Das GANZE Werk - Presseschau

NDR KULTUR | KLASSIKCLUB MAGAZIN 09/2004, S. 10 und 11

"Die Rundfunkfreiheit von einigen Dutzend selbsternannten Kultur-Ajatollahs"

Ein Radioprogramm ist kein Konzertsaal

Generelle Trendwende in der Hörfunknutzung
Die aktuelle Media-Analyse beweist: Eine deutliche Mehrheit unterstützt die Reform von NDR Kultur

Von Gernot Romann, NDR Programmdirektor Hörfunk

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Leider hat Gotthold Ephraim Lessing keine Konjunktur. Der Prophet der Toleranz passt nicht ins Schema enger Glaubensbekenntnisse, ist den Geschmackspolizisten unserer Tage suspekt. Auch im Radio gilt: Was nicht den Vorstellungen einer sich als Elite begreifenden Minderheit entspricht wird erbarmungslos bekämpft - bis hin zur persönlichen Verunglimpfung von Programmmachern und Programmverantwortlichen, ganz so, als gäbe es keine Rundfunkfreiheit, als wäre diese Freiheit eine Angelegenheit von einigen Dutzend selbsternannten Kultur-Ajatollahs.

Gottlob leben wir in einer demokratischen Gesellschaft, und der öffentlichrechtliche Rundfunk als solidar finanziertes System muss sich orientieren an seinem Auftrag und damit an den Bedürfnissen und Gewohnheiten von Mehrheiten. Die gibt es auch innerhalb von Minderheiten. Was NDR Kultur betrifft, hat die Mehrheit der Minderheit eine klare Entscheidung getroffen. Eine Entscheidung für die Reform, für eine Öffnung des Klassik- und Kulturprogramms des Norddeutschen Rundfunks. Das belegen eindrucksvoll die Ergebnisse der aktuellen Media-Analyse. Diese Analyse untersucht regelmäßig und auf wissenschaftlicher Basis die Akzeptanz von Radioprogrammen. Und sie beweist: Die Mehrheit unserer Hörer weiß sehr wohl: Ein Radioprogramm ist kein Konzertsaal. Auch keine Volkshochschule. Radiohören muss unterhaltsam sein, muss Vergnügen bereiten. Sonst schalten die Hörer ab. Davon weiß der NDR ein Lied zu singen.

Vor rund drei Jahren sahen sich Programmverantwortliche und Programmmacher von NDR Kultur (damals Radio 3) mit alarmierenden und bis dato nie da gewesenen Einbußen von Reichweite konfrontiert. Der dramatische Hörerverlust in Hamburg von 3,0 Prozent Hörer gestern im Jahre 2001 auf 0,7 Prozent im Jahr 2002, bildete schließlich den Ausgangspunkt für grundlegende Programmanalysen und -überlegungen sowie für sorgfältige und umfangreiche Medienforschungsaktivitäten.

Der im Rundfunkstaatsvertrag festgelegte Auftrag für das Spartenprogramm NDR Kultur, eine möglichst große Anzahl der Klassik- und Kulturinteressierten anzusprechen und zu bedienen, war mit dem damaligen Programm offenkundig nicht mehr ausreichend zu gewährleisten. In der Folgezeit wurden die Ursachen für den Hörerschwund peu à peu identifiziert und die Erkenntnisse innerhalb der vor zwei Jahren begonnenen Reform umgesetzt.

Auf Grundlage der vielfältigen Forschungsvorhaben hat sich den Verantwortlichen ein sehr klares Bild der potentiellen Hörer und ihrer Bedürfnisse offenbart. Letztere wurden - so die einheitliche Erkenntnis - mit dem Programm der letzten "Jahrzehnte" nicht ausreichend befriedigt. Die im Vorfeld der Reform durchgeführte Musik-Präferenz-Studie und die daran anschließende Publikumsbefragung beweisen eindeutig, dass sich die Erwartungen an ein Qualitätsprogramm wie NDR Kultur deutlich gewandelt haben.

Die veränderten Anforderungen resultieren vor allem aus einer generellen Trendwende in puncto Hörfunknutzung. Das Radio wird - selbst bei der Gruppe der konservativen Hörer - immer stärker vom Einschalt- zum Begleitmedium. Dieser Entwicklung entspricht NDR Kultur mit einer Synthese aus populärer klassischer Musik und interessantem kulturellen Wort. Und trifft damit - wie nicht nur die Vielzahl der Zuschriften, sondern vor allem die Befragungsergebnisse zeigen - sowohl den Geschmack vieler Stammhörer als auch der "neuen" NDR Kultur-Klientel.

Die im Vorfeld der Reform unter Federführung des renommierten Medienforschers Dr. Josef Eckhardt durchgeführte Musikstudie lieferte eine der zentralen Erkenntnisse für die vorgenommenen Programmveränderungen: Entscheidend für die Zustimmung bzw. die Ablehnung bei den Hörern - sowohl der Stammhörerschaft als auch des potentiellen Publikums - ist eine an der Tageszeit orientierte Musikauswahl. Die Musikpräferenzen aller Befragten unterscheiden sich im Tagesverlauf sehr stark. So werden Werke mit einfacher Struktur oder mittlerer Komplexität gern morgens gehört, während komplexe Musikwerke (Stichwort: elitär!) am Abend als passend im Programm empfunden werden.

Die im Frühsommer 2004 durchgeführte qualitative Studie zeigt, dass sich die Hörerschaft von NDR Kultur im wesentlichen aus zwei Hörergruppen zusammensetzt: den sogenannten "traditionellen" und den "aufgeschlossenen" Radiohörern. Letztere stellen zahlenmäßig den deutlich größeren Anteil von Hörern dar. Trotz einiger grundsätzlicher Unterschiede in Bezug auf die Wahrnehmung des tagtäglich genutzten Radioprogramms bewerten beide Hörergruppen das aktuelle Programm von NDR Kultur überwiegend positiv, wobei sich die aufgeschlossene Mehrheit sogar eine weitere Öffnung des Programms vorstellen kann.

Die Ergebnisse der Studie belegen eindrucksvoll, dass die aktuellen Modifikationen im Programm von NDR Kultur der richtige Schritt sind: Diese Neuerungen entsprechen mehrheitlich den Hörgewohnheiten und emotionalen Anliegen der Radiohörer und vermitteln ihnen mehr "Hörer-Nähe".

Den umfangreichen Erkenntnissen folgend, hat sich NDR Kultur in den letzten zwei Jahren als unverwechselbar originelles Kultur- und Klassik-Programm mit intelligentem Anspruch positioniert und orientiert sich in Klang und Anmutung an den heutigen Hörgewohnheiten. Verlässlich und kompetent informiert das Kulturprogramm des NDR wie eh und je über alle kulturell bedeutsamen Ereignisse und unterscheidet sich dadurch nicht nur quantitativ, sondern vor allem qualitativ von der kommerziellen Konkurrenz. Ziel der gegenwärtigen programmlichen Aktivitäten von NDR Kultur ist also nachweislich nicht - wie von Kritikern fälschlicherweise angenommen - die Fokussierung einer ganz bestimmten "neuen", primär jüngeren Zielgruppe oder gar die Diskriminierung der langjährigen und treuen NDR Kultur/Radio 3-Hörer. Im Gegenteil: NDR Kultur verfolgt mit dem neuen Programmangebot einzig und allein die Integration der vielschichtigen Klientel der Klassik- und Kulturinteressierten Radiohörer und entspricht damit mehr denn je dem vielzitierten öffentlich-rechtlichen Programmauftrag.

NDR Kultur-Hörer in Hamburg (täglich)
Juli 2002...........Juli 2004
7.00028.000
NDR Kultur-Hörer in Deutschland (täglich)
Juli 2002...........Juli 2004
206.000242.000
stetiger Aufwärtstrend für NDR Kultur

Und die gewissenhafte Auseinandersetzung mit dem Publikum und seinen Bedürfnissen hat sich gelohnt: Der Zuspruch für das zeitgemäße Kulturprogramm steigt beständig. Nach der positiven Publikumsbilanz innerhalb der qualitativen Forschung belegt nun auch die aktuelle Media-Analyse, dass der eingeschlagene Weg der richtige ist. NDR Kultur verbessert sich in Hamburg um stattliche 0,8 Prozent und erreicht erstmals seit drei Jahren wieder mehr als 2 Prozent Hörer gestern. Damit hat sich die Anzahl der täglichen Hörer in der Zeit von Juli 2002 bis heute allein in Hamburg von 7.000 auf 28.000 vervierfacht. Bundesweit verzeichnet NDR Kultur einen Anstieg um 36.000 auf insgesamt 242.000 Hörer täglich. Im Gegensatz dazu muss der kommerzielle Konkurrent Klassikradio deutliche Einbußen hinnehmen. In Hamburg liegt der private Wettbewerber nur noch 0,6 Prozentpunkte vor NDR Kultur, in Schleswig-Holstein liegt das NDR Programm nun erstmals seit drei Jahren wieder vor Klassikradio.

Leserbriefe und Kommentare zu diesem Artikel:
Beschwerde eines Hörers an den Intendanten des NDR, von P. Schwiesow

Die Waage gleicht der großen Welt:
Das Leichte steigt, das Schwere fällt.

Lessing, zitiert von HWeblog
Es wäre ein positives Zeichen, wenn Sie sich mit dieser Bewegung in einen kritisch-konstruktiven Dialog begeben würden., Leserbrief von Tom Pause
Es wäre fair, wenn NDR Kultur mit seinen Clubmitgliedern im Magazin in einen Dialog träte, statt es als Propagandablatt zu mißbrauchen., Leserbrief von C. Meffert
Die Aufgeschlossenen, Leserbrief von M. Siebert
Zurückweisung einer Beleidigung, Leserbrief von I. Kossebau
Nicht empfehlenswert: Medienpartnerschaft mit NDR Kultur in Niedersachsen
Leserbrief von L. Baucke
Ein dankbarer Hörer..., Leserbrief von H. Jühlke
Gibt es pünktlich um 19 Uhr einen wundersamen Geschmackswandel?
Leserbrief des Hörers Schrader aus Burgdorf

Kurze Antwort von Herrn Romann
Ein Brief des Bedauerns an das Hörer-Ehepaar Schwiesow

Lesen Sie, wie sich eine Korrespondenz zwischen der Hörerin I. Kossebau und Herrn Romann entwickelt:

Zahlenspiegeleien, Teil 5
29.11.2004: Herr Romann lässt die Fachabteilung antworten
Welch eine Überraschung: Die errechneten Zahlen sollen falsch sein!
Die von Ihnen formulierten Reichweitenrechnungen entbehren jeglicher wissenschaftlichen Grundlage

Zahlenspiegeleien, Teil 4
31. Oktober 2004: Frau Kossebau bittet um weitere Zahlen
Ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie mir zu den von Ihnen aufgeführten Zahlen auch die Ausgangszahlen der Media-Analyse Juli 2002 nennen könnten

Zahlenspiegeleien, Teil 3
8. Oktober 2004: Antwort von Herrn Romann
Der Hörfunkdirektor gibt Zahlen-Geheimnisse preis - gnädigerweise
Vor allem in Hamburg, aber auch in den übrigen Sendegebieten kann sich NDR Kultur so deutlich verbessern, dass ich Ihnen die Ergebnisse nur allzu gerne offen lege

Zahlenspiegeleien, Teil 2
15. September 2004: Brief der Hörerin I. Kossebau an Herrn Romann
Zurückweisung einer Beleidigung und eine Frage zu Zahlen
Gibt es außerhalb von Hamburg nur ein Plus von 15.000 Hörern?

Zahlenspiegeleien, Teil 1
Anfang September: Der Artikel von Herrn Romann
Ein Radioprogramm ist kein Konzertsaal
Generelle Trendwende in der Hörfunknutzung

Vgl. Vorläufer-Artikel im Feuilleton Hamburg der WELT:
Ein Radioprogramm ist kein Konzertsaal, 27. Juli 2004
Hauptartikel vorher im Feuilleton Hamburg der WELT:
Ein Hörfunkprogramm kann Gegensätze gut nutzen
Leserbriefartikel von Theodor Clostermann zum Romann-Interview, 21. Juli 2004
Nicht warten, bis der Mond aufgeht
Interview von Lutz Lesle mit Programmdirektor Romann, 25. Juni 2004
NDR-Kultur: Ein Radioprogramm zum gepflegten Weghören
Bericht von Lutz Lesle über die Gründungsveranstaltung des Initiativkreises Das GANZE Werk, 17. Juni 2004

Lesen Sie zu weiteren Einfällen von NDR-Hörfunk-Programmdirektor Romann:
Der Einfall „Vier Stunden Klassik en suite“ in Klassikfans fordern „das ganze Werk“
Der Einfall mit dem „Scheitern“ in NDR gewinnt viele Hörer hinzu
Der Einfall „das Kulturangebot darf nicht elitär sein“ in einem Leserbrief der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung