Das GANZE Werk - Presseschau

nmz 07-08/2002

Ästhetische Tauchgänge im Wellenbad

Hörfunk der Zukunft: Krise der Radio-Kultur und lokale Utopien

Dass diejenigen, die solche Radiokunst hören würden, es tatsächlich auch hören (das heißt „intensiv zuhören“, es gerade nicht als Tagesbegleitprogramm auffassen) geht in den quantitativen Untersuchungen verloren

Von Martin Hufner

„Radio ist Kultur“, dieses Motto wird von vielen Radiomachern gerne im Munde geführt. Was aber am Radio Kultur sei, das weiß kaum jemand noch zu beantworten. Unzweifelhaft ist das Radio ein Bestandteil der medialen Kultur und unzweifelhaft wird in der letzten Zeit dieser Kulturraum an vielen Stellen umgepflügt.Der Bayerische Rundfunk steht offenbar vor einer Programmreform, die allem Anschein nach die zwei expliziten Kulturprogramme zu einem gemeinsamen zusammenzufassen trachtet um Platz zu schaffen für quotenträchtigere Programme. Auch das letzte größere Rundfunkopfer war erst vor kurzem zu beklagen: „Radio Bremen“, welches in die mittlerweile flächenmäßig gesehene Überanstalt des NDR eingegliedert wurde. Aufgegeben wurde damit zugleich eine gut funktionierende und engagiert-rührige Kulturredaktion aus Bremen. Jetzt „existiert“ Radio Bremen weiter als „NordwestRadio“.

In der Selbstbeschreibung heißt es: „Das Musik-Repertoire des NordwestRadios hält Neues wie Vertrautes bereit: Ausgewählte Klassik, Smooth-Jazz zum Fingerschnippen, anspruchsvollen Pop, ‚Wave-Music’ zum ruhigen Durchatmen und Swing in bestem Klang.“ Fingerschnippdischnapp zum Ausschalten. Der Mitteldeutsche Rundfunk startete am 6. Mai dieses Jahres sein digitales Klassik-Radio, welches vorzugsweise „Klassik“-Häppchen (vornehmlich digitale Nullen) wenig adrett totjinglet. Im Fachjargon nennt man das dann bezaubernd „Tagesbegleitprogramm“ mit Musik „von Bach bis Lloyd-Webber“, was kaum verschleiert, dass man sich ganz auf eine schmerzlose Musikkultur verstehen will. Es klingelt aus dem Radio, damit man bloß nicht Zuhören muss. Nicht anders beim „Klassik-Radio“: Als ihre „Idee“ geben die Macher Antwort auf die Frage, warum man Klassik sende: „Weil Klassik funktioniert! Wie keine andere Musikrichtung vermittelt Klassik ein Gefühl der Entspannung und Ausgeglichenheit, sie relaxt. Diesen Effekt nutzen immer mehr Hörer für ihr persönliches Wohlbefinden und schalten um auf Klassik-Radio. Eine Lebensart.“ Nun werden die Hamburger Klassik-Radio-Macher vom MDR digital an die Wand gespielt, wobei man das Niveau noch zu drosseln verstanden hat.

Radio ist Kultur? Diese Idee scheint immer deutlicher zu einer rhetorischen Phrase zu verdorren. Radio wird in der Vorstellung der genannten Programmen vom NordwestRadio bis zum „Klassik-Radio“ zum neckischen Entspannungsreiz, nur noch in einer angeblich dienenden Funktion, ein Mitläuferradio: Klassik-Muzak. Kultur aber ist Anstrengung, Engagement, Initiative und Forderung. Die zur Perfektion getriebene Unterforderung des Publikums dagegen führt über kurz oder lang auch in der Radioöffentlichkeit zu Defekten der Menschenbildung: Der PISA-Schock hat auch außerschulisch seine Wirkung. Oskar Negt schrieb schon 1984: „Eine Gesellschaft, in der keine Anstrengung zu spüren ist, möglichst reichhaltige und spontane Formen, Ausdrucksformen von Sinnorientierung, von elementaren Interessen und Bedürfnissen zu schaffen, wird zukünftig immer weniger Kulturbedeutsamkeit haben“ (Oskar Negt, Lebendige Arbeit, enteignete Zeit. Politische und kulturelle Dimensionen des Kampfes um die Arbeitszeit, Frankfurt/M. 1984, S. 149).

Kommerz ungleich Kommerz

Man könnte die Entwicklung der Rundfunkzukunft nach statistischen Bedingungen zu lösen versuchen. Seit den 50-er Jahren haben die einzelnen Ländersender annähernd in Zehnjahres-Schritten ihre Wellenstruktur erweitert. Der WDR hat mittlerweile fünf Wellen, ebenso der NDR, der MDR sowie der BR. Im Jahr 2020 wären das dann pro Sender sieben. In die Quere dieser Entwicklung kamen Anfang/Mitte der 80-er Jahre die neu eingeführten „privaten-kommerziellen“ Sender von Gong bis Charivari, von Klassik-Radio bis Radio Melodie. Kommerziell müssen diese Sender sein, wenn sie sich selbst finanziell erhalten wollen, vom technischen Equipment bis zum Personal. Kommerziell sein heißt in der Medienlandschaft nicht zwingend, dass man käuflich wäre. Der Zeitungs-, Zeitschriften- und Buchmarkt ist in der Regel auch privat. Dennoch sind diese Medien eng gekoppelt geblieben an eine bürgerliche Kultur der Öffentlichkeit.

Rückzug aus der Öffentlichkeit

Radio, Zeitung, Fernsehen, Literatur: das waren einmal im emphatischen Sinn Medien, die eine Öffentlichkeit herstellen konnten und in der Öffentlichkeit sich auch der Kritik stellten. Der Begriff der Öffentlichkeit hat ursprünglich eine direkte politische Bedeutung. In der Öffentlichkeit werden Probleme des gesellschaftlichen Lebens problematisiert und gewissermaßen politisch vorverdaut. Das betrifft einerseits natürlich konkrete Fragen der Politik, das betrifft aber auch Funktionen der öffentlichen Aufklärung, Bildung und Unterhaltung. In aller Konsequenz wird eine derartige Möglichkeit des Radiomachens in Deutschland nur von einem Sender wie dem Deutschlandfunk verfolgt. Die am Anfang genannten Beispiele dagegen zeigen, wo momentan die Tendenzen beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk hingehen – in ein gesichtsloses Schallwellenausliefern. Dabei konkurriert man immer stärker mit den privaten Radiostationen, die sich ihrerseits gegen den öffentlich geförderten kommerziellen und zum Teil werbefinanzierten Rundfunk der öffentlich-rechtlichen Anstalten ganz zu Recht wehren, weil dies gewiss eine Verzerrung des Wettbewerbs darstellt.

Ethische Verwahrlosung

Im Bereich der privaten Rundfunkanbieter hat das Ringen um die Quote zu bisweilen bedenklichen Entwicklungen geführt. Nicht nur mit den an Anzahl zunehmenden Ratestunden versucht man „Quote zu machen“, sondern immer mehr auch mit exhibitionistischen und entwürdigenden Telefon-Shows. Von Big-Brother bis Liebesspiele, von der Zertrümmerung des eigenen Autos bis zur Entseelung des Selbst vor Publikum. Die Idee, dass auch das „Private politisch ist“ wird gänzlich pervertiert. Auch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten springen immer mehr auf diesen Zug und machen sich damit in der Tat entbehrlich.

Wer macht das Radio? Die Quote und die aus diesen Zahlen mehr als fragwürdig interpretierenden Programmleiter und Intendanten? Zeigt diese Entwicklung nicht vielmehr eine Verschiebung der Verantwortung, heraus aus der persönlichen Verantwortungsleistung von Redakteuren, hin zu einer angeblichen Anpassung an die Bedürfnisse des Publikums? Hierbei handelt es sich tatsächlich um eine Spiralbewegung zwischen Machern und Hörern. Für die Entstehung dieses Teufelskreises zeigt sich das Radio offenbar anfälliger als die Printmedien. Dabei geht es nicht so sehr um den Bildungsauftrag des Rundfunks, der sich als Pädagogisierung oder, das italienische Beispiel Berlusconis zeigt es, als zunehmende Demagogisierung äußert, und dem man penetrant das Unterhaltungselement gegenüberstellt.

Unterhaltung

Wenn man aber unter Unterhaltung tatsächlich nichts anderes mehr versteht, als die Wiederholung des Immergleichen, die Reduzierung des Unterhaltungsrepertoires auf den Bereich zwischen Ernst Mosch bis zur Chartmusik, von Ratespielchen bis zur Blitzermeldung, dann ist dieser Begriff von Unterhaltung selbst untauglich. Leider wird dieser auch ästhetische Tauchgang im Radio durch die häufig blind zur Hand genommenen statistischen Hörerauswertungen gefördert, bei denen man schnell und locker streng-kausale Zusammenhänge zu finden vermeint, die in der Tat jedoch nur im Zusammenhang des gesellschaftlichen Ganzen zu sehen sind.

Mediale Konvergenz

Eine der zukunftsträchtigsten Entwicklungen des Rundfunks liegt womöglich außerhalb der althergebrachten Radioempfänger, nämlich im Internet. Zusatzmaterialien und im weitesten Sinn schnelle und einfache Kommunikation erfolgt immer mehr über dieses Medium. Das Stichwort ist hier: Nutzung des Medienverbunds und Konvergenz. Man wird sich nicht mehr in sein traditionelles Schneckenhaus zurückziehen können. Die Frage dabei ist nur, ganz ähnlich wie im gegenwärtigen Rundfunksystem, ob man dieses Medium qualitativ nutzen wird oder es als bloßes Marketinginstrument und als nur quantitative Dienstleistung auffasst. Brechts Radiotheorie könnte gerade hier auch wieder zum Zuge kommen: Rundfunk als Kommunikationsapparat. Dabei sind aber beide Parteien des Radios gefragt und noch viel mehr gefordert: Produzent wie Konsument.

Zukunft „Freie Radios“

Dass das tatsächlich funktionieren kann, zeigen nicht-kommerzielle, nicht-öffentlich-rechtliche Radios wie der Frankfurter Sender RadioX, der, getragen von einem Verein aus Gönnern und Freunden, urbane Musikkultur jenseits des musikalischen Chart-Rotationsprinzips unter die Hörer bringt. In Berlin gibt es eine Initiative, die für die Einrichtung eines solchen Senders kämpft, was anscheinend medienrechtlich dort nicht vorgesehen ist. Man sehe sich beispielweise einfach einmal das Programmschema des Karlsruher „Querfunks“ an (http://www.querfunk.de/programm.html) und man erkennt, wie elegant und engagiert es aufgebaut ist. Das Spektrum reicht in der Tat von der politischen Wort- bis zur reinen Musiksendung. Oder wenn man sich das Programm des Nürnberger Senders „Radio Z“ anschaut, finden sich neben Kinderfunk auch hoch ambitionierte Projekte wie: „Europhonia – Diskussionen und Fakten rund um die EU. Mit Beiträgen über Griechenland, Europa und die Sudetendeutschen, mit Nachrichten aus der EU und mit einer einstündigen Studiodiskussion startet das Europamagazin Europhonia mit seinem Internetangebot und dem Radiomagazin ‚Grenzwert Europa’. Auf www.europhonia.de kann man ab sofort die Beiträge abrufen und künftig auch an aktuellen Diskussionen teilnehmen. Grenzwert Europa sendet jeden Donnerstag ab 17 Uhr auf 95,8 MHz bei Radio Z.“

Öffentlich-endlicher Rundfunk

Das Hauptproblem dieser freien Radios ist freilich, dass die Macher der Sendungen in der Regel nicht für ihre Arbeit bezahlt werden (können). Daher sind umfangreiche aufwändige Hörspielproduktionen oder Features nicht, oder nur unter sehr beschwerlichen Anstrengungen zu realisieren. Doch genau diese Programmteile stehen immer häufiger auf der Abschussliste der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und werden mittlerweile eingekürzt und bisweilen abgeschafft. Als Argument wird in der Regel mangelndes Hörerinteresse vorgeschoben. Dass diejenigen, die solche Radiokunst hören würden, es tatsächlich auch hören (das heißt „intensiv zuhören“, es gerade nicht als Tagesbegleitprogramm auffassen) geht in den quantitativen Untersuchungen verloren. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk krankt überdies an internen politischen wie sozialdynamischen Problemen. Während in den „freien Radios“ die Produzenten aus einer meist lokalen Interessenlage heraus operieren und sich engagieren, ist in vielen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Engagement häufig genug Fehlanzeige und wird zudem von den parteipolitisch organisierten Strukturen wenn nicht aufgefressen so doch erheblich gelähmt. Der Bürgerfunk der „freien Radios“ steht einem bürokratisch zerworfenen öffentlich-rechtlichen Verwaltungsfunk wie einem werbeeinnahmengesteuerten Kommerzfunk diametral gegenüber.

Man möchte die Diskussionen über die Zukunft des Rundfunks gerne auf den rein technischen Aspekt reduzieren (digitaler Rundfunk der Zukunft) und weicht damit den Fragen nach den Inhalten des Rundfunks in der gegenwärtigen Gesellschaft aus. Politische Verdrossenheit wie schulische Lernprobleme sind aber leider auch Resultate verpasster Chancen der Aufklärungsfunktion des Radios und man kann nicht einseitig die Privatsender dafür zur Verantwortung ziehen. Dass sich das Publikum durch die Quote rächt und damit selbst bestraft ist ein trauriger Vorgang mit fataler Dialektik, die Bert Brecht in einem Gedicht pointiert hat: „Nur die dümmsten Kälber / Wählen ihre Schlächter selber.“ Die „freien Radios“ aber zeigen, dass anderes möglich wäre, wenn man es nur wirklich wollte.