NDR Kultur: Moderation
NDR Kultur, 27. November 2006, Klassisch in den Tag
Analyse einer typischen geschwätzigen Moderation
Wegen einer italienischen Opernarie: „Lassen Sie sich jetzt inspirieren
zu einem ersten Milchkaffee auf italienische Art“
Und: Hörer, die schon wach sind, sollen sich ein Beispiel an dem „Frühaufsteher“ Joseph Haydn nehmen
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7.27 Uhr, unkommentierte Moderation
Gerade morgens ein gern gesehener Gast hier auf NDR Kultur: Joseph Haydn, der musikalische Frühaufsteher. Der hatte um diese Zeit, um 7 Uhr 27, schon sein Frühstück hinter sich, saß schon am Schreibtisch. Sie hörten hier das Finale, den 4. Satz aus seiner Sinfonie Nr. 91 in Es-Dur, gespielt vom Freiburger Barockorchester unter René Jacobs, der ja gerade seinen 60. Geburtstag feiern konnte. Nehmen Sie sich ein Beispiel an Joseph Haydn, diesem Frühaufsteher, und lassen Sie sich jetzt inspirieren zu einem ersten Milchkaffee auf italienische Art und einer Dame, die weiß, wie man mit Männern umgeht. Fiorilla heißt sie, Gioacchino Rossini hat sie musikalisch porträtiert, und Cecilia Bartoli nimmt sich dieser Rolle an.
7.27 Uhr, [kommentierte] Moderation
Gerade morgens ein gern gesehener Gast hier auf NDR Kultur: Joseph Haydn,
[Warum „gerade morgens (...) hier auf NDR Kultur“? Einzelne Sinfonie- oder Konzertsätze von Joseph Haydn sendet NDR Kultur doch ständig. Es begann schon eine Stunde früher, um 6.23 Uhr (Sinfonie Nr. 48 C-dur, Maria Theresia, daraus: 1. Satz, Allegro), und endete erst um 18.40 Uhr (Sinfonie Nr. 31 D-Dur, Auf dem Anstand, daraus: 4. Satz, Finale. Moderato molto mit 7 Variationen - Presto).]
der musikalische Frühaufsteher. Der hatte um diese Zeit, um 7 Uhr 27, schon sein Frühstück hinter sich, saß schon am Schreibtisch.
[Nun wird den Hörern auch noch die Uhrzeit, die sie morgens sowieso im Blick haben, unnötigerweise mit einer menschlichen Anekdote eines tüchtigen Papa Haydn rübergebracht.]
Sie hörten hier das Finale, den 4. Satz aus seiner Sinfonie Nr. 91 in Es-Dur, gespielt vom Freiburger Barockorchester unter René Jacobs,
[Ein sachlicher Teil, in acht Sekunden. Es fehlt allerdings die Tempobezeichnung „Vivace“.]
der ja gerade seinen 60. Geburtstag feiern konnte.
[Warum die Bemerkung: „ja“, wenn den Hörern kein Spezialwissen und kein Dauerhören zugemutet wird? Unsere Erklärung: Es ist pure Selbstbestätigung. Und wozu hier noch ein Schlenker zu einem Dirigenten-Geburtstag vor einigen Wochen? Wir haben den Eindruck: Aus Wichtigtuerei.]
Nehmen Sie sich ein Beispiel an Joseph Haydn, diesem Frühaufsteher,
[Wozu die Wiederholung mit dem „Frühaufsteher“? Und warum sollen die Hörer sich überhaupt um halb Acht ein Beispiel an Joseph Haydn nehmen? Das brauchen sie doch gar nicht, jeder, der dies hört, ist doch schon wach. Vielleicht beim Frühstück oder schon unterwegs zur Arbeit oder auch schon bei der Arbeit wie der tüchtige Moderator?]
und lassen Sie sich jetzt inspirieren zu einem ersten Milchkaffee auf italienische Art
[Hat Joseph Haydn als „Frühaufsteher“ denn „Milchkaffee auf italienische Art“ getrunken und sollen es die Hörer ihm jetzt nachmachen? Kaum zu glauben. Warum soll sich ein Hörer jetzt durch die folgende italienische Opernarie gerade zu einem „Milchkaffee auf italienische Art“ inspirieren lassen? Warum überhaupt zum Radiohören etwas zu Essen oder zu Trinken: Bei einer französischen Opernarie ein Café au lait, ein Café crême oder ein Croissant usw? Oder ist es eine leere Guten-Morgen-Muntermacher-Floskel? Nein, es heißt doch: „Hören und genießen“, hier also: Musik und kulinarische Komponente. Folgt dann nicht auf den „ersten Milchkaffee“ ein zweiter? Ist das nicht übertrieben? Es ist wenigstens mehr Ritual, Gedankenlosigkeit oder Stress als Genuss. Oder war es mit dem frühen Aufstehen doch nicht so ganz richtig, muss man sich dann mit dem zweiten Kaffee - nicht mehr Papa-Haydn-gemäß - wach halten? Die einzige Lösung dieser Widersprüche: Der Moderator animiert sich gerade selbst. Dazu passt vielleicht - das fällt uns dabei auf, dass viele Kritiker des NDR und von RBB Kulturradio uns sagen, in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten gebe es zu viele Menschen, die sich zu sehr auf sich selbst fixieren.]
und einer Dame, die weiß, wie man mit Männern umgeht. Fiorilla heißt sie.
[„Wie“ geht sie denn „mit Männern“ um? Dazu verrät uns der Moderator trotz seiner Geschwätzigkeit nichts, es bleibt ein Rätsel. In der Kürze und in der Zusammenhanglosigkeit ist es wohl auch gar nicht wichtig. Noch eine unnötige Floskel. Aber: Es ist eigentlich der entscheidende Punkt. Warum halten viele Hörer von NDR Kultur die Moderation für leeres Geschwätz? Weil zu dem Drumherum - Tonträger, Veranstaltung, Interpreten, zur Musikgattung (auf dem Niveau von Klappentexten), ja vielleicht auch zum Komponisten - Informationen kommen, zu dem gerade gesendeten Satz, zur Arie usw., ganz allgemein: zum konkreten, tatsächlichen Inhalt der folgenden Musik wird aber so gut wie nie etwas Hilfreiches, Nützliches gesagt - die Moderatoren haben entweder davon keine Ahnung oder es ist ihnen bzw. ihren Vorschreibern zu mühsam, bei den ca. 90 Stücken am Tag das alles vorher herauszusuchen und herauszuhören.]
Gioacchino Rossini hat sie musikalisch porträtiert, und Cecilia Bartoli nimmt sich dieser Rolle an.
[Ein kurzer sachlicher Teil. Aber das hätte wenigstens auch noch gesagt werden müssen: Es folgt die Arie „Non si dà follia“ aus dem 1. Akt der Oper „Der Türke in Italien“.]
Fazit: Eine typische NDR-Kultur-Geschwätzigkeit - lächerlich, nervig, aufdringlich und zur Sache inhaltsdünn
Die Moderation ist zunächst lächerlich, weil der Moderator Selbstverständlichkeiten anspricht
1.: für viele Hörer die Uhrzeit
2.: die Hörer sind ja schon aufgestanden
und weil er sich in Widersprüche verwickelt
1.: angeblich wird „gerade morgens“ ein Haydn-Satz gesendet
2.: Joseph Haydn hat nichts mit dem „Milchkaffee auf italienische Art“ zu tun
3.: wer vom „ersten“ Kaffee spricht, rechnet fest mit einem zweiten, dessen Grund für die Hörer nicht ersichtlich ist...
Außerdem ist sie nervig, weil der Moderator von Sachen spricht, um die es gar nicht geht, die die Hörer nicht interessieren
1.: beliebige, für das Schaffen eines Komponisten unwichtige Lebensgewohnheiten
2.: der runde Geburtstag eines Interpreten vor einigen Wochen...
Normalerweise rauscht so ein Wortschwall am Hörer vorbei, er stutzt und schluckt, ärgert sich und schaltet wie viele vielleicht aus oder den Deutschlandfunk ein. Hier ist es einmal aktenkundig.
Ist das Geschwätz auch aufdringlich, wie die Kritik oft lautet? Ja, weil der Moderator verbal versucht, den Hörer in etwas hineinzuziehen, worauf er gar nicht eingestellt ist und was er auch nicht unbedingt kann oder will, hier
- der „erste Milchkaffee auf italienische Art“, vielleicht noch an einem Tisch mit dem besagten „Frühaufsteher“...
Als logisches Gegenstück fehlen die entscheidenden Informationen zum Inhalt oder zur Gestaltung des folgenden Stücks, hier
- ersetzt durch die vage Andeutung zu Fiorilla, „die weiß, wie man mit Männern umgeht“.
Die Werbung ist sprachlich auch schon angelegt, sogar im Doppelpack
Noch nerviger und aufdringlicher wird die NDR-Kultur-Moderation, wenn werbende Impulse, werbende Elemente hinzugenommen werden. In der Struktur des aktuellen Beispiels ist es schon angedacht, aber nicht mehr ausgeführt worden.
Noch jeweils ein Atemzug mehr, drei Sekunden länger in hoher Stimmlage ausgehalten, und es wäre NDR-Kultur-werbemäßig eine gelungene Doppel-Veranstaltung geworden - in nur 47 Sekunden:
... unter René Jacobs, der ja gerade seinen 60. Geburtstag feiern konnte [neu: und dessen Interpretation von Mozarts „La Clemenza di Tito“, auch mit den Freiburgern gespielt, gerade erschienen ist.]
... und Cecilia Bartoli nimmt sich dieser Rolle an, [neu: die auf der gerade erschienenen CD „Divas“ zusammen den „großen Primadonnen“ Maria Callas, Lucia Popp und Elisabeth Schwarzkopf „die ergreifendsten Opernarien“ singt.]
Das wäre wohl des vermeintlich Guten zu viel geworden. Geschwätzigkeit als Werbebremse. Tja, so kann's kommen. Da muss jetzt wohl erst einmal ein Coach für den Moderator ran, um Besserung einzutrainieren. Das mit dem „Frühaufsteher“ und dem „italienischen Milchkaffee“ war ja aus NDR-Kultur-Sicht ganz munter und originell. Aber die Wiederholungen und vor allem die widersprüchlichen Andeutungen hätte er sich in seinen Aufzeichnungen schon sparen können. Denn es ist schlimm, die Glaubwürdigkeit zu verlieren.
So oder so werden Hörer oft genug ausgeschaltet haben. Ausschaltimpulse, Ausschaltimpulse. Nichts ist schlimmer, sagten Sie doch, liebe Frau Mirow, als Ausschaltimpulse. Wir meinen: Erst recht, wenn es in der Phase des Zuhörens zu Moderationstexten geschieht.
Beobachtungen von Theodor Clostermann am 1. und 2. Dezember 2006