NDR Kultur - Korrespondenz

Umfang und Gehalt der Feuilletons aller großen deutschen Tageszeitungen sind erheblich gewachsen, weil die Zeitungen sonst nicht konkurrenzfähig sind.
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Sie, Herr Romann, haben NDR 3 zu einem Programm gemacht, das klassische Musik krass missbraucht, um konkurrenzfähig zu bleiben...

Welcher Denkfehler liegt hier zugrunde?

Rudolf Kelber
Kirchenmusikdirektor
28.9.2004

Herrn Gernot Romann
Programmdirektion Hörfunk
Norddeutscher Rundfunk
Rothenbaumchaussee 132

Sehr geehrter Herr Romann,

seit längerer Zeit, aber insbesondere seit der letzten Programmreform, verfolgen viele Freunde des Hörfunks mit Besorgnis einen bemerkenswerten Niedergang des Programmniveaus von NDR-„Kultur“. Deutschlandweit führend hat der Norddeutsche Rundfunk mit den jüngsten Veränderungen den Weg in eine Richtung angetreten, die, wenn sie nicht korrigiert wird, mit der Selbstaufhebung des öffentlich-rechtlichen Systems enden muss.

Trotz der in diesem Hörfunkwelle inflationär wiederholten Versicherung, dass es sich um ein Kulturprogramm handelt, - es ist fast von einem jingle-Dschungel zu sprechen - unterscheidet sich NDR 3 olim tagsüber praktisch nicht mehr von privaten classic-Programmen. Es herrscht der gleiche Missbrauch von Musik - Einzelsätze, Versatzstücke, Wiederholung von Hits, unerträgliche Programmdoubletten, ggf. am gleichen Tag. Es entstehen keine sinnvollen Zuordnungen, sie sind gar nicht gewünscht, es herrscht ein Nachlaufen einer virtuellen Zapp-Hörerschaft, die aber infamerweise Produkt dieser Magazinierung per Programmreform ist. Der Kulturmensch - und den gibt es noch in einzelnen Exemplaren - hat keine Hörfunk-Heimat mehr, er leidet physische Schmerzen beim Anhören des Gewäschs gewisser Moderatorinnen, die ihre Ware wie Kosmetika oder Pralinen verkaufen. Er dreht weiter, versucht es beim Deutschlandfunk oder Deutschlandradio oder beim anderen ARD-Anstalten, um festzustellen, dass es dort auch bergab geht, er dreht am Knopf noch einmal zurück, um dann gänzlich abzuschalten. Er kann auch nicht einmal mehr qualifiziert einschalten - die ärgerliche Desinformation über das Programm tut das ihre. Warum hat ein Gebühren zahlender Hörer nicht das Recht, im voraus in einer traditionellen Programmlatte in der Zeitschrift informiert zu werden? Weswegen wird das nicht mehr gemacht? Eine Programm, schwarz auf weiß und veröffentlicht, würde nämlich die Dürftigkeit dieser kurzatmigen Zusammenstellungen inklusive der Doubletten offen legen.

Einzig, was an Resten aus dem alten Programm noch übriggeblieben ist, nehme ich ausdrücklich von dieser Kritik aus: es gibt auch tagsüber sorgfältig kommentierte und liebevoll geschnittene Literatursendungen und abends entwickelt das Programm insgesamt unerwartet Format (s.u.).

Zum Vergleich: Trotz einer prekären Finanzlage aufgrund eines dramatischen Einbruchs bei den Anzeigen leisten sich alle großen deutschen Tageszeitungen - ich spreche nicht vom Hamburger Abendblatt - ein mehrseitiges Feuilleton, das sich außer mit Berichterstattung über aktuelle Kulturereignisse, auch mit tiefergehenden Themenkreisen und geistigen Grundlagen der Zeit beschäftigt. Umfang und Gehalt dieser Teile sind sogar, seit ich dies bewusst verfolge, erheblich gewachsen. So hatte die Süddeutsche Zeitung vor dreißig Jahren einen 1-2 Seiten umfassenden Feuilletonteil, heute sind es 4-6 Seiten. Die Themen sind weit gespannt, weiter als vor dreißig Jahren, traditionelle bürgerliche Hochkultur ist nicht mehr einziger Gegenstand der Erörtertungen. Es gibt in den Feuilletons große Artikel, die eigentlich in den Politikteil gehören, dort aber keinen Platz bekommen, vielleicht, weil sie zu anspruchsvoll sind - genaue Zusammenhänge sind mir hier nicht bekannt. Obwohl die Zeitungen keinen grundgesetzlichen Bildungsauftrag haben, tun sie dies, und sie tun es nicht aus Nächstenliebe, sondern weil sie sonst nicht konkurrenzfähig sind.

In der gleichen Zeit - ich höre NDR 3 seit 22 Jahren - haben sich die gehobenen Hörfunkprogramme der ARD - der NDR dabei immer mit der Nase vorn - von einem niveauvollen Programm, das durchaus nicht nur der klassischen Musik verpflichtet war, das interessante Textbeiträge, gar noch von einer pädagogischen Idee geleitet, und verschiedenster Arten von Musik, auch solcher des 20. Jahrhunderts zu einer gehobenen Vielfalt verband, verabschiedet.

Sie haben zuerst den Weg zu einem reinen Programm des Abspielens klassischer Musik des 18. und 19. Jahrhunderts mit einigen Wortinseln zurückgelegt und dann in jüngster Zeit zu einem Programm gefunden, das klassische Musik krass missbraucht.

Dies geschieht angeblich, um konkurrenzfähig zu bleiben...

Welcher Denkfehler liegt hier zugrunde? Auf welche Schlange starrt dieses Kaninchen?

Sind da - seit der Einführung privaten Fernsehens und Hörfunks - nicht völlig falsche Maßstäbe im Spiel? Ich vergleiche jetzt weder die Bild-Zeitung mit arte, noch Radio energy mit FAZ, sondern etwas, was vergleichbar ist: das Feuilleton der FAZ oder der SZ mit dem angeblich anspruchvollsten Hörfunkprogramm des NDR.

Und wie kommt es dann, dass das Print-Feuilleton, dass nicht von Gebühren lebt, in dem gleichen geistigen Großklima eine Entwicklung zu mehr Umfang und mehr Anspruch erlebt, während das subventionierte Hörfunkprogramm sich auf norddeutsche Tiefstebenen begibt. Was beweist das Anwachsen der anspruchsvoller Teile der Zeitungen? Sind die Leute doch nicht so dumm, wie man sie verkauft? Hat das elektronische Medium per se nicht das Zeug zur Darstellung von anspruchsvolleren geistigen oder künstlerischen Zusammenhängen?

Das wäre aber durch 75 Jahre Rundfunkgeschichte widerlegt.

Wohlgemerkt bezieht sich mein Vergleich mit den Zeitungen nur auf den Feuilleton-Teil, im Gesamtumfang und bei den anderen Sparten haben Tages- und auch Wochenzeitungen auch reduziert, teilweise auch aus falscher Leserfreundlichkeit...

Aber zurück zum Hörfunk:

Am Abend, wenn die Quote dann keine Rolle mehr spielt - warum eigentlich? -, ist das Programm nicht mehr wiederzuerkennen. Die intellektuellen Ressourcen, die anscheinend immer noch vorhanden sind, werden plötzlich genutzt. Längere Spannungsbögen entstehen, man empfindet plötzlich die Qualität eines Mediums, das alle Chancen hätte, autonom und trotzdem hörerfreundlich mit Zeit umzugehen. Umso schlimmer, wenn dann die relative Ruhe von der nervösen Einblendung eines vorgefertigten Programmbausteins (z.B. Eigenwerbung oder Veranstaltungshinweis) unterbrochen wird. Das ist dann schlechtes Timing, und jenseits von geschmacklichen Vorlieben einfach handwerklicher Fehler aus Gedankenlosigkeit. Unter schlechtes Handwerk zu zählen sind auch die sich häufenden Fehler bei den Absagen - Ansagen gibt es ja kaum noch vollständige -, die den Eindruck erwecken, im Hause würde insgesamt so schludrig gearbeitet. Es wird aber nur schludrig am Mikrophon gehaucht, Namen falsch angesagt oder falsch ausgesprochen, falsche Besetzungen abgesagt.

Man verlangt ja nicht, dass der Ansager oder Moderator das Programm so mitverfolgt, dass er selbst merkt, ein gerade gehörtes Stück für Gesang und Violine sei nicht ein Stück für Klavier und Violine. Aber dann soll er seinen Zettel genau lesen; es gibt Hörer, die das merken. Und ein Mindestmaß an Gleichklang mit den Inhalten muss gegeben sein. Man kann die Morgenandacht nicht wie ein Deo anpreisen.

Das schlimmste - und das verursacht wirklich Ekel und physische Störungen - ist aber die inflationäre Jingelei... Wenn sogar ein unschuldiges Objekt wie die geistliche Morgensendung am Sonntag von 8.40 bis 9.00 - ein Sendeplatz von im übrigen sehr gutem Niveau - mit einem dieser furchtbaren Jingles zur Strecke gebracht wird, ist das Maß voll. Wer hat sich diese Geschmacklosigkeiten ausgedacht? Damit erziehen Sie die Hörer zum qualifizierten Abschalten und verfehlen damit das selbst gesteckte Ziel des Begleitmediums. Mit einem Begleiter, der sich so aufdrängt wie der derzeitige NDR-Kultur, würde ich es keine zwei Tage auf einer Reise aushalten. Wenn sich ein geschickter Hersteller darauf verstünde, eine Jingle-Kill-Automatik zu entwickeln, würde er in eine Marktlücke stoßen.

Apropos Begleitmedium: Auch beim Bügeln stört Dudelei, stören falsche Informationen, stört Seifenverkauf-Anmache.

Mit Ihren Erfolgsmeldungen betreffs dieser Programmreform belügen Sie sich doch selbst.

In Wirklichkeit gibt es eine Flut von Hörerprotesten, die von Welle und Programmdirektion hinhaltend beantwortet werden, im Tenor Senioren-tätschelnd, die - altmodisch gepolt - diese neuesten Segnungen nicht verstehen. Wenn Sie zu den protestierenden Hörern noch eine schweigende Mehrheit von Leuten unterstellen, denen es zu doof ist, sich eigens zu äußern, wenn sie nicht nach der Einschalt-, sondern nach der Abschaltquote gehen, haben Sie bald die letzten der Hörer verloren, für die dieses Programm ursprünglich erdacht worden ist, und nicht einmal neue hinzugewonnen.

Es gäbe doch in diesem Minderheitenprogramm die Chance, auch für das 21. Jahrhundert hochwertigen Rundfunk zu machen. Der Hörfunk als „Kultur“ Medium könnte jenseits des hektischen Gedudels eine neue Qualität souveränen Umgangs mit Zeit etablieren, Laboratorium für die Wiederentdeckung verschiedener Tempi sein, nicht nur die der Langsamkeit... Das wäre eine Chance, eine Nische. Warum wird dies nicht genutzt? Warum muss ein Apparat, der eigentlich aus dem Vollen schöpfen kann, die Methoden der Sender kopieren, die mit vier Mann und einem Programmcomputer ein reines Abspielprogramm bestreiten?

Warum begreifen sich die Programme nur als Erfüllungsgehilfen eines immer schneller werdenden Tempos und einer immer gedankenloseren Durchnudelung klassischer Musik? Ich rede nicht mehrminütigen Sendepausen das Wort, wie sie in den 60er Jahren noch üblich waren, aber ein Timing, wie es derzeit herrscht, ist der menschlichen Physis abträglich, weil es kein Ausatmen kennt. Wenn die wohlüberlegten Pausen, die bei CD-Schnitten als organisch gelten, so erbarmungslos verkürzt werden, brauchen Sie sich nicht zu wundern, wenn die Hörer sich immer unbehaglicher fühlen.

Sie hätten in einem solchen Programm die Aufgabe, die geneigten Hörer/innen mit einem gut dosierten, dabei nicht spannungslosen ritenuto in eine Welt zu führen, die nicht dem Normaltempo unserer Arbeitsprozesse gehorcht. Das kann sonst nur Kunst. Früher konnte es Rundfunk auch. Beim Nachtkonzert der ARD, zu einer Tageszeit, wo man keiner Quote hinterherhecheln muss, entsteht manchmal eine Vision von diesem Radio; man hört eine Symphonie von Bruckner, diesmal auch den langsamen Satz, blickt auf Bäume oder fährt durch mit Neuschnee verschneite Straßen und bekommt einen Begriff, was dieses Medium leisten könnte.

Ich kann Sie nur beschwören: Re-reformieren Sie diesen Sender, nutzen Sie die im Hause noch vorhandenen Personal-Ressourcen, stellen Sie sicher, dass der vom Grundgesetz geforderte Auftrag erfüllt wird. Und - vor allem - ändern Sie die Vorgaben, unter denen produziert wird: Es muss ja nicht am Nachmittag eine ganze Mahler-Sinfonie sein, aber von einem zwölf Minuten dauernden Konzert von Vivaldi kann man doch in Gottes Namen alle drei Sätze spielen. Und stellen Sie die Jingles ab, dann können ganz viele Leute wieder ohne Magenschmerzen diesen Sender hören.

Mit freundlichen Grüßen
gez. R. Kelber