre. Sieht man von den Relikten wie den hoch kultivierten Musikmagazinen „Morbach live“ und „Goldberg-Variationen“ ab, bleibt zu konstatieren: Das derzeitige Kulturradio hat den angestammten Hörer ausgeladen, ein neuer ist weder in Sicht, geschweige denn gewonnen.
Das Kulturradio ist im Berliner Kabel auf der Frequenz 95,35 und über UKW-Antenne 92,4 zu empfangen.