Kulturwellen im Nord-Süd-Profil

Sonntag, 31. August 2008, 14 bis 18.30 Uhr
Abschluss der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern

Sternstunden des Hörfunks, heute auf NDR Kultur

„Wenn man sich ihm öffnet und wenn man ihm zuhört, wird man
- wie bei den ganz großen Komponisten - sehr bereichert“

(Menahem Pressler über György Kurtág)

Adieux „Beaux Arts Trio“, Abschiedskonzert live aus Ulrichshusen

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Von Theodor Clostermann

Für die Hörer von NDR Kultur ist heute in mehrfacher Hinsicht ein ungewöhnlicher Tag.

Zwar gab es in den letzten 4 1/2 Jahren in der Mittagszeit schon zu Weihnachten oder zu Ostern Konzertaufzeichnungen oder im September 2004 die Live-Übertragung des ersten Konzerts von Chefdirigent Christoph von Dohnányi mit dem NDR Sinfonieorchester. Doch heute können die Hörer erst von 14.05 bis 15 Uhr ein spannendes Live-Gespräch von Musikredakteur Ludwig Hartmann mit den Musikern des Beaux Arts Trios miterleben und dann von 16.05 bis 18.25 Uhr aus Ulrichshusen die Übertragung des Abschiedskonzertes in Deutschland genießen.

Ernsthafte Berichterstattung über das Trio - anders als beim Bernstein-Thementag am 25. August

Am vergangenen Montag habe ich vergeblich darauf gewartet, Konkretes über die Art und Weise zu erfahren, wie Bernstein dirigiert, komponiert oder als Pianist gespielt hat. In dem hektischen Vielerlei des durchformatierten Programms mit den vielen bunt gestreuten Einzelsätzen, mit den laufend eingeblendeten kurzen vorproduzierten Prominenten-Statements über Bernstein und vorbestellten Musikwünschen von Hörern mit Bernstein, mit dem dramatisierten Hinführen zur großen Nachmittagsverlosung einer gerade neu erschienenen Box von zehn CDs, in diesem Sammelsurium habe ich dazu nur einen gerade mal zweieinhalb Minuten langen globalen Lebenslauf gehört.

Demgegenüber kommt es heute kurz nach halb zwölf in dem Vorbericht, einem Gespräch zwischen der Moderatorin in Hamburg und dem Musikredakteur vor Ort, zu folgender Charakterisierung des Beaux Arts Trios:

Moderatorin: Kritiker wie Fans haben ja immer wieder die überragende Klangkultur des Ensembles gerühmt. Wie würden Sie diesen Klang beschreiben?

Ludwig Hartmann: Den kennzeichnet eine unglaublich große Homogenität. Menahem Pressler schafft es, seinen Klavierklang den Streichern derartig anzupassen, dass es wirklich eine große Einheit ist. Und die Streicher artikulieren entsprechend manchmal etwas härter, so dass sie dem Klavierklang entgegenkommen. Es ist vor allen Dingen diese wunderbare Homogenität, die dieses Trio auszeichnet.

Kurz, aber prägnant. Und als ein Geheimrezept verrät Menahem Pressler um halb drei im Live-Gespräch mit Ludwig Hartmann:

Ich lernte 1955 wahnsinnig viel von Daniel Guilet. Meine Ohren begannen zu hören, Sachen, die wichtig waren. Es war so, dass ich von ihm lernte. „Du, spiel alle drei Stimmen. Dann wirst du immer wissen, wer wichtig ist oder wie du darauf reagierst, so dass man nicht spielt: dein Solo, mein Solo,... - Wie kannst du dessen Solo verschönern? Wie kannst du ein Teil davon sein? Und wie soll der Gesamtklang sein?“ Das habe ich dann mitbekommen. Und als er aus Altersgründen aus dem Trio austrat und Isidore Cohnen ins Trio kam, hatte ich diesen Platz eingenommen.

Ganze Werke von über 30 Minuten Dauer, zum Zuhören gespielt

Nach der bisherigen Auffassung der NDR-Kultur-Programmmacher könnten die Radiohörer nicht einem längeren Werk zuhören, schließlich seien sie überwiegend Nebenbeihörer. Doch heute hören wir:

- Ludwig van Beethoven: Klaviertrio D-Dur, op. 70 Nr. 1, „Geistertrio“ - 32 Minuten
- György Kurtág: Klaviertrio (Uraufführung) - 6 1/2 Minuten
- Franz Schubert: Klaviertrio Nr. 1 B-Dur, D 898 - 37 Minuten

Nach dem Klaviertrio von György Kurtág ist es im Publikum eine Zeitlang ganz ruhig. Denn vor dem Spielen dieses Werkes hatte Menahem Pressler den Hörern mit einfühlsamen Worten erklärt:

Ich möchte gerne ein paar Worte zu der Komposition sagen. Sie ist enorm intensiv, besonders dadurch, dass sie sehr leise ist. Sie spricht zu Ihnen.

Er flüstert, er sagt Ihnen die wichtigsten Sachen, aber ganz leise und ganz kurz. Und wenn man sich ihm öffnet und wenn man ihm zuhört, dann wird man wirklich - wie bei den ganz großen Komponisten - sehr bereichert.

György Kurtág, 1926 geboren und heute neben György Ligeti bedeutender ungarischer Komponist nach 1945, hatte dieses Trio für das Beaux Arts Trio komponiert.

Ein Zeichen dafür, dass die Radio-Hörer an einem großen künstlerischen Ereignis teilnehmen, sind die drei Zugaben:

- Dmitrij Schostakowitsch, Klaviertrio Nr. 2 e-Moll op. 67, Satz 3 - Allegro con brio/„Des Teufels Scherzo“ (Pressler)
- Ludwig van Beethoven, Trio Es-Dur, op. 1 Nr. 1, Satz 4 - Finale: Presto
- Antonín Dvorák, „Dumky“-Trio, op. 90, Satz 4 - Andante moderato (quasi tempo di marcia)

Unterschiede zur bisherigen Tagespraxis von NDR Kultur

Hier konnten die Zuhörer am Radio tagsüber erleben, dass Schostakowitsch ein ernsthafter Kammermusik-Komponist gewesen ist, dass er also nicht nur, wie es sonst die Praxis von NDR Kultur tagsüber nahelegt, einzelne schmissige Sätze für Jazzorchester und ein paar Filmmusiken geschrieben hat.

Vorher, in der Vorbereitungssendung ab 9 Uhr, hatten die Hörer tagsüber auch schon erfahren können, dass er Komponist von Konzerten gewesen ist, als zur Vorstellung des Geigers Daniel Hope der 4. Satz, Burleska. Allegro con brio, des Violinkonzerts Nr. 1 a-moll, op. 77, gesendet wurde. Seit Mai 2004 erklang tagsüber - nach den NDR-Kultur-Musiklisten - von diesem Konzert, op. 77, bisher nur einmal ein Satz, auch der 4. Satz: Die Geigerin Arabella Steinbacher hatte sich als Solistin mit der NDR Radiophilharmonie und als Gast bei Klassik à la Carte am 11. Juli 2008 eine ganze Reihe eigener Einspielungen gewünscht. Solch „komplexe“ Musik war bisher für die Tageshörer von NDR Kultur tabu, wie es heißt. Wenn schon op. 77, dann ein Satz von Brahms, aus dem bekannten Violinkonzert.

Auch sonst gab es - wenn auch satzweise und mit Worthäppchen formatiert - viel Musik, die vorher in den seltensten Fällen im Normalprogramm aufgetaucht ist: Kammermusik, für zwei oder mehr Instrumente. Sie fristete bisher - von ein paar Highlights wie dem „Forellenquintett“ abgesehen - ein Schattendasein, weil auch sie zu „komplex“ sei. Zwischen 9 und 13 Uhr gab es heute elf solche Kammermusik-Sätze, ein Rekord für die Zeit von vier Stunden. Natürlich geschah es heute wegen des Beaux Arts Trios. Es zeigt sich aber, dass es plötzlich machbar ist, dass es auf einmal nicht zu „komplex“ ist, weil es in einem geplanten Zusammenhang steht.

Heute wurden viele eisernen Gesetze des Senders seit 2004 auf einmal außer Kraft gesetzt. Es gab sogar in zwei längeren Abschnitten dieser guten Sendezeit am Nachmittag - während des Gesprächs von Ludwig Hartmann mit dem Beaux Arts Trio und während des Konzertes einschließlich der drei Zugaben - eine Formatradio- und Jingle-freie Hörzone.

Die besondere Botschaft einer interviewten Konzertbesucherin an die Adresse von NDR Kultur

In der Konzertpause wurden viele Beteiligte interviewt. Hier eine Hörprobe - ähnliche Worte gab es bisher nur ganz selten von einigen Gästen bei Klassik à la Carte:

Moderatorin von NDR Kultur (vor Ort): Haben Sie denn ein besonderes Lieblingsstück vom Beaux Arts Trio, das Sie besonders gerne hören?

Konzertbesucherin: Das kann ich wirklich nicht sagen. - Dazu muss ich sagen, wie die Musiker es auch selber gesagt haben [in dem Gespräch davor, ergänzt von T.C.]: Man braucht jeden Tag ein anderes Stück Musik. Zu jeder Stunde ist man in einer anderen Stimmung, was man aber braucht ist die Ernsthaftigkeit. Und das Gefühl: Ja, jetzt bin ich fast nah dran. Nicht das, was man so nebenher hört, sondern... - man muss schon zuhören. Deswegen freue ich mich jetzt wahnsinnig auf dieses Konzert, die Gänsehaut habe ich jetzt schon.

Moderatorin: Ich wünsche Ihnen ganz viel Freude dabei, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben.

Wie schön, dass NDR Kultur uns die Botschaft - nach Abwechslung, nach Ernsthaftigkeit, gegen das Nebenbei- und für das Zuhören - selbst ins Haus liefert. Wir hoffen, dass NDR Kultur diese Tipps der Konzertbesucherin nicht nur einmal senden, sondern ernsthaft in die zukünftige Programmgestaltung einfließen lässt.

Außerdem: Wir sind dankbar, wenn Hörer uns ihren Höreindruck, ihr Hörerlebnis von diesem Nachmittag berichten.

Verfasst am 31. August 2008