Das GANZE Werk - Presseschau (Dokumentation)
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. Dezember 2003
So pocht Musik-Trübsal an die Kulturradio-Tür
Tralalalaaaa!
Der „Kulturradio“-Eintopf soll „die Leute durch den Tag begleiten“
Von Gerhard Stadelmaier
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Vielleicht erinnern sich die nervöseren - also naturgemäß sensibleren - ehemaligen Kinder unter uns an ein schreckliches Geduldsspiel. Es hieß „Mikado“. Und bestand aus einer Menge von Stäbchen, die in der Hand eines Spielleiters erst zu einem straffen Bündel gefaßt, dann auf eine Spielplatte fallengelassen ward. So daß ein Stäbchen-Scheiterhaufen entstand. Aus welchem man nun ein ums andre Hölzchen herausfingern mußte. Ohne daß das eine ein anderes berühren, erregen, bewegen, verändern, gar beleben durfte. Nichts hatte eine Folge - außer daß man Stäbchen sammelte. Nichts hatte mit etwas anderem zu tun - außer daß nutz- und geistlos Zeit verging. Man hätte „Mikado“ auch neben dem Bügeln, dem Kochen, dem Artikelschreiben oder dem Staubsaugen her spielen können. Mal schnell ein Stäbchen ziehen. Und dann weiterwuseln.
Man stelle sich nun aber vor, es handele sich bei diesen Stäbchen um Musikstücke. Besser: um Stückchen aus Musikstücken. Der Hessische Rundfunk zum Beispiel nennt große Teile seines zweiten Programms, eines „Kulturradios“, nun ausgerechnet „Mikado“ (morgens und nachmittags). Der Bayerische Rundfunk nennt zwar die entsprechenden Teile seines Kulturradio-„BR4 Klassik“-Programms „Allegro“ (morgens) beziehungsweise „Leporello“ (nachmittags), könnte für beide aber ebensogut „Mikado“ wählen.
Beide Sender waren einst für Autofahrer zum Beispiel im Großraum Rhein-Main, die sich förmlich danach sehnten, daß endlich die Zahl 98.00 auf dem Megahertz-Display im Autoradio auftauchte und BR4 in Hörweite geriet, eine Doppel-Insel der Seligen. Entweder man hielt sich auf dem 96.70-MHz-Teil der Insel (HR2) oder eben dem 98.00-MHz-Elysium (BR4) auf. Man hatte die süßeste Qual. Ja, es soll Autofahrer gegeben haben, die extra in kilometerlange Staus sich begaben, nur um in himmlischer Ruhe und Konzentration den Contrapunctus I bis XIII der „Kunst der Fuge“ (bearbeitet für zwei Gitarren und Oboen) in BR4 oder Carl Schurichts Amsterdamer Skandalaufführung von Mahlers „Lied von der Erde“ aus dem Jahre 1939 (mit dem irren Zwischenruf einer holländischen Nazisse: „Deutschland über alles, Herr Schuricht!“) zu hören. Oder natürlich eine ganze Mozart-Sonate (KV 576 mit dem klug rasenden Gulda) in BR4 oder eine Einführung in Rihms „Jagden“ oder Schumanns Violinsonate opus 105 oder Liszts h-Moll-Ekstasen-Oktaven mit Horowitz oder das „Wohltemperierte Klavier“ auf Kirkpatricks Cembalo oder (Samstag nachmittags) Joachim Kaisers hirnbewegende und manchmal auch herzzerreißende Analyse der „Langsamen Einleitungen Ludwig van Beethovens“ in „Kaisers Corner“ in BR4. Und tausend andere große, herrliche, erhabene, gewaltige, die Welt wenigstens für ein paar Stunden in eine Gegenwelt verwandelnde Werke.
Das ist vorbei. Beide und etliche andere „Kulturradios“ haben sich seit einem Jahr tagsüber - nachts zwischen zwölf und sechs Uhr in der Früh, wenn wir schlafen, ist das anders - von der klassischen Musik und vor allem von deren Werkcharakter verabschiedet. Ein ganzes großes Werk benötigt Liebe, Emphase, Mühe, Lust - oder kritisch empörte Ablehnung, was auch eine Zuwendung ist. Hört man aber jetzt - „Da werden Sie aufwachen!“ kräht die muntere, aber sonst durch nichts ausgewiesene Moderatorin - eine Fanfare von Telemann, dann einen finnischen Tango, dann eine Ouvertüre von Nicolai, dann eine Rockgitarren-Nummer, hierauf den zweiten Satz aus einem Mozart-Streichquintett, darauf Oscar Petersons Klavier-Jazz-Perlen, dann einen doppelchörigen Bläsersatz von Gabrieli, unterbrochen von Verkehrsnachrichten, vermischten Meldungen oder gar Feuilletonschauen - dann kann es einem schon mal passieren, daß man plötzlich die Aria aus Beethovens opus 111 hört und, da vorher was aus dem „Vogelfänger“ gejodelt wurde, gar nicht mitkriegt, was an Gewaltigem da jetzt gerade über einen hereinbricht. Und man legt matt, müde und werklos den Beethoven im trübseligen Tralalalaaaa!-Sumpf ab. Nichts hat mehr miteinander zu tun. Zumal viele Stückchen gar nicht mehr angesagt, nur angespielt werden.
Der „Kulturradio“-Eintopf soll „die Leute durch den Tag begleiten“. Er soll kein anspruchsvolles, auf Kompliziertes, Großes und Einmaliges gieriges bürgerliches „Zielgruppenpublikum“ mehr erreichen, das nun verwaist und traurig im Stau sitzt. Es findet so eine Art Refeudalisierung statt. Das Bürgertum eroberte sich einst (siehe: Sonatenhauptsatzform) das große ganze Werk als kritischen Tummelplatz der Konzentration und Emanzipation. Dieweil der Adel sich, während er hurte, fraß und intrigierte, sich durch sogenannte Divertissements und Tafelmusikhäppchen im Hintergrund bei seinem Lotterleben begleiten ließ, ohne groß hinzuhören. In dessen Fußstapfen zwingen nun die „Kulturradios“ sozusagen ausgerechnet Herrn und Frau Lieschen Müller-Jedermann. Denn das gebühren-, also eigentlich quotenlos finanzierte Radio muß perverserweise Quote machen. Um jeden Preis.
Also ist den „Kulturradios“ denn auch beliebig alles Kultur. Der Irak-Krieg genauso wie die neuesten Entlüfter-Schuhsohlen. Nur eine ganze Beethoven-Sonate gehört offenbar nicht mehr dazu. Es sei denn, sie habe einen schönen langsamen Satz, den man als Kitschelement zwischen Saddam und Schuhsohle quetschen kann. Was aber hilft? Kulturradio ausschalten. Konsequent Quote senken. Und selber Kultur machen. Beethoven, wir kommen wieder!
Die ersten Erfahrungen mit dem Kulturradio des RBB:
• Reingehört - Mit RBB-Kultur durch den Tag
„Das Kulturradio ist ein Tagesbegleitprogramm geworden, das man gerne hört - was will man mehr?“ - Berliner Morgenpost, 2. Dezember 2003
• Adel und Depression - Erste Höreindrücke vom neuen RBB-Kulturradio
Die Formate heißen jetzt „Am Morgen“, „Am Vormittag“, „Am Mittag“ ... Pisagerecht eben
Der Tagesspiegel, 2. Dezember 2003
• Bach n Soul - Das RBB-Kulturradio hört sich noch unentschlossen an
Im Tagesprogramm unterbrechen feste Rubriken alle Viertelstunde die Musik
Berliner Zeitung, 9. Dezember 2003
• Tralalalaaaa! - So pocht Musik-Trübsal an die Kulturradio-Tür
Der „Kulturradio“-Eintopf soll „die Leute durch den Tag begleiten“
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. Dezember 2003