Das GANZE Werk - Presseschau

Editorial

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Barbara Mirow
Leiterin des Hörfunkprogramms NDR Kultur

Liebe KlassikClub-Mitglieder,

das Jahr 2004 wird vermutlich als ein Jahr der kulturellen Superlative und der großen kulturpolitischen Debatten in die Annalen eingehen. 1,2 Millionen Menschen nahmen eine Wartezeit von zuletzt 10 Stunden in Kauf, um das "MoMA in Berlin" zu sehen. Hitzige Debatten gab es um die Rechtschreibreform, die "Flick-Collection" und den Film "Der Untergang", der inzwischen von mehr als drei Millionen Menschen in Deutschland gesehen wurde.

Erstaunlich viele Museums-Neubauten und -Eröffnungen, steigende Auslastungszahlen in vielen Theatern und Konzerthäusern, Rekordergebnisse beim Schleswig-Holstein Musik Festival und anderen sommerlichen Festspielen zeigen: Das Interesse an klassischer Musik, Malerei, Theater und Literatur ist enorm. Auch NDR Kultur freut sich über deutlich zunehmende Hörerzahlen.

Eine der großen Überraschungen des Jahres 2004 ist der Literaturnobelpreis für Elfriede Jelinek. Wend Kässens hat mit der sehr zurückgezogen lebenden Österreicherin ein Gespräch geführt, das wir am 4. Dezember senden. Anlässlich der Preisverleihung in Stockholm sendet NDR Kultur am 12. Dezember in der Reihe "Sonntagsstudio" ein Porträt der Autorin.

Die "Netrebkonitis" grassiert weiter. Äußerst zufrieden dürfte die Sopranistin mit dem Erfolg ihrer zweiten Solo-CD "Sempre libera" sein. NDR Kultur präsentiert ihr Konzert am 15. 12. 2004 im Congress Centrum Hamburg, und natürlich fehlt ihr Name in der Jahresrückschau der "Großen Stimmen" am 28. Dezember nicht.

Und dann gibt es noch einen runden Geburtstag zu feiern: Nikolaus Harnoncourt wird 75. Hans-Heinrich Raab traf ihn in Amsterdam. Seine Hommage an den großen Dirigenten können Sie in "Prisma Musik" am 4. Dezember hören.

Liebe KlassikClub-Mitglieder, ich hoffe, dass sich auch Ihre Erwartungen an das Jahr 2004 erfüllt haben. Ich wünsche Ihnen frohe Weihnachtstage und die Muße, das NDR Kultur-Programm zu genießen. Auch in diesem Jahr läuten wir mit dem "Weihnachtsoratorium" den Heiligabend auf NDR Kultur ein. Es heißt, dass Bach es niemals als Ganzes, sondern die Kantaten an den einzelnen Festtagen aufgeführt hat.

Ihre
gez. Barbara Mirow

Kommentar

Sehr geehrte Frau Mirow,

danke für den Wunsch nach "frohen Weihnachtstagen", die wünschen wir Ihnen auch, mit vielen Stunden der Besinnung über Musiksendungen mit ganzen Werken. Wenn es zum Beispiel diese Musiksendungen tagsüber von 6 bis 19 Uhr in einer Länge von 4 Stunden ohne störende Effekthascherei gäbe, hätten wir auch viel mehr Grund, "das NDR Kultur-Programm zu genießen", nicht nur an den Weihnachtstagen. Angesichts der bisherigen Erfahrungen seit Jahresbeginn, d.h. vor allem seit der Auflösung der Matinee als geschlossener Musiksendung mit ganzen Werken, kann man nicht behaupten, dass sich unsere "Erwartungen an das Jahr 2004 erfüllt haben", im Gegenteil, sie sind schwer erschüttert worden. Ergebnis: Die Initiative Das GANZE Werk mit zur Zeit 1125 Mitgliedern.

Banale Moderationen ertragen wir jetzt ja täglich, brauchen wir aber nicht. Sie, Frau Mirow, sind da genauso wie Ihre Mannschaft. Wie oft wird von "der" Sinfonie eines Komponisten zum Beispiel in G-Dur gesprochen, obwohl der Komponist mehrere oder sogar viele in dieser Tonart geschrieben hat? Sie "läuten (...) mit dem 'Weihnachtsoratorium' den Heiligabend auf NDR Kultur ein". Nach Ihren Worten gibt es also ein einziges Weihnachtsoratorium, das von Bach, natürlich Johann Sebastian Bach. Pisa, Bildung, Bildungsauftrag: Es gibt viele Weihnachtsoratorien, manche Musiksammlung ist voll davon: zum Beispiel von Carl Heinrich Graun, Joseph Eybler, Antonio Casimir Cartellieri, Camille Saint-Saëns... Ein Weihnachtsoratorium von Georg Philipp Telemann, "Die Hirten an der Krippe zu Bethlehem" nach Worten von Karl Wilhelm Ramler, ist vor einer Woche am 27. November bei St. Johannis in Hamburg-Harburg aufgeführt worden. Wer auf Repertoirevielfalt setzt, kommt erst gar nicht in Verlegenheit, solche Sprachfehler zu machen.

Banale Belehrungen brauchen wir erst recht nicht, auch nicht von der Chefin. "Es heißt, dass Bach es niemals als Ganzes, sondern die Kantaten an den einzelnen Festtagen aufgeführt hat." Warum senden Sie es dann nicht "an den einzelnen Festtagen" bis in das Neue Jahr hinein, sondern nur am 24. und 25. Dezember? - Sie meinen etwas anderes: Sie wollen ganz einfach die Gelegenheit ausnutzen, um zu sagen, dass die Sendung des ganzen Oratoriums in einem Stück unsinnig sei und Das GANZE Werk unrecht habe. Aber das verlangt ja auch keiner. Sie aber lassen, gegen das künstlerische Schaffen der Komponisten, Sonaten, Sinfonien und Instrumentalkonzerte banausenhaft verhackstücken. Und wenn Sie schon die Werktreue beschwören: "Es heißt, dass Bach es niemals als Ganzes, sondern die Kantaten an den einzelnen Festtagen aufgeführt hat." Er hat "es" zunächst gar nicht "an den einzelnen Festtagen aufgeführt", weil "es" zu großen Teilen aus weltlichen Kantaten stammt. Um das zu erfahren, braucht man kein akademisches Seminar. Lesen Sie ganz einfach den Artikel von Frau Brinker am vergangenen Samstag im "Hamburger Abendblatt": "Ursprünglich hatte die Musik aber nichts mit dem Christfest zu tun." "Es heißt..." - Ja, ja. Aber was heißt das schon?

"Frohe Weihnachtstage" mit vielen Stunden der Besinnung über Musiksendungen mit ganzen Werken wünscht Ihnen

Das GANZE Werk.