Leitartikel: „Infomercial“ auf NDR Kultur

Das GANZE Werk Nord, 13. September 2009

Nicht nur Machenschaften im NDR-Fall Heinze, auch bei NDR Kultur:

Ein Brief der NDR-Kultur-Leitung offenbart, dass das Tagesprogramm fremdbestimmt ist

Nach unseren Beobachtungen kann es nur die NDR Media GmbH sein, die diesen entscheidenden Einfluss trotz des Werbeverbots auf NDR Kultur hat

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Am 20. Mai 2009 hatte der Sprecher der Bürgerinitiative für mehr Radiokultur Das GANZE Werk (Nord), Theodor Clostermann, dem Sender NDR Kultur vorgeschlagen, eine nichtangekündigte vorzügliche einstündige Abendsendung zum Gedenken an Joseph Haydn im werktäglichen Tagesprogramm nach dem Haydn-Thementag am Pfingstwochenende für das große Publikum zu wiederholen. Das könne so wie die ausgezeichnete vierstündige Vormittagsmoderation zum 200. Geburtstag von Mendelssohn Bartholdy am 3. Februar 2009 geschehen.

Die Antwort des Musikchefs Michael Schreiber im Auftrag von NDR-Kultur-Chefin Barbara Mirow lautete:

„Ich halte diese Sendung aufgrund ihrer Qualität und des Bezuges zum Jubilar Joseph Haydn grundsätzlich durchaus für wiederholenswert. Aufgrund unserer abgestimmten und sehr häufig auf aktuelle Ereignisse Bezug nehmenden Planung ist eine Wiederholung“ [im Tagesprogramm] „leider nicht möglich. Im Übrigen halte ich unsere Programmvorhaben der nächsten Wochen“ [im Abendprogramm, das war nicht der Vorschlag] „für so attraktiv, dass es schade wäre, wenn eines dieser Angebote einer Wiederholung zum Opfer fallen müsste.“ (Ergänzungen und Hervorhebungen durch den Verfasser)

Zu welchem Zweck muss NDR Kultur seine Tagesplanung „abstimmen“?

Gibt es eine alle Einzelstunden „abstimmende“ Planung der NDR-Hörfunkdirektion oder der NDR-Intendanz? Sicherlich nicht, beide Instanzen wären arbeitsunfähig. Sie sind nur für die allgemeine Linie und generelle Auflagen verantwortlich. Vielleicht auch noch für das Ausmaß der NDR-Eigenwerbung mit den vielen aufschreckenden Trailern.

Was gibt es denn im Programm, was mit außen „abzustimmen“ ist? Kein Problem, da fällt einem NDR-Kultur-Hörer auf Anhieb vielerlei ein:

- Die „Aktuellen Kulturberichte“ zu jeder Stunde, mit Bezug zu den ausgewählten „Kulturpartnern“ des NDR in Norddeutschland (Konzerte, Opern- und Theaterpremieren, Ausstellungen, Lesungen usw.) oder mit einem kommerziellen Hintergrund (neue CDs, DVDs, Bücher, Hörbücher und Kinopremieren), mit O-Tönen der Produktion, der Produzenten und des Publikums und abschließend mit Jingle und Claim „NDR Kultur, hören und genießen“, im 3-Minuten-Großformat podcast-gerecht und oft wiederholt. Der Kinotipp am Donnerstag um 7.15 Uhr ist zum Beispiel eine „abgestimmte“ Aktion zwischen NDR Kultur, der ZEIT und der Filmindustrie o.ä. (siehe Anzeige in der ZEIT vom 27. August 2009, Seite 48).

- Die Vorankündigung dieses Ereignisses, d.h. der Hauptbeitrag der Moderation zwischen einzelnen Musiksätzen (manchmal auch zweifach oder schon vor den Nachrichten), in der Radio-Werbebranche „moderative Teaser“ und „Livereader“ genannt, während die Musikstrecken dort schlicht „Umfeld“ genannt werden (siehe Homepage des privaten Rundfunkmarketingverbandes RMS, Radio Marketing Service GmbH & Co. KG).

- Die Bandbreite der 3-Minuten-Ereignisse im halb- bis einminütigem Kleinformat, d.h. der Hauptbeitrag der Moderation zwischen einzelnen Musiksätzen zu „aktuellen CDs“, Kultur-Prominenten, Aufführungen usw.

In vielen Sendeprotokollen haben wir auf unserer Homepage diese wie Fremdkörper wirkenden und die Musikhörer störenden Radio-Bausteine herausgefiltert. Zählt man sie zusammen, kommt man ohne die NDR-Eigenwerbung auf mindestens fünf pro Stunde (= Unterbrechungen zwischen den Musikstücken, abzüglich der Nachrichten und der Eigenwerbung), oft sind es dank der „aktuellen CDs“ mehr. Während eines Tagesprogramms sind es dann mindestens 60 Radio-Bausteine, in einer Woche...

Und da NDR Kultur kein eigenes inhaltliches Programm hat, besteht das Programm aus einer Kette solcher Auftragsnummern, eingebettet in das „Umfeld“ der Musikfarbe „Klassik“, die unbedingt nötig ist, damit es überhaupt genug Hörer gibt. Oder kaufen Sie eine Illustrierte, nur um die Reklame zu sehen, ohne Berichte und Bilder?

Diese Radio-Bausteine müssen verwaltet, verteilt und gesteuert werden. Und nicht nur für NDR Kultur. Nein, vieles als Gesamtpaket auch für die anderen Sender: NDR Info, NDR 2, die vier ersten Radioprogramme, NDR Fernsehen, N-Joy. Professionelle Arbeit, ohne PC und entsprechende Software nicht zu schaffen. Wer schafft diesen Berg Arbeit?

Die NDR Media GmbH

In einem Text mit absichtlich großer Interpretationsbreite beschreibt die Abteilung „Kooperationen | Events“ ihre Arbeit unter anderem folgendermaßen:

„Der Bereich Kooperationen | Events stellt das Bindeglied zwischen dem NDR und externen Partnern dar. Die einzelnen Hörfunk- und Fernsehprogramme des NDR bieten eine große Bandbreite an Aktionen im Rahmen ihrer Programme. (...) Der Bereich Kooperationen | Events ist hierbei Schnittstelle und Mittler zwischen (den) Aktivitäten des NDR und unseren Partnern. Von der Konzeption bis zur Durchführung, der Koordination und Abstimmung verknüpft der Bereich Kooperationen | Events die verschiedenen Bedürfnisse individuell und aktionsgerecht. Das Angebotsportfolio umfasst dabei sowohl die Einbindung im Rahmen von Programmaktionen“ [im laufenden Programm, der Verfasser] „als auch die Off-Air Signalisation und Präsentation. Gerne erstellen wir ein individuelles Leistungspaket zusammen.“
(Quelle: http://www.ndrmedia.de/marketing/communication-center/)

In unserer Beschwerde zu Werbung im Programm von NDR Kultur haben wir zum Beispiel herausgearbeitet, dass ein Major Label ganz besonders in der Woche vom 10. bis 14. November 2008 bei der Präsentation bevorzugt wurde (60 %). Lieber Leser, Sie können sich leicht vorstellen, wie die Verhandlungen mit dem „Communication Center“ der NDR Media GmbH mit diesem CD-Giganten gelaufen sein mögen, um über die Festlegungen aller Details (Teaser im Kleinformat, Podcasts im Großformat, O-Töne, Verlosungen usw.) ein solches Ergebnis zu erzielen.

Wie die Abrechnungen im einzelnen geregelt werden, das können andere vielleicht erfahren, immerhin bietet die NDR Media GmbH in ihrer Abteilung „Crossmedia“ „Gegengeschäfte“ zu „Medienpartner-Sponsoring“ an... Und die Regelung von Produktionskosten bietet bekanntlich eine große Bandbreite. Und wer garantiert die journalistische Unabhängigkeit, wenn ein Kulturbericht von einem Werbepartner der NDR Media GmbH bestellt, „abgestimmt“, wird? Auf dieses Problem haben wir im Oktober 2006 in einem Konzertbericht aus Braunschweig aufmerksam gemacht, kurz bevor eine Wiederholung in Hamburg stattfand.

NDR Kultur Vorreiter in Sachen „Infomercial“

Neutralität und Ausgewogenheit bleiben auf der Strecke, inhaltlich und zahlenmäßig.

Bei den Berichten und Moderationsbeiträgen werden die Grenzen zwischen einem sachbezogenen Beitrag und werblicher Animation der Hörer gezielt verwischt, das haben wir vielerorts nachgewiesen. Diese Kommunikationsmethode heißt dann im Werbejargon „Infomercial“ (siehe RMS, parallel zu den schon wissenschaftlich gebrauchten Worten „Infotainment“ und „Politainment“).

Das Zukunftsprodukt der Branche ist der angepasste Radiobeitrag, auf englisch „customized podcasting“, wofür NDR Kultur schon heute Pionierarbeit leistet. Jens Rosenow, ein Vorreiter dieses Produkts, schreibt dazu auf einer Internetseite der ARD:

„Ein customized Podcast ist auf keinen Fall ein Dauerwerbespot mit 10 Minuten Länge. Es ist vielmehr eine zehnminütige Radiosendung mit Moderation, Reportageelementen, Musik, Gewinnspielen, Hörercalls, etc. Die Grenzen zwischen Werbung und Information werden gezielt aufgehoben. Am Ende steht ein Podcastprodukt, das informiert, unterhält und obendrein viralen Charakter hat. Richtig platziert im Internet kann er weiterverlinkt, weitergemailt oder weitergegeben werden. (...) Jedoch macht es keinen Sinn, einen customized Podcast inmitten der Webseite des Produktherstellers oder Werbepartners zu präsentieren. Der neutrale und authentische Wert des Podcasts würde unmittelbar darunter leiden und User und Hörer die Zweckbindung enttarnen. Ein customized Podcast kann also nur in neutraler, redaktioneller Umgebung seine gewünschte Wirkung und Glaubwürdigkeit beibehalten.“ (Hervorhebungen durch den Verfasser, Quelle: http://www.ass-radio.de/radioblog/tag/customized-podcasting/)

Es gibt sogar schon Preislisten der Werbefirma der ARD, AS&S Radio von ARD-Werbung Sales & Serices GmbH, für inhaltliche Podcasts zu Themen wie „Auto“, „Unterhaltungselektronik“, „Computer und Gaming“, „Entertainment“ und „Tourismus“, die mit den Einzelabschnitten Anmoderation, Berichterstattung, O-Töne und „Sounddesign“/Jingle genauso produziert werden, wie die „Aktuellen Kulturberichte“ von NDR Kultur (siehe Broschüre „Tarife 2008“, Seite 15).

Rundfunkstaatsvertrag, NDR-Staatsvertrag und ARD-Werberichtlinien - wozu?

Demgegenüber ist „Infomercial“ nach den juristischen Grundlagen eindeutig unzulässig, sind viele Hebel nach dem Prinzip der Trennung von Inhalt und Werbung bindend.

Rundfunkstaatsvertrag (entsprechend auch NDR-Staatsvertrag)

§ 7 (2) Werbung oder Werbetreibende dürfen das übrige Programm inhaltlich und redaktionell nicht beeinflussen. (...)

(3) Werbung und Teleshopping müssen als solche klar erkennbar sein. Sie müssen im Fernsehen durch optische Mittel, im Hörfunk durch akustische Mittel eindeutig von anderen Programmteilen getrennt sein. (...)

(6) Schleichwerbung und entsprechende Praktiken sind unzulässig. (...)

§ 10 (1) Berichterstattung und Informationssendungen haben den anerkannten journalistischen Grundsätzen (...) zu entsprechen. Sie müssen unabhängig und sachlich sein. (...)

§ 11 (1) Der öffentlich-rechtliche Rundfunk (...) kann programmbegleitend Druckwerke und Telemedien mit programmbezogenen Inhalt anbieten.

(2) (...) Sein Programm hat der Information, Bildung, Beratung und Unterhaltung zu dienen. Er hat Beiträge insbesondere zur Kultur anzubieten.

(3) Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat bei Erfüllung seines Auftrags die Grundsätze der Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung, die Meinungsvielfalt sowie die Ausgewogenheit der Angebote und Programme zu berücksichtigen.

NDR-Staatsvertrag

§ 36 Werbung (2) Der NDR kann Hörfunkwerbung in einem Hörfunkprogramm veranstalten. (= NDR 2)

ARD-Werberichtlinien

8.3. Zulässig ist die Erwähnung oder Darstellung von Produkten, wenn und soweit sie aus journalistischen oder künstlerischen Gründen, insbesondere zur Darstellung der realen Umwelt, zwingend erforderlich ist. Soweit gemäß Satz 1 Produkte erwähnt oder dargestellt werden, ist durch die Art der Darstellung nach Möglichkeit die Förderung werblicher Interessen zu vermeiden (z.B. Marktübersichten statt Einzeldarstellungen, (...) Wechsel der Produkte und unterschiedliche Ausstattung).

14.1. Redaktionelle Hinweise auf Begleitmaterial sind zulässig. Begleitmaterial sind Bücher, Schallplatten, CDs, CD-ROMs, Videokassetten und andere Publikationen, die sich unmittelbar von Sendungen, Programmen oder Veranstaltungen der Rundfunkanstalt ableiten und entweder von ihr, einem Beteiligungsunternehmen oder Dritten produziert oder vertrieben werden.

14.2. Hinweise nach Ziffer 14.1. (...) haben sich unter Vermeidung werblicher Effekte auf die sachliche Information zu beschränken. Soweit Bezugsquellen genannt werden, ist jede Hervorhebung oder Bevorzugung unzulässig.

Zweckentfremdete Verwendung der Rundfunkgebühren - Alternativen

Da NDR Kultur tagsüber von 6 bis 19 Uhr - außer „Am Morgen vorgelesen“ und dreimal in der Woche ein Interview bei „Klassik à la Carte“ - kein festgelegtes inhaltliches Programm veranstaltet, entfällt für das Tagesprogramm von NDR Kultur die Voraussetzung zu der Möglichkeit (hier nach § 6 NDR-Staatsvertrag)

programmbegleitend Medien- und Datendienste mit programmbezogenem Inhalt an(zu)bieten“ (Hervorhebung durch den Verfasser).

Die mit der NDR Media GmbH „abgestimmten“ werblichen Aktivitäten gelangen stattdessen als „Infomercial“ in das Programm. Da die EU-Kommission nur unter der Bedingung das Gebührensystem Deutschlands toleriert hat, dass die Gebühren für den Programmauftrag laut Rundfunksstaatsvertrag (und NDR-Staatsvertrag) benutzt werden, handelt es sich nach unserer Meinung um eine zweckentfremdete Verwendung der Rundfunkgebühren in großem Ausmaß.

Es ist sogar denkbar, dass sich der NDR gegenüber CD-Labels verpflichtet hat, keine ganzen Werke tagsüber zu senden, um im „Gegengeschäft“ den Vertrieb der CD-Labels zu erhöhen. Die Tatsache, dass es zu den beiden Rubriken „Belcanto“ und „Die Großen Stars der Musik“ auf der NDR-Kultur-Homepage Podcasts der jeweils letzten Sendung gibt, lässt auf ein größeres Vertragspaket mit CD-Labels schließen.

Ohne die Einflussnahme, ohne die einzelnen Vertragsvereinbarungen der NDR Media GmbH wäre es ein Leichtes, in größerem Umfang gestaltete Wortsendungen (mit längeren Beiträgen zur Kultur) und Musiksendungen (mit zusammenhängenden musikalischen Werken) auf NDR Kultur einzurichten, was wir mit unserer Eingabe an den NDR-Rundfunkrat erreichen wollen.

Und zu der Praxis der lästig breit gestreuten „Tipps“ fragen wir in dem Aufruf zur Unterschriftensammlung:

„Kann NDR Kultur seine aktuellen Kulturinformationen nicht in gebundenen Sendungen unterbringen, die dafür besonders ausgewiesen sind (mit passenden Musikbeispielen)?
Können die Tipps für die Kulturpartner und die NDR-Eigenwerbung nicht in einem Informationsblock kurz vor den Nachrichten wie bei den anderen Kultursendern üblich gesendet werden?“

Nach der MA von diesem Sommer hat die Zahl der NDR-Kultur-Hörer deutlich abgenommen: In der entscheidenden Kategorie „Hörer gestern, Montag bis Freitag“ hat NDR Kultur ein Zehntel seiner Hörer verloren (Rückgang von 249.000 auf 224.000 Hörer im NDR Sendegebiet bzw. von 2,0 auf 1,8 Prozent).

Ist da nicht endlich einmal eine Korrektur fällig?

Theodor Clostermann, 13. September 2009