Kulturradios in Deutschland

1. Juli 2009, WDR 3, TonArt, 15.05 - 17.45 Uhr, und
3. Juli 2009, NDR Kultur, Klassisch Unterwegs, 14.05 - 19.00 Uhr

Kostümwechsel einer Moderatorin

„Wes‘ Brot ich ess‘,“ ...

Moderatorin bei WDR 3 und NDR Kultur

Von Ludolf Baucke und Theodor Clostermann

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(lb) Die Autofahrt am 1. Juli 2009 aus dem Raum Osnabrück nach Hannover beschert ein besonderes Erlebnis. Das kurz nach 15 Uhr eingeschaltete Radio führt mitten in das bereits laufende Magazin „WDR 3 TonArt“. Gesendet wird gerade die von Simone Kermes gesungene „Piangerò“-Arie aus Händels „Giulio Cesare“. Das ist die Überleitung zu Claus Fischers viereinhalbminütigem Beitrag „Wohnen bei Händels Großvater“. Bis zu den 16-Uhr-Nachrichten höre ich noch - mit vorausgehender Information über den Komponisten und dessen „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ - Ferrucio Busonis Concertino für Klarinette und Orchester und ein im Zusammenhang mit dem Klavierfestival Ruhr produziertes „Porträt Brendel“. Letzteres dauert 6:30 Minuten. Es wird nach den Nachrichten noch übertroffen durch das gut achtminütige Porträt der „Capella Antiqua Bambergensis“. Dieses veranschaulicht auch die bis zur Demonstration des allertiefsten Tons vorangetriebene Klangfarbe des Chalumeaus.

Der Bogen der alten Musik ist zwischen 16 und 17 Uhr weit gespannt und umfasst außer dem Ausschnitt eines Magnificats von Guillaume Dufay (um 1400 - 1474) auch J. S. Bachs dreisätziges Doppelkonzert d-Moll für zwei Violinen.

„WDR 3 TonArt“ bleibt eingeschaltet, bis gegen 16.50 Uhr das Sendersignal zu schwach für einen kontinierlichen Empfang wird.

Fazit des „TonArt“-Hörerlebnisses:

- kompetente Wort- und Moderationsbeiträge in unterhaltsamer Weise
- ein bei NDR Kultur tagsüber undenkbarer Ausflug in Dufays Renaissance
- sogar Orgelmusik (bei NDR Kultur verpönt)
- kein unvermittelt zwischen die Musikhäppchen gedonnerter Jingle
- keine Masche, auf einen Wortbeitrag hinzuweisen, den darauf erpichten Hörer aber erst in die Warteschleife eines ganz anders gearteten Musikhäppchens zu schicken.

Die Moderatorin - ihr Name sei aus Höflichkeit verschwiegen - informiert über sich im Internet:

„Und jetzt bin ich hier und moderiere TonArt auf WDR 3. Außerdem moderiere ich auch auf NDR-Kultur ...“

WDR 3 verlangt von der Moderation einen sachdienlicheren Tonfall als NDR Kultur. Die Moderatorin wechselt ihr umgangs- und fachsprachliches Kostüm - dies alles nach der sprichwörtlichen Devise „Wes‘ Brot ich ess‘,“ ...

„... des Lied ich sing‘!“

(tc) Am 3. Juli bin ich nachmittags zu verschiedenen Einkäufen im Raum Hamburg unterwegs und höre, wenn es möglich ist, NDR Kultur. Seit 14 Uhr ist die Moderatorin wieder da, die vor zwei Tagen auf WDR 3 moderierte (siehe oben). Über das, was ich zwischendurch verpasse oder was ich zum Zitieren genau brauche, informiere ich mich abends bei meinem Dritten Ohr, das in der Zeit für mich aufpasst.

Erster Paukenschlag: Bekenntnis zum unvollständigen Werk - ohne Grund

Schon nach ihrem zweiten Satz (Begrüßung, dann Absage der ersten Musik) geht es zur Sache:

„Wenn wir heutzutage in ein Konzert gehen, dann beinhaltet das Programm normalerweise drei Werke. Im 19. Jahrhundert, da musste man mitunter etwas mehr Zeit mitbringen. Als zum Beispiel Beethovens 4. Klavierkonzert uraufgeführt wurde, da stand außerdem noch auf dem Programm seine Sinfonien 5 und 6, die Chorfantasie und auch noch Teile der C-Dur-Messe. Ein wirklich prall gefülltes Konzertprogramm. Hier auf NDR Kultur fassen wir uns deutlich kürzer, hier ist der dritte Satz aus dem Klavierkonzert Nr. 4.“

Nur weil NDR Kultur sich „deutlich kürzer“ als Beethovens Konzertprogramm vom 22. Dezember 1808 fassen will, gibt es also keine ganzen Werke. Nein, nicht so! Das wird einfach von oben so verordnet und der Moderatorin auf den Weg gegeben. NDR Kultur, ein wirklich mager gefülltes Radioprogramm.

Außerhalb des Programms: werblicher Block für eine „aktuelle CD“

Nach einer Stunde gibt es die nächste Besonderheit: Produkt Platzierung in reinster Form. Ohne Bezug zu irgendwelchen programmlichen Ereignissen laufen nach der Absage eines Flötenkonzertsatzes von Franz Benda die Sendeteile a. Jingle und Werbeslogan, b. das Produkt (Probeausschnitt) und c. die Bewerbung. Im einzelnen:

- Jingle, passend in der Klavierfassung, Werbeslogan „NDR Kultur, hören und genießen.“
- Es erklingt, gespielt auf einem Flügel, ein Präludium oder eine Fuge von Johann Sebastian Bach. Man denkt unweigerlich an den Favoriten von NDR Kultur in dieser Angelegenheit, Martin Stadtfeld.
- Nach fünf Minuten kommt die Aufklärung:

„Das Präludium in E-Dur aus dem Wohltemperiertem Klavier von Johann Sebastian Bach, gespielt von Angela Hewitt, und die Aufnahme, die stammt von Hewitts aktueller CD, wo sie sich das gesamte Wohltemperierte Klavier vorgenommen hat. Nähere Informationen zu dieser CD, die finden Sie bei uns im Internet unter ndrkultur.de.“

Unmittelbar darauf folgt ein Klarinettenkonzertsatz von Carl Maria von Weber. Die Moderatorin hat durch ihr Schalten und Reden die beschriebene Szene selbst so gestaltet, dass es ein echter werblicher Block geworden ist.

Vgl. dazu, zwei Stunden später, die Enthüllung von NDR Kultur über unzulässige Werbung für die Deutsche Bahn AG bei Radio Hamburg: Wer im Glashaus sitzt...

Ein übler Scherz mit Arcangelo Corelli

16.42 Uhr, nach der Anmoderation ist die Erwartung hochgespannt:

„Die Musik des Barock, die kann von unglaublicher [letztes Wort: besonders betont] Eleganz sein, und schon beim Hören sitzt man selber plötzlich viel gerader als vorher. Und ein solches Stück haben wir hier auf NDR Kultur jetzt für Sie ausgesucht, von Arcangelo Corelli.“

Moment mal, denke ich. Was soll jetzt noch Großes geschehen, wenn in drei Minuten die sechs NDR-Kultur-Tipps „Kultur im Norden“ folgen? Und genauso kommt es: in 2 Minuten und 12 Sekunden ist gerade einmal als „ein solches Stück“ der 4. Satz, „Corrente: Vivace“, aus dem Concerto grosso C-dur, op. 6 Nr. 10, zu hören - ein Satz von insgesamt sechs Sätzen:

1. Preludio: Andante - Largo; 2. Allemanda: Allegro; 3. Adagio; 4. Corrente: Vivace; 5. Allegro; 6. Minuetto: Vivace

Aufregend an dem Concerto grosso op. 6.10 ist gerade die Dramaturgie der einzelnen Sätze. Und wenn schon ein einzelner Satz für sich aufregend ist, dann ist es der markante 2. Satz „Allemanda: Allegro“.

Und zum Vergleich: Das ganze Concerto grosso dauert 12 Minuten und 22 Sekunden, der nach 14 Uhr gesendete dritte Satz aus dem Klavierkonzert Nr. 4 von Ludwig van Beethoven 10 Minuten. Warum will sich NDR Kultur hier noch „deutlich kürzer fassen“?

Falsch aus Wikipedia abgeschrieben:
Mit einem Superlativ wird die Musikgeschichte neu geschrieben

16.57 Uhr, es geht auf die Nachrichten zu:

„Und hier auf NDR Kultur haben wir jetzt Musik für Sie von einem besonders fleißigen Komponisten, Johann Melchior Molter ist sein Name, und er gilt als der produktivste Komponist im Bereich Instrumentalmusik des 18. Jahrhunderts. Er hinterließ 14 Ouvertüren, 169 Sinfonien, 66 Sonaten und 100 Konzerte, und eins von diesen Konzerten, für Horn, das hören Sie jetzt bei uns hier auf NDR Kultur.“

Wie kann man so etwas behaupten, wenn viele Werke des 18. Jahrhunderts noch gar nicht bekannt sind?

Noch schlimmer: Die Moderatorin - oder ihr Vortexter/ihre Vortexterin - hat den Eintrag von Wikipedia beim Drang zum werblichen Superlativ einfach falsch abgeschrieben. Dort heißt es:

„Er gilt als einer der produktivsten Komponisten der Instrumentalmusik des 18. Jahrhunderts und genoss zu Lebzeiten hohes Ansehen. Sein kompositorisches Schaffen umfasst rund 100 Konzerte, 14 Ouvertüren, 169 Sinfonien, 66 Sonaten, 14 Kantaten und eine Passion. Das etwa 600 Einträge umfassende Verzeichnis der Werke Molters (MWV) von Klaus Hafner gibt Auskunft über die einzelnen Kompositionen.“

Schon mit Antonio Vivaldi hätte Molter es zahlenmäßig nicht aufnehmen können, mit Georg Philipp Telemann erst recht nicht.

Und wie schon eine Viertelstunde vorher bei Corelli: Wie zu erwarten wurde in den folgenden 2 Minuten und 12 Sekunden (tatsächlich!) kein ganzes Konzert gesendet, sondern gerade einmal der 3. Satz, „Allegro“.

Drei weitere Patzer zur Musik:
W. A. Mozart, J. Haydn/L. v. Beethoven und J. S. Bach

Von 17.16 bis 17.25 Uhr wurde der 3. Satz, „Rondeau. Allegro“, aus dem Klavierkonzert C-dur, KV 415, gesendet. Obwohl es in der normalen Zählung von Mozart vier Konzerte in C-Dur gibt - KV 246 (Nr. 8), KV 415 (Nr. 13), KV 467 (Nr. 21) und KV 503 (Nr. 25) -, spricht die Moderatorin zweimal - vor und nach dem Satz - vom

„3. Satz aus Mozarts Klavierkonzert in C-Dur“,

wonach Mozart nur ein C-Dur-Klavierkonzert komponiert hätte.

Um 18.07 Uhr erzählt die Moderatorin Wunderbares über das Klaviertrio:

„Das Klaviertrio ist eine wundervolle Gattung, es changiert zwischen Kammermusik und Solokonzert. Die Instrumente treten in Dialog miteinander, spielen mit und gegeneinander, und einer, der diese Kunst der Komposition ganz vorzüglich beherrscht, ist Ludwig van Beethoven...“

Wie passt das aber dazu, dass gerade drei Sätze vorher, von 17.48 bis 17.55 Uhr, gleich unangekündigt nach dem „Fernseh- und Radiotipp“ der 2. Satz aus dem Klaviertrio G-Dur, Hob XV:25 (Trio all'Ongarese), von Joseph Haydn gesendet worden war?

Um 18.43 ist wieder das Thema Johann Sebastian Bach und seine Cembalomusik an der Reihe:

„(...) Ursprünglich war das (Italienische) Konzert wohl für ein zweimanualiges Cembalo komponiert worden, und da war dann ein Manual die Solo- und das andere die Tutti-Stimme. Heute muss das alles auf einem modernen Konzertflügel erledigt werden, Evgeni Koroliov übernimmt die beiden Parts hier auf NDR Kultur.“

Verblendete Einseitigkeit, nur weil - soweit wir es seit 2004 beobachten und wissen - der Musikchef von NDR Kultur keine Cembalomusik senden will! Selbstverständlich „muss das alles“ gar nicht so sein, ausschließlich auf dem Flügel. Nur wer es auf dem Flügel spielen will, der muss es so machen. Die Cembalisten können es weiterhin und sogar stilgerechter auf einem zweimanualigen Cembalo spielen.

Fazit: Vor allem Fragen

Wie kommt es, dass dieselbe Moderatorin auf WDR 3 ordentlich durch das Programm führt und auf NDR Kultur so viel Unstimmigkeiten erzählt und so falsch orientiert?

Warum lässt sie sich am Beginn der Sendung ohne einen Anlass zu der Erklärung gegen ganze Werke hinreißen?

Warum geht sie so sorglos, dass es falsch wird, mit den Informationen zur Musik um?

Schreibt es ihr jemand vor?

Wer will es so?

NDR Kultur hat einen Informations-, Bildungs- und Kulturauftrag. Warum arbeitet NDR Kultur im Tagesprogramm oft im entgegengesetzten Sinne und betreibt Verunbildung?

Glücklicherweise hören - nach den uns vorliegenden Informationen - die meisten Menschen nicht länger als eine Viertelstunde dem Sender NDR Kultur zu, sonst wäre der Schaden noch größer, gerade bei heranwachsenden Hörern, die in der Region nichts anderes mehr kennen.

In jedem Fall ist es eine „unglaubliche“ Verschwendung, „schon beim Hören sitzt man selber plötzlich viel gerader als vorher“!

Verfasst am 5. Juli 2009