Das GANZE Werk - Presseschau

Hamburger Abendblatt, 21. Januar 2006

Interview mit Volker Herres zum Buch „Mattscheibe - Das Ende der Fernsehkultur“ von Jürgen Bertram

„Wir sind heute viel näher dran“

Debatte: Antworten auf die Kritik eines ehemaligen Redakteurs. Gegensätze von leicht und schwer, Quote und Qualität sind gestrig - meint der NDR-Fernsehchef.

Von Karin Franzke

HAMBURG - „Mattscheibe - Das Ende der Fernsehkultur“ heißt das Buch von Jürgen Bertram, in dem der ehemalige NDR-Redakteur die Mechanismen der ARD kritisiert und sein Unbehagen am Programm aufgeschrieben hat. Im Abendblatt-Interview forderte er Seriosität, Verläßlichkeit und Kritikfähigkeit von den Fernsehschaffenden. Jetzt antwortet Volker Herres, NDR-Programmdirektor.

ABENDBLATT: Was war Ihre erste Reaktion, als Sie das Buch von Jürgen Bertram gelesen haben?

VOLKER HERRES: Ich fand es ungerecht gegenüber den vielen engagierten Kolleginnen und Kollegen im NDR, die sich tagtäglich der harten Konkurrenz stellen und ein ebenso anspruchsvolles wie zuschauerattraktives Programm produzieren. Bertram konnte einst in seiner aktiven Zeit unter sehr viel privilegierteren Bedingungen arbeiten.

ABENDBLATT: War das öffentlich-rechtliche Fernsehen früher wirklich besser, wie Bertram auch im Abendblatt-Interview meint?

HERRES: Nein. Menschen neigen zur Verklärung der Vergangenheit, der kollektiven wie der eigenen. Wir sind heute sehr viel näher an den realen Interessen der Menschen und weg von volkspädagogischem Gehabe. Gleichwohl bieten wir mehr Information, Kultur und anspruchsvolle Filme als jeder kommerzielle Konkurrent. Auch handwerklich und formal hat sich das Fernsehen weiterentwickelt.

ABENDBLATT: Stimmt es denn nicht, daß gute Quoten oft als Rechtfertigung für „leichte Kost“ herangezogen werden?

HERRES: „Leichte Kost“ soll ja sehr gesund sein. Und wir sind ja auch schlanker und beweglicher geworden. Ich halte diese abgestandenen Gegensätze von leicht und schwer, ernst und unterhaltsam, Quote und Qualität für gestrig. Wir müssen das eine tun, ohne das andere zu lassen: Wir machen das Wichtige und Gute populär und das Populäre gut. Und mit dem intellektuellen Hochmut gegenüber Königsberichterstattung und Volksmusik konnte ich noch nie etwas anfangen. Wo man singt, da laß dich ruhig nieder...

ABENDBLATT: Bertram kritisiert offen die „fortschreitende Boulevardisierung des Dritten“...

HERRES: Das ist ein Zerrbild, das Bertram hier zeichnet. Ich frage mich, welches Programm er meint. Unser Schwerpunkt ist ganz eindeutig die regionale Information in allen Facetten. Hier liegt der mit weitem Abstand höchste Programmanteil. Regionalität ist das Alleinstellungsmerkmal des Dritten. Deswegen ist das NDR Fernsehen im Norden so beliebt und erfolgreich. Wir haben diese Programmfarbe ja gerade weiter ausgebaut. Und wir haben auf dem Primetime-Sendeplatz 20.15 Uhr fast täglich Informationssendungen oder Dokumentationen. Natürlich gehört zu unserem Programm auch regionale Unterhaltung, wie das außerordentlich beliebte Quiz am Sonntagabend oder die Talkshows am Freitag. Was daran soll schlecht sein?

ABENDBLATT: Warum werden wirklich gut gemachte Reihen wie „Die Geschichte Norddeutschlands“ zu nachtschlafender Zeit ausgestrahlt?

HERRES: Die Reihe wurde auf dem etablierten Sendeplatz des NDR Fernsehens für Geschichtsthemen am Dienstag um 22.15 Uhr ausgestrahlt - das würde ich nicht „nachtschlafend“ nennen. Und die Reihe wurde kurz danach ein zweites Mal im Weihnachtssonderprogramm am Nachmittag um 14.15 Uhr ausgestrahlt. Wer wollte, konnte sie sehen. Viele wollten und haben es getan.

ABENDBLATT: Wie sieht es mit Innovationen aus, das Dritte als Experimentier-Programm?

HERRES: Wir testen jedes Jahr mindestens zehn neue Formate. Denken Sie an das Wissensmagazin „Plietsch“, die Service-Sendung „Ran an“ oder auch an ein Unterhaltungsformat wie „Land und Liebe“ und viele mehr.

ABENDBLATT: Bertram hat viel Zuspruch bekommen, am Donnerstag abend waren etwa 160 Menschen bei seiner Lesung in der Freien Akademie der Künste. Liegt es im Trend, die Öffentlich-Rechtlichen verbal zu hauen?

HERRES: Seine Ratschläge sind ja in der Tat vor allem Schläge. „Hauen“ paßt also ganz gut. Geärgert hat mich, daß es sogar Sachfehler darin gibt, etwa daß Herr Delling ein zusätzliches Einkommen beziehe. Mit Kritik, auch mit pauschaler, muß man leben. Ich kann das, solange wir beim Publikum populär sind. Solange über sieben Millionen Menschen die vom NDR co-produzierte Fernsehfassung des „Untergang“ im Ersten sehen, solange unser „Polizeiruf 110“ Grimme-Preise erntet, solange weit über vier Millionen Zuschauer die Enthüllungen von „Panorama“ über die BND-Verstrickungen im Irak-Krieg verfolgen, solange das NDR Fernsehen das erfolgreichste Dritte ist, solange der NDR Dokudramen wie „Die Manns“ oder „Die Nacht der großen Flut“ produziert... Soll ich weitermachen? Soviel Platz haben Sie gar nicht.

Aufruf der Initiative „Qualität statt Quote“

Lesen das Interview mit Jürgen Bertram
über sein neues Buch „Mattscheibe - Das Ende der Fernsehkultur“:
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Innenperspektive: Kritik an den Mechanismen der ARD. Jürgen Bertram fordert von Fernsehschaffenden Seriosität, Verläßlichkeit und Kritikfähigkeit.
Hamburger Abendblatt, 17. Januar 2006