Thematischer Kulturwellenvergleich

Chormusik und Lied als Prüfsteine

Programmrecherche bei ARD-Kultursendern

Von Ludolf Baucke

Artikel speichern/drucken (Pdf)

Der Blick in den vom Deutschen Musikrat herausgegebenen MUSIKALMANACH offenbart für das vokale Laienmusizieren stattliche Zahlen. Die Statistik von 2005/06 nennt insgesamt 48.500 weltliche und kirchliche Chöre. In ihnen singen fast 1,4 Millionen Menschen. Die Zahl erhöht sich durch Hinzunahme nicht aktiver Förderer auf knapp 2,4 Millionen Choranhänger.

Wie reagieren Kulturprogramme des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auf diese Zahlen? Antworten darauf lieferte eine Anfang 2008 an den Werktagen zwischen 9 und 19 Uhr gemachte Stichprobe. Dabei wurden die von den Programmen BR 4 Klassik, hr 2 kultur, MDR Figaro, kulturradio vom rbb, SR 2 KulturRadio, SWR 2 und WDR 3 im Internet veröffentlichten Sendeübersichten, besonders die dort überlieferten Listen der Musiktitel ausgewertet. Diese können durchaus von den tatsächlich gesendeten Titeln abweichen, doch dürften die Unterschiede nur geringfügig sein. In einem Fall, bei den sonnabendlich zwischen 9 und 12 Uhr von NDR Kultur erfüllten Hörerwünschen, konnte wegen der nicht im Internet nachzulesenden Werke keine Musik ausgewertet werden.

Einmal in Sachen Musik und Sprache auf die Spur gebracht, bot es sich an, die Gattung des Kunstliedes, also des instrumental begleiteten Sololiedes, einzubeziehen. Diese hat sich vor allem in der deutschen Romantik zum zentralen Anliegen des Komponierens entwickelt und wurde so bedeutsam, dass die Franzosen dafür aus Respekt kein eigenes Wort fanden, sondern den Begriff „le lied“ prägten. Ausgeklammert wurden Arien und Chöre aus Opern, nicht aber Chansons und Songs.

Weil mit der Stichprobe kein Ranking der Programme betrieben werden soll, werden die Programme in alphabetischer Folge behandelt.

Bayerischer Rundfunk: BR 4 Klassik

Die am frühen Nachmittag platzierte Sendung „Cantabile“ präsentiert am Montag das Brahmssche „Wiegenlied“ und fokussiert die Gattung Lied am Freitag mit fünf Liedern von Richard Strauss, Gustav Mahlers „Liedern eines fahrenden Gesellen“, Richard Wagners „Wesendonck-Liedern“ und den „Ariettes oubliées“ von Claude Debussy. Im Magazin „Leporello“ vom 8. Januar findet sich außer der Buxtehude-Kantate „Herr, wenn ich dich nur habe“ auch Mozarts „Das Veilchen“. Am 9. Januar schließlich stellt die CD-Box mehrere Lautenlieder des Mittelalters und der Renaissance vor, und gleich anschließend sendet die „Philharmonie“ als einziges Chorwerk der beobachteten Zeit Mendelssohn-Bartholdys Hymne „Hör mein Bitten“ mit der Solistin Julia Hamari und dem Stuttgarter Kammerchor. Anmerkung: Nicht betrachtet wurde das überwiegend auf Wortsendungen ausgerichtete Kulturprogramm BR 2.

Hessischer Rundfunk: hr 2 kultur

Die von 10.05 - 11.55 Uhr ausgestrahlte Klassik-Matinee stellt Christoph Prégardien als Musiker der Woche vor - dieser Tenor singt am Montag Gustav Mahlers „Lieder eines fahrenden Gesellen“, am Mittwoch vier Schubert-Lieder und am Freitag den kompletten „Liederkreis“ op. 39 von Robert Schumann. Im untersuchten Zeitrahmen finden sich außerdem noch in der nachmittäglichen „Klassik-Zeit“ fünf Granados-Lieder (11.1.) und als einziges Beispiel für Chormusik Edward Elgars „Drei Lieder für Chor a capella“ mit dem RIAS-Kammerchor (7.1.).

Mitteldeutscher Rundfunk: MDR Figaro

Das tagsüber von kurzen Stücken durchzogene Musikprogramm weitet das Spektrum aus und bezieht neben herkömmlichen Kunstliedern (Mahler, Schumann, Zemlinsky) Chansons (Juliette Greco, Charles Aznavour), Volkslieder und vorbarocke Lieder (Dowland, Caccini, Monteverdi) ein. Das ebenfalls kurzweilige Chorlied und andere Chorwerke fehlen tagsüber.

Norddeutscher Rundfunk: NDR Kultur

Nur zwei tagsüber am 11. und 12. Januar gesendete Lieder Wolf Biermanns belegen, dass die Gattung Lied in der beobachteten Woche nicht vollkommen vergessen ist. Chormusik, gleich ob vom Chor des Norddeutschen Rundfunks oder halbprofessionellen Laienensembles gesungen, fehlt vollständig.

Radio Berlin-Brandenburg: kulturradio vom rbb

In der Sendung „Morbach live“ (Mo, Di, Fr von 18.05 - 19 Uhr) wird der Musikliebhaber auf Rincks Weihnachtskantate, das Sanctus einer Rathgeber-Messe, Madrigale der italienischen Renaissance und altenglische Vokalwerker (mit den Tallis Scholars und „The Choir of New College Oxford“) aufmerksam gemacht. Weitere Chorwerke sendet die Mittagsmusik am 10. Januar (Cristofaro Caresanas „Dixit Dominus“ und ein Ausschnitt aus Francesco Provenzales „Missa defunctorum“). Kunstlieder im sonstigen Tagesprogramm gibt es nicht.

Saarländischer Rundfunk: SR 2 KulturRadio

Vier mittelalterliche Chansons, ein altenglisches Lied, zwei Lieder von Richard Strauss, Gustav Mahlers „Rheinlegendchen“ sowie am 7. Januar im dreiviertelstündigen „Apresmidi“-Themenschwerpunkt „Zigeunerweisen“ drei Zigeunermelodien von Dvorák und zwei Zigeunerlieder von Brahms belegen, dass die Gattung des Sololiedes stilistisch aufgefächert wird und ihren festen Platz im Tagesprogramm hat. Auch Chormusik findet Sendeplätze, nicht nur samstags von 17.30 - 19.00 Uhr in der Sendung „Musik an der Saar“, sondern auch mitten in der Woche am 7.1. („Confutatis Lacrimosa“ aus Mozarts „Requiem“) und 9.1. (Beethovens „Chorfantasie“ op. 80 und ein schwedisches Lied von Wilhelm Peterson-Berger).

Südwestrundfunk: SWR 2

Chormusik und Lied finden sich gebündelt in vier Schwerpunkten. Während am 7. und 8. Januar im vormittäglichen „Treffpunkt Klassik“ fünf Lieder aus Schuberts „Schwanengesang“ und sechs Mozart-Lieder gesendet werden, enden die „SWR 2 Klassiker“ am 8.1. mit Mahlers Kindertotenliedern. Das jeden Mittwoch unter das Motto „Vokal“ gestellte Mittagskonzert wagt sich mutig und avantgardistisch in die Neuzeit vor. Während das SWR Vokalensemble Stuttgart A cappella-Werke von György Ligeti (Lux aeterna und drei Phantasien nach Friedrich Hölderlin) und György Kurtág (Omaggio à Luigi Nono) singt, interpretieren der Sänger Kurt Widmer und die Bläser Heinrich Huber und David LeClair Kurtags 6 Hölderlin-Gesänge für Bariton solo mit Posaune und Tuba op. 35a.

Westdeutscher Rundfunk: WDR 3

Die werktäglichen Sendeplätze „Klassik-Forum“ (9.05 - 11.45 Uhr), „WDR 3 am Mittag“ (12.05 - 15 Uhr) und „Musik-Passagen“ (15.05 - 17 Uhr) sind Fundgruben für neugierige Musikliebhaber. In den beiden erstgenannten Sendefolgen erklingen nicht nur „Solveigs Lied“ (Grieg) und Haydns „Sailor's Song“, sondern auch Othmar Schoecks „Nachruf“ op. 20/14. und Karol Szymanowskis „Mein Abendlied“ aus dem Tryptichon op. 5/3. Noch aufschlussreicher sind die Musik-Passagen mit ihren jeweils thematisch zusammenhängenden Musikbeispielen. Während Richard Korber am 7. Januar Beziehungen zwischen Mäzenen und Musikern beleuchtet und das mit Balladen und isorhythmischen Motetten von Guillaume Dufay sowie Ausschnitten aus Bachs Jagdkantate und Pendereckis „Te Deum“ veranschaulicht, porträtiert Catrin Mödeler am folgenden Nachmittag „Musik aus der Grande Nation“ u.a. mit dem Satie-Lied „Je te veux“. Kerstin Kilanowski sondiert am 9. Januar Musik „Zwischen den Geschlechtern“ und schlägt dabei einen Bogen vom Vokalensemble „Chanticleer“ bis zur Tuva-Sängerin Sainkho Namchylak. Ulrich Mutz schließlich fokussiert am 10. Januar „Musik in Verona und rund um den Gardasee“ und stützt sich dabei auch auf den dritten Akt aus Carl Orffs „Catulli Carmina“ (mit dem WDR Rundfunkchor Köln), drei Beispiele aus dem „Italienischen Liederbuch“ von Hugo Wolf, einen Ausschnitt aus Debussys Oratorium „Le Martyre de Saint-Sebastien“ und gitarrenbegleitete italienische Folklore.

Aus Österreich gehört

Das Kulturprogramm Ö 1 erinnerte am 7. Januar in „Apropos Klassik“ (15.06 - 16.30 Uhr) mit einem Beispiel aus dem Zyklus „Jahreskreis“ an den vor 100 Jahren geborenen Chorkomponisten Hugo Distler und kombiniert in den folgenden Wochen zur gleichen Zeit mehrfach Mörike-Vertonungen miteinander, die Hugo Wolf als klavierbegleitete Sololieder und Hugo Distler chorisch komponierten. Außerdem sendete Ö 1 am 10. Januar in seinem „Konzert am Vormittag“ einen Konzertmitschnitt aus der Deutschen Kirche in Stockholm vom 7. Juni 2007. Auf dem Programm standen Kantaten der Norddeutschen Franz Tunder, Christian Geist und Dietrich Buxtehude.

Fazit

Die Stimme ist des Menschen ureigenstes Instrument. In gestalteten, also inhaltlich überlegten Sendungen wird das hörenswert dokumentiert. Die formatierten Tagesprogramme jedoch klammern die Gattungen Chormusik und Lied weitgehend aus. Zwischen Format und Formatierung gibt es deutliche Unterschiede bezüglich der programmlichen Qualität.

Nun könnte zwar die vokale Abstinenz des NDR das Verdikt „Frisia non cantat“ belegen, doch stimmt das nicht mit dem Musikleben (siehe Einleitung) überein. Zwischen Aurich, Flensburg, Rostock, Göttingen und Meppen gibt es viele engagierte Chöre - und beim Norddeutschen Rundfunk arbeitete im Funkhaus Hannover früher sogar ein inzwischen leider eingesparter Redakteur für „Kammermusik und Lied“. Sebastian Peschko und sein Nachfolger Peter Stamm schrieben Hörfunkgeschichte als vorbildliche Anwälte und Vermittler ihrer Gattungen. Unvergessen bleibt die Reihe „Meister des Liedes“, in denen die Redakteure aus Lust und Leidenschaft sogar selbst in die Tasten griffen und sich als kundige Liedpianisten präsentierten.

Mitten in der abschließenden Ausarbeitung dieses Textes sorgte wiederum Ö 1 für eine willkommene Unterbrechung. In „Apropos Klassik“ vom 6. Februar behandelte Johannes Leopold Mayer das Thema „Die Liebe“, und dazu nahmen musikalisch Beethoven, Haydn, Schubert, Schumann, Schostakowitsch und Hugo Wolf Stellung - zwei von ihnen mit Kunstliedern und Franz Schubert mit dem Männerchor „Wohl denk' ich allenthalben, o du Entfernte, dein...“

Statt „Frisia non cantat“ nun „Tu felix Austria!“.

abgeschlossen am 8. Februar 2008