NDR Kultur, „Klassisch unterwegs“, Musik und Moderation
NDR Kultur, Dienstag, 8. August 2006, „Klassisch unterwegs“, 15 bis 17 Uhr
Moderation von NDR Kultur: Es zieht sich ja wie ein roter Faden durch die Literatur- und Kunstgeschichte: Titel, in denen irgendjemand irgendwo ist, so wie „Orpheus in der Unterwelt“, „Die Italienerin in Algier“, „Ein Münch(e)ner in Hamburg“, „Hans im Glück“ und so weiter. Bei uns kommt jetzt auch so ein Stück. Das hat Hector Berlioz geschrieben, angeregt durch Lord Byrons Versepos „Die Pilgerfahrt des Kindes Harold“. Hier kommt das „Ständchen“ aus „Harold in Italien“. | Hector Berlioz: »Ich kam auf den Gedanken, für das Orchester eine Reihe von Szenen zu schreiben, in denen die Solobratsche die Rolle einer mehr oder minder wichtigen Person spielen sollte, die durch das Ganze ihren eigenen Charakter bewahrt; ich wollte die Bratsche in den Mittelpunkt der poetischen Erinnerungen stellen, die ich von meinen Streifzügen in den Abruzzen behalten hatte, und aus ihr eine Art von melancholisch verträumter Persönlichkeit machen wie Byrons Childe Harold.« |
NDR Kultur erfindet einen eigenen „roten Faden“, der dem Sinn des ganzen Werks widerspricht.
Die zufällige Begegnung mit drei Sinfoniesätzen am 8. August 2006 nachmittags zeigt:
„Bei uns kommt jetzt auch so ein Stück“, mal wieder...
NDR Kultur geht lächerlich mit großen thematischen Sinfonien um,
das Ein-Satz-Prinzip ist gescheitert
Beispiel: Aus Sinfonien von Mendelssohn Bartholdy, Berlioz und Brahms sendet NDR Kultur ständig jeweils nur einen Lieblingssatz
Es hörte sich ganz harmlos an:
... und hier kommt der wunderbare dritte Satz aus der dritten Sinfonie von Johannes Brahms...
sagte der Moderator am 8. August 2006 nachmittags bei „Klassisch unterwegs“ und wies noch kurz auf Dirigent und Orchester hin („mit...“). Von den großen Sinfonien seit Beginn des 19. Jahrhunderts wurden zwischen 15 und 17 Uhr insgesamt drei Einzelsätze gesendet:
• um 15.04 Uhr von Felix Mendelssohn Bartholdy aus der Sinfonie Nr. 5 D-dur, op. 107 (Reformationssinfonie), den 2. Satz, Allegro vivace, Dauer 4.51 min
• um 15.42 Uhr von Hector Berlioz aus der Sinfonie für Viola und Orchester „Harold in Italien“, op. 16, den 3. Satz, „Ständchen“, Dauer 6.30 min
• um 16.07 Uhr von Johannes Brahms aus der Sinfonie Nr. 3 F-dur, op. 90, den 3. Satz, Poco allegretto, Dauer 6.28 min
Auffällig an diesen drei Sätzen ist, dass sie
- gefällig sind (tänzelnd, tänzelnd, wiegend),
- deshalb als volkstümlich gelten und
- für NDR Kultur als Klassik-Schlager geführt werden könnten.
Die Musik ist schlicht „wunderbar“.
Nur diese Sätze werden zur Zeit tagsüber gesendet, ein Kultur-Skandal
Und in der Tat: die jeweils anderen drei Sätze von diesen drei Sinfonien sind für NDR Kultur offensichtlich nicht „wunderbar“. Keiner der anderen neun Sätze wurde tagsüber nach den NDR-Kultur-Musiklisten zwischen dem 1. Januar 2006 und dem 17. August 2006 gesendet, dem Tag der Fertigstellung dieses Artikels. Eine skandalöse Einseitigkeit.
Für diese Einzelsätze wirft unser Recherche-Programm zur Sendehäufigkeit jeweils als Ergebnis aus: „0 x“. Demgegenüber ist die Anzahl der drei am 8. August 2006 gesendeten Einzelsätze erstaunlich hoch:
Mendelssohn Bartholdy | „Reformationssinfonie“ | 2. Satz | 22 x | am 16. August 2006: 23 x |
Hector Berlioz | „Harold in Italien“ | 3. Satz | 11 x | |
Johannes Brahms | Sinfonie Nr. 3 | 3. Satz | 9 x | am 14. August 2006: 10 x |
Sind die anderen neun Sätze für das Programmprinzip von NDR Kultur ungeeignet?
Nein, höchstens wegen des thematischen Gehalts (Choral: „Ein' feste Burg ist unser Gott“) der vierte Satz der „Reformationssinfonie“, aber diese Rücksichtnahme dürfte dem Sender eigentlich egal sein, geht er doch selbst von einer Zielgruppe mit einem bescheideneren Bildungsniveau aus, und „Klassik Radio“ sendet ja auch ohne besonderen Anlass „Eine (!) feste Burg ist unser Gott“, so der Sprecher, von Johann Sebastian Bach, aus der Kantate BWV 80, in der Bearbeitung von Leopold Stokowski (zum Beispiel am 19. August 2006, 17.37 Uhr).
Alle anderen Sätze sind jeweils hochwertig, ansprechend, ausdrucksstark, sprich „wunderbar“.
Kein Satz scheidet wegen Überlänge für NDR Kultur aus. Selbst der längste Satz, „Harold aux montagnes“, „Harold in den Bergen“ (Adagio, Allegro) der Sinfonie „Harold in Italien“ von Hector Berlioz, ist unter NDR-Kultur-Bedingungen sendbar (welch schreckliche Überlegung...). Beispielsweise dauert die Aufnahme des Satzes mit Robert Vernon und dem Cleveland Orchestra unter Lorin Maazel 14.25 Minuten. Natürlich gibt es auch langsamere Interpretationen, die das NDR-Kultur-Zeitlimit von 15.00 Minuten nicht schaffen. Hier sehen Sie die Dauer aller zwölf Sätze der drei Sinfonien in wichtigen Aufnahmen:
Hector Berlioz, „Harold in Italien“, Sinfonie in 4 Teilen mit obligater Viola, op. 16, mit Robert Vernon und dem Cleveland Orchestra unter Lorin Maazel | ||
1. Satz | „Harold aux montagnes“, „Harold in den Bergen“ Adagio, Allegro | 14.25 min |
2. Satz | „Marche des pèlerins“ („Marsch der Pilger“) Allegretto | 7.50 min |
3. Satz | „Sérénade d'un montagnard des Abruzzes“ („Ständchen in den Abruzzen“, Allegro assai - Allegretto | 6.12 min |
4. Satz | „Orgie de brigands“ („Das Gelage der Räuber“), Allegro frenetico - Adagio - Allegro. Tempo 1 | 11.09 min |
Felix Mendelssohn Bartholdy, Sinfonie Nr. 5 D-dur, „Reformationssinfonie“, op. 107, Eröffnungskonzert des Schleswig-Holstein Musik Festivals 1991 mit dem NDR-Sinfonieorchester unter der Leitung von John Eliot Gardiner | ||
1. Satz | Andante - Allegro con fuoco | 10.53 min |
2. Satz | Allegro vivace | 4.41 min |
3. Satz | Andante | 3.16 min |
4. Satz | Choral „Ein' feste Burg ist unser Gott“. Andante con moto - Allegro maestoso | 8.35 min |
Johannes Brahms, Sinfonie Nr. 3 F-dur, op. 90, Originalsendung von Radio 3 am 10. April 1995 mit dem NDR-Sinfonieorchester unter der Leitung von Günter Wand | ||
1. Satz | Allegro con brio | 12.42 min |
2. Satz | Andante | 8.04 min |
3. Satz | Poco Allegretto | 6.00 min |
4. Satz | Allegro | 9.40 min |
Es ist also weder eine Frage der Qualität noch der Dauer, noch nicht einmal der Popularität, warum die neun Sinfoniesätze nicht gesendet wurden.
Für die großen Sinfonien, die einen thematischen Zusammenhang haben, ist das Programmprinzip von NDR Kultur ungeeignet
Genauso wie wir früher schon einmal nachgewiesen haben, dass von der 6. Sinfonie von Ludwig van Beethoven, der „Pastorale“, in einem langen Zeitraum nicht alle Sätze gesendet wurden, ist es auch bei den drei Sinfonien vom 8. August 2006: es sind inhaltlich zusammenhängende Werke, mit denen die Programmmacher von NDR Kultur vorsichtig umgehen müssen. Bei „Harold in Italien“ mit der Viola-Stimme, die Harolds Gemütslagen charakterisiert, und bei der „Reformationssinfonie“ ist dieser gemeinsame und durchgehende Faden unzweifelhaft. Für die Sinfonie Nr. 3 von Johannes Brahms soll der Zusammenhang mit zwei Zitaten verdeutlicht werden.
Für ein Konzert der Wiener Symphoniker unter Wolfgang Sawallisch am 19. Juni 2005 schreibt Rainer Bonelli unter anderem zu dieser Sinfonie (Seite 5 und 6):
Das thematische Material wird zur Gänze aus einer Keimzelle, einem Dreiton-Motiv bestehend aus Grundton, kleiner Terz und Oktave (F-As-F) gewonnen. Es eröffnet auch den Stirnsatz und bereitet den Weg für das kraftvolle Hauptthema. Das Schwanken und Changieren zwischen Dur und Moll ist bestimmend für die gesamte Symphonie. (...) Das Dreiton-Motiv des Stirnsatzes wird (im Finale) wieder aufgegriffen und bildet auch das Fundament für das Hauptthema, ein Zitat aus der „Rheinischen“ von Schumann! Es wird aber auch zum zentralen Gedanken der Entwicklung, in deren Verlauf aber zusätzlich auf Material des zweiten und dritten Satzes zurückgegriffen wird (...). Auf ein kontrastierendes Seitenthema wird gänzlich verzichtet, die vorwärtsdrängende Bewegung kommt erst ganz am Schluss zur Ruhe. Resignativ abgeklärt, bar jeder plakativen Geste – und deshalb so ergreifend – klingt die Symphonie im Pianissimo aus.
Antonin Dvorak vertieft diesen qualitativen Eindruck der ganzen Sinfonie:
Es ist eine Stimmung darin, wie man sie bei Brahms nicht oft findet! Welch herrliche Melodien sind da zu finden! Es ist lauter Liebe und das Herz geht einem dabei auf. Denken Sie an meine Worte und wenn Sie die Sinfonie gehört haben, werden Sie sagen, dass ich gut gehört habe.
Im Umgang mit großen Sinfonien, die einen thematischen Zusammenhang haben, macht sich NDR Kultur lächerlich
Ein Moderator kann ohne Bedenken, ja sogar gewinnbringend für das Verständnis eines Werks - im Gegensatz zu dem ständigen Abdudeln eines einzigen Satzes aus einem Werk - einzelne Sätze benutzen, um daran einen Sachverhalt zur Musik, zum Komponisten, zu einem Thema oder zur Geschichte zu vermitteln. Das will wiederum NDR Kultur überhaupt nicht, das ist zu „akademisch“, diese Bedeutung soll die Musik erst gar nicht bekommen.
Ansonsten lassen sich diese Sinfonien nicht ohne Verlust zerstückeln. Das Problem für NDR Kultur: der Sender darf vom inhaltlichen Zusammenhang nicht zu viel erzählen, denn sonst verlangen die Hörer zu dem Inhalt passend das GANZE Werk. Der folgende Beitrag aus einem Konzert-Programmheft des WDR (Seite 7 und 8) ist Gift für das Tagesprogramm von NDR Kultur:
Wer eigentlich ist Harold, den Berlioz in seiner Sinfonie durch Italien begleitet? Harold ist eine Erfindung des englischen Dichters George Gordon Lord Byron. (...) Harold ist ein jugendlich-romantischer Held – er ist gesellschaftsmüde, ein wenig misanthropisch und vom Leben desillusioniert. Aus dieser Unzufriedenheit heraus geht er auf große Fahrt durch Europa. Beim Reisen durchlebt der verschlagene Harold einen Reife- und Reinigungsprozess. Durch seine Pilgerei eignet er sich Kulturen, Landschaften und Geschichten der einzelnen Stationen an. Eine seiner Reisen führt ihn schließlich nach Italien. Hier beschwört er die heroische Vergangenheit Italiens und verliert sich in elegischen Meditationen über das Schicksal der Menschheit.
Byron traf mit seinem Harold einen Nerv der Zeit. Harold wurde – mit seiner einsamkeitstrunkenen Schwermut und seiner zivilisationsmüden Natursehnsucht – zur Identifikationsfigur der europäischen Jugend.
(...) Berlioz hat allerdings keine Szenen aus dem Buch von Byron vertont, sondern nur die Charakterzüge der Figur aufgegriffen – der einsame, melancholisch nachdenkliche Held, der von der Solo-Viola verkörpert wird.
So bleibt NDR Kultur nichts anderes übrig, als irgendetwas aktuell Sensationelles oder etwas Superlativistisches oder sonst irgendetwas Beliebiges oder Belangloses aufzubieten, um mal einen einzelnen dieser Sinfoniesätze anzupreisen. Damit zerreißt NDR Kultur den roten Faden einer Sinfonie:
Es zieht sich ja wie ein roter Faden durch die Literatur- und Kunstgeschichte: Titel, in denen irgendjemand irgendwo ist, so wie „Orpheus in der Unterwelt“, „Die Italienerin in Algier“, „Ein Münch(e)ner in Hamburg“, „Hans im Glück“ und so weiter. Bei uns kommt jetzt auch so ein Stück. Das hat Hector Berlioz geschrieben, angeregt durch Lord Byrons Versepos „Die Pilgerfahrt des Kindes Harold“. Hier kommt das „Ständchen“ aus „Harold in Italien“.
NDR Kultur „im“ Abseits, „im“ tiefen Fall. Vordergründig und aus Verlegenheit erfindet NDR Kultur einen eigenen „roten Faden“, der dem Sinn des ganzen Werks widerspricht. Das ist das Ergebnis davon, dass NDR Kultur die einzelnen kurzen Musikstücke im wesentlichen nur noch dazu benutzt, um die Zeit zwischen zwei nervigen Wortbeiträgen werblicher Art entspannend aufzufüllen, wenn die Musikstücke nicht selbst Teil der Werbung sind.
An den drei Beispielen wird deutlich:
Das Ein-Satz-Prinzip von NDR Kultur ist gescheitert
Die zufällige Begegnung mit den drei Sinfoniesätzen am 8. August 2006 nachmittags zeigt, dass ein aus dem Zusammenhang gerissener Einzelsatz Wunden aufreißt. NDR Kultur beschränkt sich in dieser Situation auf den jeweils populärsten Satz und auf eine primitive Moderation. Aber immerhin bringt NDR Kultur nicht hemmungslos alle Sätze irgendwann einmal. Das ist in einem bescheidenen Umfang anerkennenswert und zeigt, dass die Programmmacher die Musik wenigstens (noch) kennen und beurteilen können, es zeigt zugleich dann aber auch, dass sie den Zuhörern absichtlich wichtige inhaltliche und musikalische Zusammenhänge vorenthalten.
Diese Praxis ist das Eingeständnis, dass das Ein-Satz-Prinzip von NDR Kultur gescheitert ist:
Bei uns kommt jetzt auch so ein Stück.
Wie lange will uns NDR Kultur dieses im stillen Kämmerlein geplante, schematische und popularisierte, dieses kulturschädigende Trauerspiel noch bieten?
Theodor Clostermann, 14. bis 17. August 2006; besondere Hervorhebung des NDR-Kultur-Zitats mit dem „roten Faden“ am 18. August 2006; Ergänzung zu „Ein' feste Burg ist unser Gott“ und „Klassik Radio“ am 22. August 2006
PS.:
- Einspruch, Einspruch! Wieso Trauerspiel? Der 2. Satz der „Eroica“ von Ludwig van Beethoven, „Marcia funebre“, Dauer mit Günter Wand: 15.45 min, wird doch auch nicht gespielt.
- Ja eben. Zu „gewaltig“, zu „monumental“ (aus der Moderation für einen Satz aus der Sinfonie Nr. 4 am 19. April 2006 auf NDR Kultur).
Für das aktuelle Niveau von NDR Kultur tagsüber: zu schwer, zu thematisch, zu viel Kultur...