Das GANZE Werk - Presseschau

Leserbriefe zum „Wutanfall“ Raues und zur Replik Reims:
Die Wahrheit in der Wut
Intendantin Reim reagiert hilflos auf Kritik

Der Tagesspiegel, 16. Januar 2004

Das RBB-Kulturradio muss Schritt halten mit der Zeit

Wahrheit statt Wut

Eine Replik auf Peter Raue

Von Dagmar Reim

Ein Wutanfall hat den Vorteil, dass der Anfällige keine Rücksichten nehmen muss. Peter Raue kann frank und frei loswüten. Die Tatsachen müssen ihn nicht scheren. Uns schon.

Kulturprogramme in Deutschland (nicht nur beim Ex-SFB und -ORB) leiden seit Jahren unter Akzeptanzschwund. Nach der jüngsten Media-Analyse hörten noch je 0,9 Prozent der Hörer in Berlin und Brandenburg unsere teuersten Angebote, die beiden Kulturwellen. Wir beschäftigen hier deutlich mehr Personal im Vergleich mit den anderen Programmen. Kommt hinzu: Wir alle sind in den vergangenen fünf Jahren um fünf Jahre gealtert, die Hörer des Kulturradios - bedauerlicherweise - um 16,6 Jahre. Ihr Altersschnitt liegt heute bei über 60. Niemand verlangt von einem Kulturradio, breite Hörerschichten zu erreichen. Das gelingt den Qualitätszeitungen auch nicht, kann gar nicht gelingen, weil lediglich Minderheiten kulturinteressiert sind. Was wir allerdings nicht anstreben: ein (fast) hörerfreies Programm, das mit seinem immer kleiner werdenden Publikum ausstirbt.

Es erging uns wie den Bremer Stadtmusikanten: „Etwas Besseres als den Tod finden wir überall.“ Oder, wie auf der Medienseite des Tagesspiegels bereits zu lesen war: „Sie (die Hörer) sind nicht aus der Kultur ausgetreten, sondern aus dem Kulturradio.“

Für den Wieder-Eintritt werben wir seit dem 1.Dezember 2003. Dass Kulturradio zum Leben gehört, ist uns wichtig. Kultur ist eben kein Schickimickieventhäppchen für die happy few. Sie ist Überlebens-Mittel auch und gerade in Zeiten wie diesen. Warum das schlichte „gehört zum Leben“ Peter Raue provoziert, ist unverständlich. Es sei denn, man betrachtet das neue Programm im Lichte der bayerischen Volksweisheit „Es muss sich alles ändern. Aber passieren darf nix.“

Passiert ist allerhand. Manche alten Sendungen gibt es nicht mehr (Peter Raue betrauert lediglich Angebote des Ex-SFB, das Ende von Radio 3 vom ORB ist keinen Wutanfall wert). Neue Ideen, neue Präsentations- und Sichtweisen sind dazugekommen, und vieles ist geblieben, wie es war. Von Morbach bis Goldberg, von Feature bis Hörspiel. Dass früher generell alles besser war, weil man früher nicht an früher zu denken brauchte, sollte ein Kulturfreund eigentlich wissen. Den Disput darüber, was Kultur ist und was in dieses Programm gehört, führen wir gern. Von vornherein war unser neues Programmschema nicht in Erz gegossen. Veränderung ist das Lebenselixier des Radios, und wer sagt denn, dass wir die Lesung, die Raue liebt, nie mehr morgens anbieten werden?

Wutanfälle gehören zum Leben und schützen den Anfälligen vor Magengeschwüren. Indes: Der Vorwurf, wir seien von „Kulturzerstörungswut“ befallen, diskreditiert unsere Redaktion, die mit hohem Engagement Kulturradio macht. Tagtäglich. Warum eigentlich darf der Irak-Krieg nicht vorkommen in einem Kulturprogramm? Weil Kulturinteressierte Scheuklappen tragen und nicht wissen wollen, was passiert in der Welt da draußen, fern ihres locus amoenus? Es ist keineswegs so, dass Ausstellungsberichte jeweils zwei Minuten dauern - im Morgenprogramm sind dafür vier Minuten vorgesehen. Und wer das Programm wirklich hört, weiß, wie sehr es sich von allen anderen Angeboten im Berliner und Brandenburger Radiomarkt unterscheidet - um es vorsichtig zu formulieren.

Aber das interessiert Raue nicht. Ihm war bereits im Oktober - also Wochen vor Programmstart - klar, hier sei ein „Akt der Barbarei“ geplant, wie er mir in einem Gespräch sagte. Wer das schon so früh ahnt, muss sich mit der Realität gar nicht erst beschäftigen. Sie passt nicht zu seinem Vorurteil. Ein Beispiel: Peter Raue wirft uns vor, „die vielteiligen biografischen Musiksendungen am Sonntagnachmittag“ seien verschwunden. Am 4. Januar, Sonntagnachmittag, hat im Kulturradio die 26-teilige (26 Teile!) Sendereihe über Giuseppe Verdi begonnen. Ihr Titel: „Die Erfindung der Wahrheit.“ Wir setzen auf Wahrheit statt auf Wut. Die Autorin ist Intendantin des RBB.

Der Tagesspiegel, 25. Januar 2004

Leserbrief

Intendantin Reim reagiert hilflos auf Kritik

Betrifft: „Zum Orkus hinab“ vom 14. und „Wahrheit statt Wut“ vom 16. Januar 2004

Von Heike Klapdor, Berlin-Zehlendorf

Argumente sind auch Kultur. Die Argumente der Intendantin des RBB, Dagmar Reim, stammen aus dem Instrumentenkoffer der Rhetorik, Abteilung: Totschlag. Sie folgen dem Muster: „Vorsicht Kinder, Opa erzählt vom Krieg“.

Die Generaldenunziation des Tradierten als überlebt und reaktionär kokettiert mit der bloßen Behauptung vom Neuen als dem Besseren. Das Wort „Reform“ wird sich schmerzlich, peinlich winden. Der gutwillige Leser erkennt die Hilflosigkeit, den Argumenten Peter Raues, eines repräsentativen KulturradioHörers, etwas Überzeugendes entgegenzusetzen.

Wir anderen - inzwischen erschütterten Hörer - lesen, wie restlos die Programmverantwortlichen einem Kulturradio, das diesen Namen verdient und das dem Auftrag eines kritischen und feuilletonistischen Journalismus folgt, die Wurzel gezogen haben. Welcher Chimäre sie dabei hinterherlaufen, welcher Wahn sie treibt, bleibt unerfindlich. Sie können die Kultur eigentlich bloß hassen. Etwas anderes fällt mir nicht ein. Den Argumenten Peter Raues kann man allenfalls weitere Beispiele, aber nichts Grundsätzliches hinzufügen.

Außer vielleicht die Vermutung, dass der in der Tat „ohne Not“ „geschredderten“ Radiokultur der Umzug „in den Orkus“ vermutlich verweigert würde. Die würden sich bedanken. In der Hölle wohnen nicht die Schlechtesten, man ist durchaus in guter Gesellschaft. Und die wird das so genannte Kulturradio kaum einschalten. Da machen sie lieber weiter höllische Hausmusik und erzählen sich zum wiederholten Mal die alten Sottisen. Was bleibt ihnen auch übrig?

Lesen Sie: Vom „Wutanfall“ zum Dissonanzen-Quartett
Zum Orkus hinab - Das neue RBB-Kulturradio hat mit Kultur nichts mehr zu tun
Ein Wutanfall - Der Tagesspiegel, 14. Januar 2004

Leserbrief: Die Wahrheit in der Wut - Der Tagesspiegel, 18. Januar 2004

• Wahrheit statt Wut - Das RBB-Kulturradio muss Schritt halten mit der Zeit
Eine Replik auf Peter Raue - Der Tagesspiegel, 16. Januar 2004

• Leserbrief: Intendantin Reim reagiert hilflos auf Kritik - Der Tagesspiegel, 25. Januar 2004

Proteste zum Frühstück - Durchhörbarkeit nicht erwünscht: Radiohörer gegen den RBB
„Mir ist, als hätte ich einen geliebten Menschen verloren“, schrieb ein Leser
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. Januar 2004
Von geschredderten Sinfonien und veränderten Hörgewohnheiten
Ist das Kulturzerstörung? Oder zerstört sich hier nicht vielmehr eine Kritik mit ihrer Anspruchshaltung, die in den Siebzigern wuchs, selbst?
Berliner Morgenpost, 28. Januar 2004
Das Dissonanzen-Quartett - Ein Streitgespräch, dass auch am Nachmittag im Kulturradio gesendet wurde - Der Tagesspiegel, 28. Januar 2004

Mit: Christiane Peitz (Journalistin des „Tagesspiegel“ und der „ZEIT“), Joachim Huber (Medien-Redakteur des „Tagesspiegel“), Wilhelm Matejka (Wellenchef von RBB Kulturradio) und Peter Raue (Rechtsanwalt und Kulturförderer)
Dazu zwei Leserbriefe:
Junges Kulturradio kommt alt daher, Der Tagesspiegel, 30.1.2004
Furchtbare Erfindung, Der Tagesspiegel, 8.2.2004