Das GANZE Werk - Presseschau
Hamburger Abendblatt, 10. September 2003
Die Frau fürs Kulturelle
Amtsantritt: Barbara Mirow soll „NDR Kultur“
aus dem Quotenloch holen
Von Joachim Mischke
Hamburg - Die schönsten Halbwahrheiten liefert immer noch der Flurfunk, auch beim NDR. Dort behaupten garstige Zungen seit einiger Zeit, dass „NDR Kultur“ (bis zum Jahresbeginn noch als „Radio 3“ auf Sendung und mit alarmierend niedrigen Hörerzahlen geschlagen) nur deswegen so genannt wurde, damit wenigstens noch im Namen Kultur drin ist.
Seit der im Januar vollzogenen Programmstruktur, die das Hörer-Durchschnittsalter (66 Jahre im Ballungsraum Hamburg) nach unten drücken soll, hoffen die NDR-Oberen, dass man sich mit alten Ideen in neuen Formaten gegen die private Konkurrenz „Klassik Radio“ behaupten kann. Der bisherige Wellenchef Wolfgang Knauer möchte den drohenden Schlingerkurs ins Seichte aber nicht mehr verantworten, auf seinen Posten rückt Barbara Mirow, die bisherige Nachrichtenchefin von „NDR Info“ nach.
„Auch anspruchsvolle Kulturprogramme werden heute tagsüber zum Nebenbeihören genutzt, und wer sind wir denn, dass wir uns nicht danach richten“, erläutert Mirow im aufmerksamen Beisein von Hörfunk-Programmdirektor Gernot Romann ihre Marschrichtung.
Damit verbunden ist wohl eine noch stärkere Ausrichtung auf den geschmeidigen Mainstream, Wortbeiträge dürften tagsüber in aller Regel nicht länger ausfallen als dreieinhalb Minuten. „Mir will übrigens nicht in den Sinn, warum man eine Kritik, eine Buchbesprechung oder einen CD-Tipp nicht in dieser Zeit machen kann. Wir machen ein Programm basierend auf der Annahme, dass die Hörer tagsüber nicht die Zeit haben, fünf, zehn, 15, 20 Minuten am Stück konzentriert zuzuhören.“ Dass sich der öffentlich-rechtliche Kompetenzanspruch des NDR mit diesen Format-Zwängen nicht wirklich vereinbaren lässt, ohne an Profil zu verlieren, liegt auf der Hand.
Auf die meisten Werke ihrer Lieblingskomponisten Wagner, Mahler oder Bruckner wird Barbara Mirow in ihrem Tagesprogramm vergeblich warten - die sind zu lang. Und auch ein Zeitgenosse wie der Franzose Dutilleux, dessen Musik der NDR-Chefdirigent demnächst in seinen Konzerten dirigiert, kann tagsüber wohl auf keinen Sendeplatz in Christoph Eschenbachs Haus-Sender hoffen. Dafür werden andere Dinge wichtiger, denn Mirows Kulturverständnis bietet Platz für vieles: „Kultur ist nicht nur Bayreuth, Salzburg, Klagenfurt, auch große Pop-Konzerte gehören dazu. Alltagskultur ist für mich zum Beispiel auch der neue Golf aus Wolfsburg.“ Auf die entsprechenden Rezensionen darf man gespannt sein.
Eine Frau aus der Nachrichten-Branche des Senders, kombiniert mit einem neuen Musikchef, der zwar Kirchenmusik studiert hat, aber bislang beim schlagerlastigen Programm von „90,3“ den Ton angab? Das gibt zu denken. Michael Schreiber soll einen Repertoire-Pool erarbeiten, in harmonischer Zusammenarbeit mit den Redakteuren natürlich. Der Basiskatalog aus klassischen Greatest Hits bildet dann das Farbspektrum des Klangteppichs.
Barbara Mirow ist optimistisch, die ersten Zahlen aus der Zuhörerforschung weisen bereits leicht nach oben; genauere, die gegen Anfang 2004 erwartet werden, sollen zeigen, ob die Hoffnungen, die man jetzt in sie setzt, erfüllbar sind oder nicht. Und auf die Frage, warum man eigentlich noch „NDR Kultur“ hören soll, anstatt gleich „Klassik Radio“ anzuschalten, entgegnet sie: „Der Anteil an klassischer Musik macht dort gerade mal 50 Prozent aus, da haben wir anderes vor. Man wird unserem Programm anhören, dass dort Redakteure sitzen, die wissen, wovon sie sprechen.“