Das GANZE Werk

Seit vier Monaten wird eine intensive öffentliche Auseinandersetzung über das neue Programmschema und den kulturellen Auftrag von NDR Kultur geführt. Auf der Veranstaltung der Hamburger Telemann-Gesellschaft zu diesem Thema am 15. Juni 2004 in Hamburg wurde der Initiativkreis Das GANZE Werk gegründet, der sich für den Erhalt kultureller Standards einsetzt und als Kompromiss verlangt, dass von 6 bis 19 Uhr in einer Dauer von mindestens 4 Stunden ganze Werke gesendet werden, so wie es bisher üblich war, wie es in anderen Sendegebieten geschieht und wie es viele Stammhörer schätzen.

Nach unseren Informationen wird der Rundfunkrat des NDR ab Januar 2005 eine Entscheidung zu NDR Kultur treffen. Wir wollen verhindern, dass mit dem aktuellen Häppchen-Durcheinander der heranwachsenden Generation ein falscher Eindruck des musikalischen Erbes vermittelt wird und falsche Hörgewohnheiten entwickelt werden.

Auch veröffentlicht im Kulturinformationszentrum (KIZ), 28. Juli 2004 , des Deutschen Kulturrates und der neuen musikzeitung (nmz)
Diese Presseerklärung führte zur Zusammenarbeit mit der neuen musikzeitung und zur Bereitstellung der Internet-Präsenz www.dasganzewerk.de durch die neue musikzeitung.

Das GANZE Werk, 26. Juli 2004

Presseerklärung

Gibt es eine „Geschmackspolizei“ im Norden Deutschlands?

NDR Kultur von 6 bis 19 Uhr: Beliebiger Dauermix statt freier Auswahl · Initiativkreis Das GANZE Werk gegründet

„Geschmackspolizei“, was ist das? Ein Teil des Wortschatzes des Programmdirektors Hörfunk des NDR, Gernot Romann (epd-Medien 19. Februar 2003, „WELT“ 25. Juni 2004). In einem Leserbrief lobt er die „Programm-Macher“ von NDR Kultur, „weil sie es wagen, die Vorschriften einer selbsternannten Geschmackspolizei zu ignorieren“. NDR Kultur will sich also durch Kritiker nichts vorschreiben lassen und weiß in Geschmacks-, ebenso in Kulturfragen schon, wo es langgeht. In Wirklichkeit gängelt NDR Kultur von 6 bis 19 Uhr die Kenner und Liebhaber der Kultur.

Die Ankündigung der Musikstücke erfolgt nur noch kurzfristig im Internet unter www.ndr-kultur.de . Ansonsten erfährt der Hörer nicht, auf welches Potpourri er sich einlässt. Er wird von NDR Kultur völlig bevormundet. In 12 ½ Stunden ertönt ein Mix aus knapp 95 Musiktiteln.

Im Schnitt wird alle 7 ½ Minuten ein neues Musikstück der Sparte „klassische Musik“ oder aus dem Bereich Filmmusik, Pop usw. gestartet, wegen der vielen Wortbeiträge ist seine Dauer kürzer. Was kann das dann schon sein? Eine Ouvertüre oder ein Satz, ein Ausschnitt aus einer längeren Komposition. Vielleicht gibt es an einem Tag 2 bis 3 vollständige Kompositionen, dann aus der Zeit vor 1770, weil sie nicht so lang sind. Die „stilsichere“ Reihenfolge, so Wellenchefin Mirow, mag ein geheimes Geschmacksrezept von NDR Kultur sein, für Musik­freunde ist es ein beliebiges und unerträgliches Durcheinander. Der Hörer soll das „konsumieren“ (Romann), was NDR Kultur mit unterschiedlicher Gewichtung in einen großen Topf geworfen hat und dann pro Sendung computer­gestützt herausfischt.

Vom 17. Mai bis zum 26. Juli hat NDR Kultur nach den eigenen Veröf­fentlichungen 15 mal den 1. Satz des 3. Brandenburgischen Konzertes von Johann Sebastian Bach und 10 mal den Satz „Saltarello“ der „Italienischen Sinfonie“ oder den „Kriegsmarsch der Priester“ aus Athalia von Mendelssohn gespielt. Die Liste der häufig wiederkehrenden Stücke lässt sich mit etwas Fleiß präzise fortsetzen. Ein Einzelstück, das einmal erwählt wurde, weil es ein „Highlight“ oder vielleicht schmissig oder schmusig ist, kommt in bestimmten Abständen, gleich interpretiert, wieder. Umgekehrt wird sonst trotz der Menge an gesendeten Einzelstücken vieles ausgeschlossen oder selten serviert: langsame Sätze, Kammermusik, Kompositionen vor 1700 und nach 1900. Zum Beispiel Telemann: in dem untersuchten Zeitraum wurden 33 mal Konzert-Einzelsätze gespielt (einige Sätze mehrfach), nur schnelle Sätze, kein einziger langsamer Satz – an Kammermusik wurde in den 10 Wochen ein einziger Triosatz gespielt, berühmte Werke wie die „Pariser Quartette“ konnte man nicht kennenlernen.

Nach § 11 des Rundfunkstaatsvertrages hat NDR Kultur einen Kulturauftrag und muss Repertoirevielfalt bieten. Mit welchem Recht wird stattdessen dem Hörer in der Hauptradiozeit so vieles vorenthalten und der Kulturauftrag verletzt?

Die Moderation wird zunehmend von kritischen Hörern als oberflächlich empfunden. Nach Frau Mirow ist eben „der unprätentiöse Stil (...) gewollt“ (prätentiös = anspruchsvoll).

NDR Kultur ist stolz auf die aktuelle Kultur-Berichterstattung. Die Beiträge sind jedoch auf 2 ½ Minuten komprimiert. Die Inhalte stehen oft in keinem Zusammenhang mit der Musik und wiederholen sich häufiger. Verfolgt man die Inhalte über längere Zeit, stellt man ein ausgedehntes verbales Netz der NDR-Eigenwerbung fest: ein großer Teil behandelt als Ankündigung, Quiz, Vorschau, Nachricht oder Nachbetrachtung Sendungen oder Veranstaltungen von und mit NDR Kultur. Der Hörer gewinnt den Eindruck, die Hälfte der Kultur im Norden Deutschlands laufe über NDR Kultur.

Die Wortbeiträge von NDR Kultur in der Hauptradiozeit offenbaren eine große Lücke in der Weiterbildung seiner Hörer. Warum wird auch der Bildungsauftrag verletzt?

Wenn man den Stil des privaten, nicht öffentlich-rechtlichen Senders Klassik Radio kopiert, mag man ihm Hörer abjagen, wozu dann aber noch einen gebührenfinanzierten Sender?

NDR Kultur hat reichlich Medienpartner. Diese haben Vorteile und erhalten auf Umwegen Gelder aus dem Gebührenaufkommen. Neben den Verflechtungen zwischen NDR und Schleswig-Holstein Musik Festival, die Joachim Mischke am 19. Juli 2004 im „Hamburger Abendblatt“ dokumentiert hat, erlangt NDR Kultur damit in einem großen Sendegebiet einen Einfluss, den man in der freien Wirtschaft als marktbeherrschend charakterisieren würde.

Medienpartner sind systematisch zum Schweigen verurteilt, wenn es um eine Stellungnahme zu NDR Kultur geht. Viele Menschen teilen dort unsere Kritik an NDR Kultur. Wir haben es schon oft erfahren, dürfen es aber nicht benennen.

Gibt es eine „Geschmackspolizei“ im Norden Deutschlands?