NDR Kultur: Unglaubliches
NDR Kultur, 23. Februar 2006, ca. 16.15 Uhr
Bis hinunter zum Hecht, NDR Kultur ist diesmal ganz schön tief gesunken
Am 23. Februar 2006 meldete uns ein aufmerksamer Hörer aus dem Kreis Steinburg (Schleswig-Holstein):
Unterwegs im Wagen durfte ich heute vom Moderator eine Personenbeschreibung hören, wie sie nun doch nicht alltäglich passiert.
Es sang gegen 16.15 Uhr der belgische Sänger José van Dam die Arie des Escamillo aus dem 2. Akt der Oper „Carmen“ von Georges Bizet „Votre toast, je peux vous le rendre“ - „Toréador en garde“.
Und nun kommt es. Im Nachspann bemerkte der Moderator: „Ist ja ein toller Hecht, dieser Sänger...“ So war es wortwörtlich, ich schrieb es mir sofort im Wagen auf.
Hinweis: Am 8. März 2006 teilte uns der Moderator der Sendung mit, dass sich seine Bemerkung vom „tollen Hecht“
nicht auf Jose van Dam, sondern auf die überspannte Attitüde des Escamillo bezog. Ich sagte nicht: „Ist ja ein toller Hecht, dieser Sänger“! Sondern ich sagte: „Ein toller Hecht, dieser Escamillo.“
Wir bedanken uns beim Moderator für diese Richtigstellung - wir wollen auf unseren Seiten ja nichts Falsches behaupten. Deshalb wird in dem folgenden Artikel in dem Teil „Kultur“ nicht mehr der Sänger José van Dam, sondern die Rolle des Escamillo in der Oper „Carmen“ behandelt. Ob José van Dam oder die Opernfigur Escamillo, wir sind der Meinung, dass in beiden Fällen der Gebrauch des umgangssprachlichen Ausdrucks „toller Hecht“ unpassend ist.
Die Vorgesetzten oder Moderationstrainer haben wohl dem Moderator die Order zu mehr spontanen positiven Äußerungen gegeben. So ließ er sich am 27. Februar 2006 (Montag) um 14.30 nach dem 4. Satz von Beethovens Sinfonie Nr. 8 F-dur, op. 93, zu folgendem Spruch hinreißen: „Ein tolles Stück.“
Da ist der „tolle Hecht“ nicht fern.
Kultur...
Wenn die Moderation von NDR Kultur Stil und Kultur wahren würde, dann würde sie in einer sachgerechten Moderation entweder das Besondere des Toreroliedes oder die künstlerische Bedeutung und das Schicksal von Escamillo würdigen.
Die Zuschrift des Moderators an Das GANZE Werk, er habe nicht den Sänger José van Dam, sondern Escamillo als „tollen Hecht“ charakterisiert, macht die Angelegenheit sogar spannend. Es geht also nicht um das Torerolied, sondern um die Opernfigur, welcher der Moderator auch noch verdeutlichend eine „überspannte Attitüde“ bescheinigt.
Von der Oper „Carmen“ habe ich den Eindruck, dass Escamillo im Ergebnis eine tragische Figur ist. Er wird zwar als „toller“ Stierkämpfer, Sänger und begehrter Mann dargestellt, aber zum Beispiel nicht als Frauenheld.
Im dritten Akt gerät Escamillo durch José in Lebensgefahr, Carmen rettet ihn vor dem tödlichen Messerstich Josés. Trotz der heraufziehenden Bedrohung für Carmen und ihn selbst durch den entfesselten Don José ergreift er keine schützende Maßnahme. Er lässt Carmen allein vor der Arena zurück - wie leichtsinnig, im Grunde naiv, durch seine Triumphe weltfremd, für einen unbefangenen Zuschauer oder Hörer unverständlich.
Klar, die Dramaturgie für die ganze Oper brauchte es so. Deshalb ist Escamillo kein überfliegender Held.
Das sollen im folgenden - für Sie im Internet nachvollziehbar - zwei längere Textstellen belegen:
a. die Teile der Handlung, in denen Escamillo auftritt
b. Ausschnitte aus einer vom Bärenreiter-Verlag veröffentlichten Werkgeschichte.
Handlung (...)
In der Schenke von Lillas Pastia
Die Schenke ist voll, es herrscht Hochbetrieb. Das Publikum ist sehr gemischt:
Zigeunerinnen, Soldaten, Schnuggler, Offiziere, alles ist hier zu finden. Carmen tanzt zum Vergnügen aller. Sie wartet auf José, der heute aus der Haft entlassen wird. Da erscheint der Liebling aller Frauen: Der junge, schöne - und wohl ein wenig eitle Torero Escamillo betritt das Lokal und alles jubelt ihm zu. Soviel Jubel hat eine Belohnung verdient, und deshalb revanchiert sich Escmillio mit der Arie („Votre toast je peux vous le rendre“). Auch Carmen gefällt dieser schmucke Held - aber noch wartet sie ja auf José. (...)
In einer Gebirgsschlucht - bei den Schmugglern
José ist nun einer der Schmuggler, aber glücklich ist er hier nicht. Carmen, derentwillen er seine Ehre, seinen Ruf, seine Karierre geopfert hat, ist an ihm nicht mehr interessiert, sie schenkt ihre Gunst nun Escamillo. Die Frauen haben sich dem Kartenlegen zugewandt, und die Karten sagen Carmen immer wieder den Tod voraus. (...) Escamillo nähert sich dem Lager. Als José ihn erblickt, kommt es beinahe zum Zweikampf - jedoch die Schmuggler trennen die beiden Kampfhähne. Escamillo verlässt die Szene, lädt aber alle zu seinem nächsten Stierkampf ein.
Platz vor der Arena in Sevilla
Grosser Menschenauflauf vor der Arena, alle wollen die Toreros bestaunen, die gerade einziehen. Auch Carmen ist anwesend - mit Escamillo. Sie verspricht sich ihm, wenn er den Kampf gewinnt. Frasquita und Mercedes, die beiden Zigeunerinnen, haben José gesehen und versuchen Carmen vor ihm zu warnen - vergebens, sie hat keine Angst. José will Carmens Liebe erzwingen (...). Kalt erklärt sie José, daß sie keine Liebe mehr für ihn empfände. Sie wirft ihm den Ring, den er ihr einst geschenkt, vor die Füße. Jubel aus der Arena zeigt Escamillos Triumph an, er hat gesiegt. Als Carmen in die Arena will, ersticht sie José. Sie stirbt in jenem Augenblick, da Escamillo strahlend aus der Arena kommt, um seinen Sieg mit Carmen zu feiern.
Tamino Klassikforum Wien - Opernführer
Aus der Werkgeschichte (MGG 1986)
In ein paar gesprochenen Zeilen in Carmen (die überall außer in Paris wegfallen, weil überall die nach Bizets Tod von Guiraud hinzugefügten Rezitative den gesprochenen Dialog verdrängen) heißt es mit den Worten Mérimées: „... das Benehmen von Frauen und Katzen, die nicht kommen, wenn man sie ruft, und die kommen, wenn man es nicht tut...“ Diesen weiblichen Wesenszug und seine Wirkung auf die Opfer musikalisch auszudeuten, gelang Bizet in vollendetem Maße. Um Carmens Vitalität und ihren betörenden Reiz auf José auf der Bühne darzustellen, war es nötig, verschiedene gegensätzliche Charaktere in ihrer Entwicklung darzustellen, die in Mérimées Roman nur angedeutet sind. Man hat bemängelt, daß Micaëla und Escamillo in das Libretto eingefügt worden sind.
Aber ohne Micaëlas Unschuld und Escamillos normales Verhalten konnte die fortschreitende Entartung des José vom biederen bäuerischen Soldaten zum Räuber und Mörder nicht sichtbar gemacht werden. An der Neueinführung dieser Gestalten wie an
vielem anderen zeigt sich die Entschiedenheit von Bizets Künstlertum. (...) Die Heldin - von Anfang an unmoralisch, der Held - von einer Stufe zur andern absinkend, der Dichter, der nirgends eine Moral aufzeigt: alles das entsetzte die Theaterdirektion derart, daß sie auf jede Weise eine Änderung des Librettos zu erreichen suchten. Vor allem wünschten sie ein gutes Ende. Selbst die Librettisten waren zu Konzessionen geneigt. Aber Bizet, der viele Teile des Libretto selbst schrieb oder neu schrieb, wie z.B. die ganze Habanera, ließ sich keinen Kompromiß abzwingen. (...)
Das Lied des Toreador ist als „banal“ bezeichnet worden; aber die Banalität liegt ja gerade in dem Charakter des Escamillo, eines erfolgreichen „Sportsmanns“ und Herzensbrechers, den Bizet dadurch kennzeichnet, daß er ihn den Refrain „piano avec fatuité“ (= Überheblichkeit, Selbstgefälligkeit) singen und „pianissimo“ beenden läßt.
Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG), Bärenreiter-Verlag 1986
nachzulesen auf einer bunten Seite: www.assoziations-blaster.de
Ein „normales Verhalten“, ein „erfolgreicher Sportsmann und Herzensbrecher“: kein Draufgänger. „Piano avec fatuité“ und „pianissimo“, aber keine „überspannte Attitüde“.
... oder Flachkultur?
Wenn die Moderation von NDR Kultur aber nur der Umgangssprache folgt, wird sie niveaulos und verkommt zur Flachkultur.
Warum will der Moderator den Hörern unvermittelt mitteilen, dass Escamillo „ein toller Hecht“ sei? Dass er ein „tolles“ Lied singt, das ist ja unbestritten. Dass er dabei aber auch noch ein „Hecht“ sei? Wozu das? Das war überhaupt nicht nötig, er hat es aber absichtlich gesagt.
Ich habe den Eindruck, es ging ihm nur um eine künstliche Dramatisierung, um oberflächliche Effekthascherei. Damit hat er aber erstens die Situation der Oper nicht getroffen - siehe oben - und zweitens das Übertriebene und sprachlich Flache bedient - siehe anschließend.
Die neutralste Bedeutung für den umgangssprachlichen Gebrauch des „tollen Hechts“ ist „außergewöhnlichen Mann“ (Wiktionary) oder „jemand, der außerordentliche Leistungen vollbringt“ (Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache = DWDS). Und damit hört die Nettigkeit schon auf. Weitere Bedeutungen sind: „Draufgänger, Frauenheld, Kerl, Typ, Weiberheld“ (Wiktionary) bzw. „Draufgänger“ (DWDS), also ein Mann, der seine Ellenbogen gezielt einsetzt. Die ursprüngliche Bedeutung war sogar „raubsüchtig“. Dazu zitiert das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm: „pei dem hecht verstên ich all wüetreich, die arm läut frezzent und auch ir aigen mâg und freunt verderbent.“ Also einen wirklichen Hecht, allerdings unter Menschen.
Warum auch unbedingt ein „Hecht“? Der Hecht ist ein besonders aggressiver Raubfisch: „Die Hechte (Esocidae) gehören zur Raubfischfamilie der Esociden. Sie haben einen torpedoförmigem Körper und ein weites Maul mit spitzen nach hinten gebogenen Zähnen (Hundszähne). Hechte sind gefräßige Räuber und neigen zu Kannibalismus; über 90 Prozent der Junghechte werden durch die eigenen Artgenossen gefressen.“ (Wikipedia)