NDR Kultur - Ein schönes Märchen

NDR Kultur, 17. Juni 2005, 10.08 Uhr, Moderation

Mit vollem Ernst erzählt der Moderator: Georges Bizet (1838 - 1875) komponierte „Farandole“ im Jahr 1844. Tatsächlich war es 1872.

NDR Kultur: Hörer brauchen Märchen...

Oder: Des Knaben Wunder-Saxophon

Wolfgang Amadeus Mozart (1756 - 1791) schrieb seine ersten Stücke für Cembalo 1761 und 1762 im Alter von 5 und 6 Jahren, ein kurzes Allegro und ein kurzes Menuett, beide in F-Dur (KV 1c und 1d) am 11. und 16. Dezember 1761 usw. - ein Wunderkind, ohne Zweifel.

Georges Bizet (1838 - 1875) schrieb den viel reichhaltigeren Satz „Farandole“ aus der zweiten Suite zu „L’Arlésienne“ ebenfalls im zarten Alter von fünf bis sechs Jahren, 1844, mit einer traumhaften Orchester-Besetzung. Dazu gehört auch ein Saxophon, das der belgische Instrumentenbauer Antoine Joseph Sax kurz zuvor, 1842, erfunden hatte.

1844? Georges Bizet, ein als Frühkomponist verkanntes Wunderkind. Warum, werden Sie fragen, weiß ich das nicht? Seine erste Oper komponierte er doch erst 1854?

Sie haben etwas auf NDR Kultur verpasst

Nicht so schlimm, Peter Ahlmann war für Sie dabei und hat es der Nachwelt aufgehoben:

Der Moderator auf NDR Kultur in der Sendung „Matinee“ am 17. Juni 2005 um 10.08 Uhr

Die Farandole aus der Arlésienne-Suite Nr. 2 von Georges Bizet. Chang Dutoit [richtig: Charles Dutoit] stand am Pult des Orchestre Symphonique de Montréal, Dorothy Masella spielte Harfe, Timothy Hutchins Flöte und Gilles Moisan Saxophon.

[Hastig:] Da kann man mal sehen, wie früh das Saxophon im Orchester schon eingesetzt worden ist, zum ersten Mal 1844. Einige Stücke sind speziell für dieses Instrument auch geschrieben worden, schon damals nicht nur von Georges Bizet, sondern zum Beispiel auch von Hector Berlioz und später von Richard Strauss.

Georg Friedrich Händel hat es noch nicht gekannt, das Saxophon, von ihm stammt aber unsere folgende Musik... [= Concerto a due cori B-dur, HWV 332, daraus: Allegro ma non troppo (2. Satz), English Concert, Ltg.: Pinnock, Trevor].

Der Herausgeber einer aktuellen Orchester-Partitur klärt auf

Schott-Verlag

1. Hinweis auf der Komponisten-Übersichtsseite:

Georges Bizet, *25.10.1838 †03.06.1875
L'Arlésienne (1872, Suite für Orchester; eine Suite Nr.2 wurde von Ernest Guiraud aus Stücken Bizets zusammengestellt)

Hinweis auf der Orchester-Übersichtsseite:

2. L’Arlésienne Suite Nr. 2 (1872/ Herausgeber: Wright)
1872 schrieb Bizet die Bühnenmusik zu Daudets berühmter Tragödie „L’Arlésienne“. Er musste sich mit einem Orchester von 26 Spielern begnügen, was ihn aber dank seiner brillianten Instrumentationstechnik eher herausforderte als hinderte. Kurz nach der Uraufführung instrumentierte er 4 Sätze für großes Orchester um und schuf so die 1. Suite. Die 2. Suite wurde vier Jahre nach Bizets Tod von E. Guiraud geschaffen.
Beide Werke eignen sich auch sehr gut für Laien- und Schulorchester.

3. Vorwort des Herausgebers Lesley A. Wright zur Entstehungsgeschichte der beiden Arlésienne-Suiten:

BIZET - L'ARLESIENNE-SUITE Nr. 2

Im Pariser „Théatre Vaudeville“ kam 1872 ein Stück zur Aufführung, dem eine Novelle von Alphonse Daudet, „L'Arlésienne“, zugrunde lag. Die Erzählung handelt von der unglücklichen Liebe des jungen provenzalischen Mannes Fréderi zu einem Mädchen aus Arles, und beruht ähnlich wie Goethes Werther auf einer wahren Begebenheit. Nachdem Fréderi so entbrannt ist, dass er das Mädchen aus Arles unbedingt heiraten will, zieht seine Familie Erkundigungen ein. Es stellt sich heraus, dass sie bereits seit zwei Jahren die Geliebte eines Pferdehüters war. Dessen Liebesbriefe an ‚L'Arlésienne' erhält die Familie Fréderis als Beweis. Fréderi ist so sehr verzweifelt, dass seine Mutter die Familie überredet, der Heirat nichtsdestotrotz zuzustimmen. Er jedoch entscheidet sich dafür, ein anderes Mädchen aus seinem Heimatort zu heiraten. Kurz vor der Hochzeit fordert der Pferdehüter seine Briefe zurück, wovon Fréderi Zeuge wird. Bei der neuerlichen Vorstellung von ‚L'Arlésienne‘ in den Armen eines anderen ist er so bis ins Mark getroffen, dass er sich vom Dachboden zu Tode stürzt.

Der künstlerische Leiter des Theaters schlug vor, den Ernst dieser einfachen Handlung durch Musik in der Art eines Melodrams zu bereichern. Mit der Aufgabe, dafür ein Vorspiel und Zwischenspiele zu verfassen, wurde Georges Bizet betraut. Er komponierte insgesamt 27 Einzelstücke für die ungewöhnliche Besetzung von 2 Flöten (Piccolo), 1 Oboe (Englischhorn), 1 Klarinette, 2 Fagotten, 1 Altsaxophon, 1 Ventil- und 1 Waldhorn, 4 erste und 3 zweite Violinen, 1 Bratsche, 5 Celli, 2 Kontrabässe, ein Klavier, Pauken und Tambourin. Dazu kamen ein Harmonium und ein Chor hinter der Szene. Der Premierenabend verlief für Daudet und Bizet verheerend, und die Kritiker sprachen von einem „tristen Werk“. Einer von ihnen regte allerdings an, aus der „entzückenden“ Musik eine Suite zusammenzufügen und in den Pariser „Concerts populaires“ aufzuführen. Offenbar gefiel Bizet diese Anregung, denn er stellte vier Sätze zusammen und instrumentierte sie mit größerer Besetzung für die etablierte Konzertreihe. Bereits sechs Wochen nach der Premiere des Schauspiels mit Musik - am 10. November 1872 - wurde die Suite uraufgeführt und begeistert vom Publikum aufgenommen. Anknüpfend an diesen Erfolg beschloss vier Jahre nach Bizets Tod sein Freund Ernest Guiraud, eine weitere Suite, die spätere Nr. 2, aus der Partitur zusammenzustellen. Von Bizets Biographen Pigot wird Guiraud, der auch die Rezitative für Bizets „Carmen“ verfasste, 1886 „Komponist“ der zweiten Suite genannt. Dies ist sogar durchaus gerechtfertigt, da er nicht nur das Orchester zu einer großen symphonischen Besetzung mit vollem Blech und Streichorchester sowie großer Trommel und Becken ergänzte und den Chor herausnahm. Vielmehr komponierte er zu den von ihm ausgewählten vier Sätzen der Schauspielmusik zum Teil erhebliche eigene Anteile hinzu und erweiterte mehrere Passagen. So entstand eine viersätzige Suiten-Form in Anlehnung an eine Symphonie, die am 21. März 1880 wiederum bei den Pariser „Concerts populaire“ uraufgeführt wurde.

Zeitgenössische Sachverständige (Ernest Reyer) lobten Bizets Musik zu ‚L'Arlésienne' in hohem Masse. Insbesondere erwähnten sie kultivierte Harmonik, elegante Führung der Phrasen und reizende Details der Instrumentation, und empfahlen sie jungen Komponisten zum eingehenden Studium. Über die zweite Suite schrieb die Kritik, dass die Pastorale hübsche Besonderheiten aufweise, das Menuett weniger originell als die Bizetsche Fassung und die Farandole in ihrem kontrapunktischen Aufbau lebhaft und interessant sei. Die farbige, rhythmische Suite wurde herzlich aufgenommen und fand seither ihren festen Platz im internationalen Konzertrepertoire.

Die heutige Aufführung der Suite benutzt zum ersten Mal die von der Edition Schott vermittelte urtextliche Fassung eines englischen Verlages, die noch nicht im Druck vorliegt. Einzelheiten der interessanten Vorgeschichte zur Erstellung dieser Fassung entnehmen Sie bitte dem ausführlichen Vorwort der Partitur der Edition Eulenburg von Lesley A. Wright. Nachdem wir feststellen konnten, dass insbesondere Stimmführungen der Urtextfassung gegenüber dem vorhandenen Material origineller waren, entschieden wir uns zu deren Aufführung. Für die Vermittlung des Materials sei Frau Dr. Ann-Katrin Heimer vom Schott Verlag herzlichst gedankt!

Quelle: Bizet, „L'Arlésienne“ Suite No. 2, Mainz 2001, Vorwort von Lesley A. Wright

„Wie früh“ also? Fünf Jahre nach der „Habañera“ der Carmen, der Blumenarie „La fleur, que tu m'avais jetée“ des Don José und dem Torero-Lied „Toréador en garde“ des Escamillo aus der Oper „Carmen“ (1875), die NDR Kultur uns so oft als Häppchen-Highlights serviert.

Schade, dass die „Farandole“ erst 1880, fünf Jahre nach dem Tod von Georges Bizet (auch 1875) endgültig orchestriert worden ist, und zwar von Ernest Guiraud...

Das schöne, einprägsame Leitbild des Moderators

Das Märchen des Moderators ist ein schönes, einprägsames Leitbild einer Saxophon-Farandole des jungen Knaben Georges Bizet. Lassen Sie sich bitte den Glauben daran nicht durch ein paar trockene Zahlen eines Wissenschaftlers nehmen.

Es fragt sich allerdings, ob dem Moderator die Ehre der Urheberschaft und der Originalität auch wirklich zukommt. Hat er den erkennbar vorgelesenen Text auch selbst geschrieben? Wer sonst?

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